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36. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

19.09. - 22.09.2019, Göttingen

Neue Neuroimaging-Befunde zum Stottern: von der Lokalisation zur Funktion

Vortrag

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  • corresponding author presenting/speaker Katrin Neumann - Abt. für Phoniatrie und Pädaudiologie, Klinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde, Kopf- und Halschirurgie, Katholisches Klinikum Bochum, Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 36. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Göttingen, 19.-22.09.2019. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2019. DocV15

doi: 10.3205/19dgpp24, urn:nbn:de:0183-19dgpp247

Veröffentlicht: 13. September 2019

© 2019 Neumann.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Frühere Neuroimaging-Studien zum Stottern konzentrierten sich hauptsächlich auf bestimmte zerebrale Regionen oder Verbindungen, die entweder als Regions of Interest vordefiniert oder von theoretischen Überlegungen oder früheren Erkenntnissen geleitet wurden. Im Laufe der Jahre zeigte ein systematischerer Ansatz, dass die Perspektive eines Lokationisten die komplexen Hirn-Netzwerke des Stotterns nicht ausreichend widerspiegelt.

Material und Methoden: Neue Neuroimaging-Befunde zum Stottern wurden kürzlich in einer Sonderausgabe des Journal of Fluency Disorders veröffentlicht. Sie bieten einen breiten Überblick über die funktionale und strukturelle Architektur der den Redefluss generierenden zerebralen Netzwerke und geben einen Ausblick auf Ziel-Netzwerke für die Behandlung (Ingham et al. 2018, Neumann et al. 2018, Neumann & Foundas 2018).

Ergebnisse: Die Replikation früherer neuronatomischer Studien zeigte keine reduzierte Planum-temporale-Asymmetrie bei stotternden Erwachsenen (Watkins et al. 2018). Die strukturelle Konnektivität in den Gehirnen von Kindern belegte einen Zusammenhang zwischen Stotterstatus und -persistenz mit anormaler Netzwerkkonnektivität, die das Arbeitsmodus-Netzwerk und seine Konnektivität mit Aufmerksamkeits-, Somatomotorik- und frontoparietalen Netzwerken beinhaltet (Chang et al. 2018). Neef et al. (2018) wiesen den Einbezug des limbischen Systems in Stottern nach. Funktionelle Konnektivitätsstudien bei Erwachsenen zeigten, dass eine späte Spontanremission vom Stottern mit einer normalisierten Integration sowohl des auditorischen Feedbacks der eigenen Sprache in die sprechmotorischen Planungsprozesse als auch des somatosensorischen Feedbacks während des Sprechens und mit einer funktionellen Entkopplung des oberen Kleinhirns vom Rest des Sprachproduktionsnetzwerks verbunden ist (Kell et al. 2018).

Diskussion: Weder eine einzelne Region noch einige wenige Bereiche scheinen am Stottern beteiligt zu sein. Daher ist es auch nicht sehr wahrscheinlich, dass therapeutische Ansätze, die sich auf eine einzige Struktur konzentrieren, das Problem der Redeflussstörung und ihrer Folgen ausreichend lösen könnten. Stattdessen müssen die dynamischen Wechselwirkungen in einer komplexen strukturellen Architektur und die funktionale Organisation des Gehirns im Zusammenhang mit Stottern berücksichtigt werden.

Fazit: Hingegen müssen die dynamischen Wechselwirkungen in einer komplexen strukturellen Architektur und die funktionale Organisation des Gehirns im Zusammenhang mit Stottern berücksichtigt werden.


Text

Hintergrund

Frühere Neuroimaging-Studien zum Stottern konzentrierten sich hauptsächlich auf bestimmte zerebrale Regionen oder Verbindungen, die entweder als Regions of Interest vordefiniert oder von theoretischen Überlegungen oder früheren Erkenntnissen geleitet wurden. Im Laufe der Jahre zeigte ein systematischerer Ansatz, dass die Lokalisations-Perspektive die komplexen Hirn-Netzwerke des Stotterns nicht ausreichend widerspiegelt.

Material und Methoden

Neue Neuroimaging-Befunde zum Stottern wurden kürzlich in einer Sonderausgabe des Journal of Fluency Disorders veröffentlicht. Sie bieten einen breiten Überblick über die funktionale und strukturelle Architektur der den Redefluss generierenden zerebralen Netzwerke und geben einen Ausblick auf Ziel-Netzwerke für die Therapie [1], [2].

Ergebnisse

Die Replikation früherer neuronatomischer Studien zeigte keine reduzierte Planum-temporale-Asymmetrie bei stotternden Erwachsenen [3]. Die strukturelle Konnektivität in den Gehirnen von Kindern belegte einen Zusammenhang zwischen Stotterstatus und -persistenz mit anormaler Netzwerkkonnektivität, die das Arbeitsmodus-Netzwerk und seine Konnektivität mit Aufmerksamkeits-, Somatomotorik- und frontoparietalen Netzwerken beinhaltet [4]. Erstmals wurde mit dem Nucleus accumbens der Einbezug des limbischen Systems in Stottern nachgewiesen [5]. Funktionelle Konnektivitätsstudien bei Erwachsenen zeigten, dass eine späte Spontanremission vom Stottern mit einer normalisierten Integration sowohl des auditorischen Feedbacks der eigenen Sprache in die sprechmotorischen Planungsprozesse als auch des somatosensorischen Feedbacks während des Sprechens und mit einer funktionellen Entkopplung des oberen Kleinhirns vom Rest des Sprachproduktionsnetzwerks verbunden ist [6].

