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36. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

19.09. - 22.09.2019, Göttingen

Validierung des SOPESS-Sprachscreenings im Rahmen des ikidS-Projektes

Poster

  • corresponding author presenting/speaker Anne Katrin Läßig - Schwerpunkt Kommunikationsstörungen der HNO-Klinik, Unimedizin Mainz, Mainz, Deutschland
  • author Dorle Hoffmann - Institut für Medizinische Biometrie, Epidemiologie und Informatik, Abteilung für Pädiatrische Epidemiologie, Universitätsmedizin Mainz der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mainz, Deutschland
  • author Christiane Diefenbach - Institut für Medizinische Biometrie, Epidemiologie und Informatik, Abteilung für Pädiatrische Epidemiologie, Universitätsmedizin Mainz der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mainz, Deutschland
  • author Christine Gräf - Institut für Medizinische Biometrie, Epidemiologie und Informatik, Abteilung für Pädiatrische Epidemiologie, Universitätsmedizin Mainz der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mainz, Deutschland
  • author Jochem König - Institut für Medizinische Biometrie, Epidemiologie und Informatik, Abteilung für Pädiatrische Epidemiologie, Universitätsmedizin Mainz der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mainz, Deutschland
  • author Jennifer Schlecht - Institut für Medizinische Biometrie, Epidemiologie und Informatik, Abteilung für Pädiatrische Epidemiologie, Universitätsmedizin Mainz der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mainz, Deutschland
  • author Martina Franziska Schmidt - Institut für Medizinische Biometrie, Epidemiologie und Informatik, Abteilung für Pädiatrische Epidemiologie, Universitätsmedizin Mainz der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mainz, Deutschland
  • author Kathleen Schnick-Vollmer - Institut für Medizinische Biometrie, Epidemiologie und Informatik, Abteilung für Pädiatrische Epidemiologie, Universitätsmedizin Mainz der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mainz, Deutschland
  • author Gabriele von der Weiden - Kreisverwaltung Mainz-Bingen, Abt. Gesundheitswesen, Kinder- und Jugendgesundheitsdienst, Mainz, Deutschland
  • author Monika Daseking - Pädagogische Psychologie, Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr, Hamburg, Deutschland
  • author Michael S. Urschitz - Institut für Medizinische Biometrie, Epidemiologie und Informatik, Abteilung für Pädiatrische Epidemiologie, Universitätsmedizin Mainz der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mainz, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 36. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Göttingen, 19.-22.09.2019. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2019. DocP7

doi: 10.3205/19dgpp21, urn:nbn:de:0183-19dgpp216

Veröffentlicht: 13. September 2019

© 2019 Läßig et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Eine frühe Diagnostik und Behandlung von Entwicklungsstörungen vor der Einschulung ist für den weiteren Bildungserfolg maßgeblich. Deshalb wurde das Sozialpädiatrische Entwicklungsscreening für Schuleingangsuntersuchungen (SOPESS) entwickelt und in mehreren Bundesländern flächendeckend eingeführt.

Material und Methoden: Die Zusammenhänge zwischen den Ergebnissen des SOPESS-Sprachscreening vor der Einschulung und der schulischen Sprachkompetenzen am Ende der ersten Klasse wurden als Teil einer umfassenden Evaluation untersucht.

Daten der rheinland-pfälzischen Schuleingangsuntersuchung sowie der prospektiven Kindergesundheitsstudie ikidS wurden zusammengeführt und ausgewertet. Zusammenhänge zwischen dem Gesamtfähigkeitswert Sprache am Ende der ersten Klasse (subjektive Lehrkrafteinschätzung, Intervall-skaliertes Merkmal, Range -4 bis +4) und dem SOPESS-Sprachscreening vor Einschulung (ordinal-skaliertes Merkmal, 6 Risikostufen) wurden mittels linearen Regressionsmodellen mit und ohne Berücksichtigung von weiteren soziodemografischen und medizinischen Prädiktoren untersucht (z.B. Alter bei Einschulung, Geschlecht, Sozialstatus der Eltern, Migrationshintergrund, bereits bekannte Sprachauffälligkeit, Entwicklungsverzögerung, Hörstörung).

