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36. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

19.09. - 22.09.2019, Göttingen

Die isometrische Zungenprotrusionskraft und feinmotorische Fähigkeiten von Kindern mit orofazialen Dysfunktionen (OFD) – objektive quantitative Untersuchung des motorischen Systems (Q-Motor)

Poster

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 36. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Göttingen, 19.-22.09.2019. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2019. DocP8

doi: 10.3205/19dgpp22, urn:nbn:de:0183-19dgpp221

Veröffentlicht: 13. September 2019

© 2019 Stahl et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Kinder mit orofazialen Dysfunktionen (OFD) haben Einschränkungen in der Kraft und Koordination von Lippen und Zungenbewegungen. Dies führt neben Kau- und Schluckstörungen zu phonetisch-phonologischen Auffälligkeiten (Sk2-Leitlinie 2011, Böhme 2003). Ein Zusammenhang zwischen orofazialer und der Feinmotorik der Finger wird vermutet (Redle et al. 2014, Wu et al. 2014, Olivier et al. 2007).

Material und Methoden: Je 30 Kinder mit OFD und 30 Kinder der Kontrollgruppe wurden mittels Q-Motor (quantitative Messung des motorischen Systems) glossomotografisch mit zwei unterschiedlichen Kraftleveln untersucht. Zusätzlich wurde die Koordination des dominanten Zeigefingers hinsichtlich Kraft, Schnelligkeit und Regelmäßigkeit überprüft. Der Gruppenvergleich erfolgte mittels Exaktem Test nach Fisher, nicht-parametrischem Mann-Whitney-U-Test, linearer Regression sowie Spearman-Korrelation.

Ergebnisse: Kinder mit OFD unterschieden sich signifikant von Kindern der Kontrollgruppe: sie konnten ihre Zungenkraft bei dem Kraftlevel von 0,5 N schlechter regulieren (Kraftvariabilität p=0.009), ihre Zunge signifikant kürzer am Kraftmessfühler positionieren (Kontaktzeit p=0.005) und mit geringerer Ausdauer und Präzision steuern (Ausdauer <10% p=0.006, <20% p=0.005, <50% p=0.037; Präzision ±10% p=0.034, ±20%, p=0.015, ±50% p=0.005).

Kinder mit OFD konnten mit ihrem Zeigefinger signifikant langsamer, unregelmäßiger (Frequenz p=0.047, Tap Dauer p=0.001), mit höherer Kraftvariabilität (p=0,004) und mehr Kraftaufwand (p=0,003) auf den Sensor tippen.

Diskussion: Mittels Q-Motor-Messung konnten signifikant eingeschränkte Fähigkeiten der Finger- und Zungenmotorik bei Kindern mit OFD nachgewiesen werden. Dies unterstützt die Annahme, dass bei Kindern mit OFD Probleme in der übergeordneten sensomotorischen Verarbeitung vorliegen.

Fazit: Bei der Diagnostik und Therapie der OFD könnten neben den orofazialen sensomotorischen Kompetenzen auch die Feinmotorik der Finger eine Rolle spielen.


Text

Hintergrund

Kinder mit orofazialen Dysfunktionen (OFD) haben Einschränkungen in der Kraft und Koordination von Lippen und Zungenbewegungen. Dies führt neben Kau- und Schluckstörungen zu phonetisch-phonologischen Auffälligkeiten [1], [2].

Bislang erfolgt die Diagnostik der OFD interdisziplinär von Logopäden, Phoniatern HNO-, Zahn- und Kinderärzten sowie Kieferorthopäden durch subjektive Untersuchungen. 2017 wurde im deutschsprachigen Raum ein Untersuchungsverfahren (BoS, Berliner orofaziales Screening) evaluiert, welches die Symptome einer OFD standardisiert in objektiven Skalen erfasst und somit unabhängig vom Untersuchenden ist [3].

Es gibt bisher jedoch kein Instrument, welches zuverlässig und objektiv den Ausprägungsgrad der Symptome einer OFD misst [4]. Bei der Messung der isometrischen Zungenprotrusionskraft bei Kindern mit OFD konnte nachgewiesen werden, dass sich die Fähigkeiten, die Zungenkraft zu steuern, signifikant zwischen gesunden Kindern und Kindern mit OFD unterscheiden [5].

Darüber hinaus gibt es zahlreiche Überlappungen neuroanatomischer Strukturen im zentralen Nervensystem, die die Bewegungsplanung und -ausführung mundmotorischer und neuroanatomisch benachbarter Fingerbewegungen steuern. Daher könnten auch bei einer OFD andere (fein)motorische Fähigkeiten, zum Beispiel die der Finger, beeinträchtigt sein [6], [7].

Diese Erkenntnisse könnten in der differenzierten Diagnostik der OFD und für eine effektive Therapie von Bedeutung sein.

Material und Methoden

Je 30 Kinder mit OFD (8,5±2,3 Jahre, 7 Mädchen; 23 Jungen, 23 Rechtshänder, 6 Linkshänder, 1 Person mit nicht determinierter Händigkeit) und 30 Kinder der Kontrollgruppe (9,6±2,2 Jahre, 12 Mädchen, 18 Jungen; 22 Rechtshänder, 7 Linkshänder und 1 Person mit nicht determinierter Händigkeit) wurden mittels Q-Motor (quantitative Messung des motorischen Systems) zunächst glossomotografisch mit zwei unterschiedlichen Kraftleveln (0,5 N und 0,25 N) untersucht.