Zur Nutzung von Neuroimaging-Befunden für die Beurteilung und Neuausrichtung von Stottertherapien untersuchten Neumann et al. [7] die Gehirnaktivität männlicher Stotternder während der Produktion von emotionaler und linguistischer Prosodie mit fMRI und verglichen sie mit der remittierter ehemaliger Stotternder und Nichtstotternder. Bei unbehandelten Stotternden fanden sie eine prosodiebedingte, mit dem Schweregrad der Dysprosodie korrelierte Hypoaktivierung des linken inferioren frontalen Kortex und der linken anterioren Insula. Eine Fluency Shaping Therapie normalisierte die Sprechmelodie, parallel zu einer annähernden Beseitigung der frontalen und insularen Hypoaktivierung, zunächst für emotionale, später für linguistische Prosodie. Offensichtlich kann eine trainingsinstruierte emotionale und linguistische Prosodieänderung Plastizität in der inferioren frontalen Kortexregion bewirken und könnte expliziter Bestandteil einer behavioralen Stottertherapie sein. Hingegen war die Spontanremission mit einer zusätzlichen Rekrutierung von Kleinhirnressourcen zur Prosodiekontrolle verbunden. Diese Kleinhirnbeteiligung impliziert keine Automatisierung artikulatorischer Prozesse, da die Konnektivitätsanalyse von Kell et al. [6] mit den gleichen Probanden eine Trennung des aktivierten Kleinhirns vom artikulatorischen neokortikalen Netzwerk bei spontan Remittierten belegte.

Diskussion

Zerebrale mit Stottern verbundene Mechanismen sind komplex. Die Generierung von Sprechflüssigkeit scheint ständige dynamische Wechselwirkungen zwischen auditorischen, somatosensorischen und sprechmotorischen neuronalen Netzwerken zu benötigen. Alternativ könnten sich flüssige und unflüssige Sprechanteile Stotternder in einem Schwellenwert für die Verbindung neuronaler Netze mit Effektorsystemen unterscheiden, so dass aufgabenabhängig flüssiges Sprechen erleichtert oder erschwert sein kann. Das schwächste Kettenglied der Sprachproduktionsprozesse beim Stottern ist das sprechmotorische Kontrollsystem.

Fazit

Weder eine einzelne Region noch einige wenige Bereiche scheinen am Stottern beteiligt zu sein. Daher ist es auch nicht sehr wahrscheinlich, dass therapeutische Ansätze, die sich auf eine einzige Struktur konzentrieren, das Problem der Redeflussstörung und ihrer Folgen ausreichend lösen könnten. Stattdessen müssen die dynamischen Wechselwirkungen in einer komplexen strukturellen Architektur und die funktionale Organisation des Gehirns im Zusammenhang mit Stottern berücksichtigt werden.


Literatur

1.
Etchell AC, Civier O, Ballard KJ, Sowman PF. A systematic literature review of neuroimaging research on developmental stuttering between 1995 and 2016. J Fluency Disord. 2018;55:6-45. DOI: 10.1016/j.jfludis.2017.03.007 Externer Link
2.
Neumann K, Foundas AL. From locations to networks: Can brain imaging inform treatment of stuttering? J Fluency Disord. 2018;55:1-5. DOI: 10.1016/j.jfludis.2017.08.001 Externer Link
3.
Gough PM, Connally EL, Howell P, Ward D, Chesters J, Watkins KE. Planum temporale asymmetry in people who stutter. J Fluency Disord. 2018;55:94-105. DOI: 10.1016/j.jfludis.2017.06.003 Externer Link
4.
Chang SE, Angstadt M, Chow HM, Etchell AC, Garnett EO, Choo AL, Kessler D, Welsh RC, Sripada C. Anomalous network architecture of the resting brain in children who stutter. J Fluency Disord. 2018;55:46-67. DOI: 10.1016/j.jfludis.2017.01.002 Externer Link
5.
Neef NE, Bütfering C, Auer T, Metzger FL, Euler HA, Frahm J, Paulus W, Sommer M. Altered morphology of the nucleus accumbens in persistent developmental stuttering. J Fluency Disord. 2018;55:84-93. DOI: 10.1016/j.jfludis.2017.04.002 Externer Link
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Kell CA, Neumann K, Behrens M, von Gudenberg AW, Giraud AL. Speaking-related changes in cortical functional connectivity associated with assisted and spontaneous recovery from developmental stuttering. J Fluency Disord. 2018;55:135-44. DOI: 10.1016/j.jfludis.2017.02.001 Externer Link
7.
Neumann K, Euler HA, Kob M, Wolff von Gudenberg A, Giraud AL, Weissgerber T, Kell CA. Assisted and unassisted recession of functional anomalies associated with dysprosody in adults who stutter. J Fluency Disord. 2018;55:120-34. DOI: 10.1016/j.jfludis.2017.09.003 Externer Link
8.
Ingham RJ, Ingham JC, Euler HA, Neumann K. Stuttering treatment and brain research in adults: A still unfolding relationship. J Fluency Disord. 2018;55:106-19. DOI: 10.1016/j.jfludis.2017.02.003 Externer Link