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36. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

19.09. - 22.09.2019, Göttingen

Gebrauch geschlechtergerechter Sprache in der Wissenschaft

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  • corresponding author presenting/speaker Tabea Tiemeyer - Phoniatrie und Pädaudiologie, Medizinische Hochschule Hannover, Hannover, Deutschland
  • Christine Ivanov - Leibnizuniversität Hannover, Hannover, Deutschland
  • Maria B. Lange - Leibnizuniversität Hannover, Hannover, Deutschland
  • author Martin Ptok - Phoniatrie und Pädaudiologie, Medizinische Hochschule Hannover, Hannover, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 36. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Göttingen, 19.-22.09.2019. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2019. DocP9

doi: 10.3205/19dgpp23, urn:nbn:de:0183-19dgpp238

Veröffentlicht: 13. September 2019

© 2019 Tiemeyer et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Geschlechtergerechte Sprache (ggS) wird, trotz steigender empirischer Forschungsarbeit, gehäufter medialer Präsenz und zunehmender (rechtlicher) Institutionalisierung, in stark unterschiedlichem Maße angewendet. Sprachveränderung setzt sich verstärkt dort durch, wo statushohe Gruppen und soziale Institutionen – wie WissenschaftlerInnen und Hochschulen – sie anwenden. Relevant ist hier der komplexe Zusammenhang von Sprache und Kognition, insbesondere, dass Stereotype in der Sprache widergespiegelt werden und Sprache ihrerseits Stereotype stärkt. Ziel dieser Arbeit ist es, den Gebrauch unterschiedlicher Realisierungsformen von Personenbezeichnungen zu untersuchen und Einstellungen gegenüber ggS darzustellen (Ivanov, Lange und Tiemeyer 2018).

Material und Methoden: Es wurden 68 Abstracts der 34. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP) sowie 53 Abstracts der gemeinsamen Konferenz der Fachgesellschaften für Geschlechterforschung/-studien (FGG) analysiert. Außerdem wurden 290 AutorInnen über einen Onlinefragebogen zu ggS befragt.

Ergebnisse: Geschlechtsneutrale Personenbezeichnungen überwogen in den Abstracts beider Gruppen (FGG: 62%: DGPP: 51%). Während in den Abstracts der DGPP 45% der Personenbezeichnungen generische Maskulina waren, erschienen in den Abstracts der FGG verschiedenste Realisierungsformen, wie Gender*Star (FGG: 16%; DGPP: 1,3%) und Gender_Gap (FGG: 14%; DGPP: 0%). Die Ergebnisse der Online-Umfrage spiegeln diese Unterschiede teilweise wider, Beidnennung und Neutralformen wurden als häufigste angewandte Realisierungsformen angegeben (Beidnennung – FGG: 18%; DGPP: 25%; Neutralform – FGG: 23%; DGPP: 25%), die FGG Gruppe gab im Schnitt an, 3,75 verschiedene Realisierungsformen zu nutzen, die DGPP-Gruppe 2,54.

Diskussion: Auffällig sind unterschiedliche Gebräuche und Kombinationen der verschiedenen Formen – die Gruppen stellen einen Maximalkontrast dar. Bei den Umfrageergebnissen ist mit einem Bias bezüglich der Teilnahmebereitschaft zu rechnen.

Fazit: GgS kann durch eindeutige Personenreferenz einerseits die Präzision von Sprache in der Wissenschaft steigern und durch neutrale Anrede andererseits in der Kommunikation zwischen ÄrztInnen und PatientInnen die Aktivierung von Stereotypen vermeiden. Sie birgt jedoch für viele AutorInnen Unsicherheiten und Formulierungsschwierigkeiten.

Ein grundlegendes Interesse an ggS scheint vorhanden. Es mangelt an vielen Stellen jedoch an Hintergrundwissen, Informationen zu den sprachlichen Formen und Formulierungshilfen.