Zusätzlich wurde die Koordination der Zeigefinger hinsichtlich Kraft, Schnelligkeit und Regelmäßigkeit überprüft. Hierfür sollte mit den Zeigefingern der rechten und linken Hand so schnell wie möglich auf den Sensor getippt werden.

Die statistische Auswertung erfolgte mittels Exaktem Test nach Fisher, nicht-parametrischem Mann-Whitney-U-Test, linearer Regression sowie Spearman-Korrelation.

Ergebnisse

Kinder mit OFD unterschieden sich signifikant von Kindern der Kontrollgruppe: Sie konnten ihre Zungenkraft bei dem Kraftlevel von 0,5 N schlechter regulieren (Kraftvariabilität p=0.009), ihre Zunge signifikant kürzer am Kraftmessfühler positionieren (Kontaktzeit p=0.005) und mit geringerer Ausdauer und Präzision steuern (Ausdauer <10% p=0.006, <20% p=0.005, <50% p=0.037; Präzision ±10% p=0.034, ±20%, p=0.015, ±50% p=0.005). Bei dem Kraftlevel von 0,25 N gab es nur einen signifikanten Parameter (Präzision ±50% p=0.039), bei dem sich die Kinder mit OFD und der Kontrollgruppe unterschieden (Tabelle 1 [Tab. 1]).

Kinder mit OFD konnten mit ihrem Zeigefinger signifikant langsamer, unregelmäßiger (Frequenz p=0.047, Tap Dauer p=0.001), mit höherer Kraftvariabilität (p=0,004) und mehr Kraftaufwand (p=0,003) auf den Sensor tippen (Tabelle 2 [Tab. 2]). Dabei hatte die Händigkeit keinen Einfluss auf die Ergebnisse der Untersuchung.

Diskussion

Mittels der Q-Motor-Messung konnten signifikant eingeschränkte Fähigkeiten der Finger- und Zungenmotorik bei Kindern mit OFD nachgewiesen werden.

Während bereits glossomotografisch gezeigt werden konnte, dass Kinder mit OFD ihre Zungenkraft signifikant schlechter dosieren und dem vorgegebenen Kraftlevel anpassen konnten als gesunde Kinder, zeigte sich zur Feinmotorik der Finger, dass Kinder mit OFD ebenfalls signifikant langsamer, mit weniger Kraft und geringerer Kraft-Konstanz im Vergleich zu gesunden Kindern tippten. Kinder mit OFD haben demnach nicht nur mit der Zunge, sondern auch bei der Bewegungsausführung ihrer Zeigefinger Schwierigkeiten in der Dosierung und Aufwendung der Kraft. Dies unterstützt u.a. die Ergebnisse von Redle et al. [6]. Hier konnte gezeigt werden, dass Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen veränderte Hirnaktivitäten bei der Erfüllung feinmotorischer Aufgaben mit ihren Fingern im Vergleich zu gesunden Kindern haben [6].

Fazit

Bei der Diagnostik und Therapie der OFD könnten neben den orofazialen sensomotorischen Kompetenzen auch die Feinmotorik der Finger eine Rolle spielen. Inwieweit diese Erkenntnis das Therapieergebnis beeinflusst, sollte in weiteren Studien untersucht werden.


Literatur

1.
de Langen-Müller U, Kauschke C, Kiesel-Himmel C, Neumann K, Noterdaeme M. Diagnostik von Sprachentwicklungsstörungen (SES), unter Berücksichtigung umschriebener Sprachentwicklungsstörungen (USES). In: Interdisziplinäre S2k-Leitlinie. 049/006. 2011; 1-90.
2.
Böhme G. Sprach-, Sprech, Stimm- und Schluckstörungen: Band 2: Therapie. 4. Aufl. München, Jena: Urban und Fischer; 2003. S. 83-97.
3.
Pollex-Fischer D, Rohrbach S. Berliner orofaziales Screening (BoS): Vorstellung eines Untersuchungsinstruments zur Diagnostik orofazialer Dysfunktionen (OFD). Forum Logopädie. 2017;4(31):2-7.
4.
Korbmacher H, Kahl-Nieke B. Optimierung der interdisziplinären Zusammenarbeit bei Patienten mit orofazialen Dyskinesien. In: Fortschritt Kieferorthopädie Bd. 62. 2001; 244-50.
5.
Rohrbach S, Buettner F, Pollex D, Mathmann P, Weinhold L, Schubert R, Reilmann R. Quantitative examination of isometric tongue protrusion forces in children with oro-facial dysfunctions (OFD) or myofunctional disorders. J Oral Rehabil. 2018;45(3):228-334.
6.
Redle E, Vannest J, Maloney T, Tsevat RK, Eikenberry S, Lewis B, Shriberg LD, Tkach J, Holland SK. Functional MRI evidence for fine motor praxis dysfunction in children with persistent speech disorders. Brain Res. 2015; 1597:47-56.
7.
Wu HG, Miyamoto YR, Gonzalez Castro LN, Olveczky BP, Smith MA. Temporal structure of motor variability is dynamically regulated and predicts motor learning ability. Nat Neurosci. 2014;17:312-21.