Text

Hintergrund

Das Deutsche verfügt über drei Genera: Maskulinum, Femininum und Neutrum. Die verschiedenen Genera von Nomina wie <der Stuhl> haben nur formal eine Bedeutung. Das semantische Geschlecht, die Unterscheidung zwischen „weiblich“ und „männlich“ wird bei Personenbezeichnungen relevant: <Frau>/<Mann>, <Mädchen>/<Junge>. Bei dem Beispiel <das Mädchen> wird erkenntlich, dass das grammatische Genus (Neutrum) nicht mit dem semantischen Geschlecht übereinstimmen muss. Personenbezeichnungen werden definiert als alle sprachlichen Mittel, die auf Menschen verweisen, also alle Arten von Eigennamen und Titeln, beschreibende Nominalphrasen, Pronomina sowie weitere Ausdrucksmittel, z.B. Präpositionalphrasen, aber auch Kollektivbezeichnungen [1]. Nicht-spezifische Personenbezeichnungen können unterteilt werden in geschlechtsspezifische Personenbezeichnungen, diese beziehen sich auf eine einzelne Geschlechtergruppe und geschlechtsübergreifende Personenbezeichnungen, solche, die auf Personen beider Geschlechter referieren. Dies kann auf zwei Arten ausgedrückt werden: geschlechtsabstrahierend mit Neutralisierungen (Studierende) und geschlechtsindifferenten Bezeichnungen (Person) oder geschlechtsspezifizierend mittels Paarformel (Studenten und Studentinnen), Gender*Stern (Student*innen), Gender_Gap (Student_innen), Binnen-I (StudentInnen) oder Schrägstrich (Student/-en/-innen) [2]. Nach einer Gebrauchsnorm der deutschen Sprache werden männliche Substantive ebenso geschlechtsübergreifend verwendet. Diese Form der Personenbezeichnung gerät zunehmend in Kritik, da zu ihrem Verständnis als geschlechtsübergreifend eine zusätzliche kognitive Leistung vollbracht werden muss, die zu einem geringeren gedanklichen Einbezug von Frauen führen kann [3], [4], [5], [6]. Als geschlechtergerecht werden im aktuellen Diskurs die geschlechtsspezifizierenden und -neutralen Personenbezeichnungen beschrieben. Geschlechtergerechte Sprache (ggS) wird, trotz steigender empirischer Forschungsarbeit, gehäufter medialer Präsenz und zunehmender (rechtlicher) Institutionalisierung, in stark unterschiedlichem Maße angewendet [7], [8], [9]. Relevant ist hier der komplexe Zusammenhang von Sprache und Kognition, insbesondere, dass Stereotype in der Sprache widergespiegelt werden und Sprache ihrerseits Stereotype stärkt [10].

Material und Methoden

Es wurden 68 Abstracts der 34. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP) sowie 53 Abstracts der gemeinsamen Konferenz der Fachgesellschaften für Geschlechterforschung/-studien (FGG) hinsichtlich der geschlechtsübergreifenden Personenbezeichnungen nicht-spezifischer Referenz analysiert. Anschließend wurde der dokumentierte Gebrauch mit den Ergebnissen einer Umfrage zum Gebrauch von ggS von 290 AutorInnen verglichen [11].

Ergebnisse

Geschlechtsneutrale Personenbezeichnungen überwogen in den Abstracts beider Gruppen (FGG: 62%: DGPP: 51%). Während in den Abstracts der DGPP 45% der Personenbezeichnungen generische Maskulina waren, erschienen in den Abstracts der FGG verschiedenste alternative Realisierungsformen, wie Gender*Stern (FGG: 16%; DGPP: 1,3%) und Gender_Gap (FGG: 14%; DGPP: 0%). Die Ergebnisse der Online-Umfrage spiegeln diese Unterschiede teilweise wieder, Beidnennung und Neutralformen wurden als häufigste angewandte Realisierungsformen angegeben (Beidnennung – FGG: 18%; DGPP: 25%; Neutralform – FGG: 23%; DGPP: 25%), die FGG-Gruppe gab im Schnitt an, 3,75 verschiedene Realisierungsformen zu nutzen, die DGPP-Gruppe 2,54.

Diskussion

Auffällig sind unterschiedliche Gebräuche und Kombinationen der verschiedenen Formen – die Gruppen stellen einen Maximalkontrast dar. Die Befragungsergebnisse legen in beiden Gruppen eine Bereitschaft ggS zu nutzen nahe, die jedoch nur teilweise in der Analyse der Abstracts wiederzufinden ist. Die existierenden Möglichkeiten geschlechtergerechter Schreibung werden von den Befragten in ganzer Bandbreite genutzt. Dabei überwiegt deutlich die Verwendung von Neutralisierungen, die nicht direkt als ggS erkennbar sind; dies deckt sich mit den Ergebnissen der Analyse von wissenschaftlichen Abstracts. Bei den Umfrageergebnissen ist mit einem Bias bezüglich der Teilnahmebereitschaft zu rechnen.

Fazit

GgS kann durch eindeutige Personenreferenz einerseits die Präzision von Sprache in der Wissenschaft steigern und durch neutrale Anrede andererseits in der Kommunikation zwischen ÄrztInnen und PatientInnen die Aktivierung von Stereotypen vermeiden. Sie birgt jedoch für viele AutorInnen Unsicherheiten und Formulierungsschwierigkeiten. Deutlich zeigt sich, dass eine intrinsische Motivation, eine individuelle Auseinandersetzung mit dem Thema sowie die Reflexion der realen Geschlechterverhältnisse und vor allem der eigenen Verwendung von Sprache, von besonderer Bedeutung für die Umsetzung von ggS sind. Ein grundlegendes Interesse an ggS scheint vorhanden. Es mangelt an vielen Stellen jedoch an Hintergrundwissen, Informationen zu den sprachlichen Formen und Formulierungshilfen.


Literatur

1.
Diewald G, Steinhauer A. Richtig gendern. Wie Sie angemessen und verständlich schreiben. Berlin: Dudenverlag; 2017.
2.
Pettersson M. Geschlechtsübergreifende Personenbezeichnungen: Eine Referenz- und Relevanzanalyse an Texten. Tübingen: Narr; 2011.
3.
Irmen L, Kurovskaja J. On the Semantic Content of Grammatical Gender and Its Impact on the Representation of Human Referents. Experimental Psychology. 2010;57(5):367-75.
4.
Irmen L, Holt DV, Weisbrod M. Effects of role typicality on processing person information in German: Evidence from an ERP study. Brain Research. 2010;1353(Supplement C):133-44.
5.
Irmen L, Linner U. Die Repräsentaion generisch maskuliner Personenbezeichnungen. Eine theoretische Integration bisheriger Befunde. Zeitschrift für Psychologie. 2005;213(3):167-75.
6.
Sczesny S, Formanowicz M, Moser F. Can Gender-Fair Language Reduce Gender Stereotyping and Discrimination? Frontiers in Psychology. 2016;7:25.
7.
Blake C, Klimmt C. Geschlechtergerechte Formulierungen in Nachrichtentexten. Publizistik. 2010;55(4):289-304.
8.
Elmiger D, Tunger V, Schaeffer-Lacroix E. Geschlechtergerechte Behördentexte. Linguistische Untersuchungen und Stimmen zur Umsetzung in der mehrsprachigen Schweiz. Forschungsbericht. Genf; 2017.
9.
Bühlmann R. Ehefrau Vreni haucht ihm ins Ohr… Untersuchung zur geschlechtergerechten Sprache und zur Darstellung von Frauen in Deutschschweizer Tageszeitungen. Linguistik Online. 2002;11(2):163-87.
10.
Rothermund K. Automatische geschlechtsspezifische Assoziationen beim Lesen von Texten mit geschlechtseindeutigen und generisch maskulinen Text-Subjekten. Sprache & Kognition. 1998;17(4):183-98.
11.
Ivanov C, Lange MB, Tiemeyer T. Geschlechtergerechte Personenbezeichnungen in deutscher Wissenschaftssprache. Von frühen feministischen Vorschlägen für geschlechtergerechte Sprache zu deren Umsetzung in wissenschaftlichen Abstracts. Suvremena lingvistika. 2018;44(86):261-90.