Ergebnisse: In die Auswertung konnten 1357 Kinder einbezogen werden (48% Mädchen, Alter bei Schuleingangsuntersuchung 4,9–7,2 Jahre). Es zeigte sich ein klarer, stetiger Zusammenhang zwischen den Risikostufen des SOPESS-Sprachscreenings und den schulischen Sprachkompetenzen. Die mittleren Sprachkompetenzen nahmen mit Zunahme der SOPESS Risikostufe von 0,8 Punkten (SD=1,7) für die Stufe 0 auf -3,2 Punkte (SD=0,9) für die Stufe 6 ab.

Diskussion: Es zeigte sich ein klarer und unabhängiger Zusammenhang zwischen dem vorschulischen SOPESS-Sprachscreening und den schulischen Sprachkompetenzen am Ende der ersten Klasse. Dieses Sprachscreening könnte daher – insbesondere unter Einbezug von weiteren soziodemografischen und medizinischen Prädiktoren – die Basis für eine gezielte Auswahl von weiteren Versorgungs- und/oder Fördermaßnahmen sein.


Text

Hintergrund

Eine frühe Diagnostik und Behandlung von Entwicklungsstörungen vor der Einschulung ist für den weiteren Bildungserfolg maßgeblich. Deshalb wurde das SOzialPädiatrische EntwicklungsScreening für Schuleingangsuntersuchungen (SOPESS) entwickelt und im Rahmen der gesetzlich vorgeschriebenen schulärztlichen Schuleingangsuntersuchung (SEU) eingesetzt. In 9 Bundesländern wurde dieses flächendeckend eingeführt, mit dem Einschulungsjahrgang 2011/2012 auch in 20 von 24 Landkreisen in Rheinland-Pfalz.

Das SOPESS umfasst 12 Untertests zu 6 Merkmalsbereichen (u.a. selektive Aufmerksamkeit, Zahlen- und Mengenvorwissen, Visuomotorik, Sprache und Sprechen) [1]. Das Sprachverständnis, die grammatikalischen Strukturen und das phonologische Arbeitsgedächtnis werden untersucht und in drei Skalen: Präpositionen, Pluralbildung und Pseudowörter mit je sechs oder acht Items erfasst. Jedem Kind wird ein Risikowert (0 = unauffällig, 1 = grenzwertig, 2 = auffällig) zugeordnet und aufsummiert. Der summative Gesamtrisikowert Sprache (GRW-S) hat eine Spannweite zwischen 0 und 6 Risikopunkten, wobei ein höherer Wert auf eingeschränkte Sprachfähigkeiten hinweist [2], [3]. Die Skalen des SOPESS-Sprachtests wurden mit dem SETK 3-5 verglichen [2]. Der Untertest Artikulation wird über den Lautprüfbogen erfasst oder alternativ bei der Prüfung Präpositionen und Pluralbildung simultan miterfasst, aber auch die Spontansprache wird mit berücksichtigt.

Methoden

Daten der rheinland-pfälzischen SEU sowie der prospektiven Kindergesundheitsstudie ikidS („ich komme in die Schule“) wurden zusammengeführt und ausgewertet, um Zusammenhänge zwischen dem SOPESS-Sprachscreening vor der Einschulung und den schulischen SprachKompetenzen am Ende der 1. Klasse (sSKK1) (= Gesamtfähigkeitswert Sprache (GFW-S)) mittels linearer Regressionsmodelle mit und ohne Berücksichtigung von weiteren medizinischen und soziodemografischen Prädiktoren zu untersuchen.

Die sSKK1 wurde analog zum Nationalen Bildungspanel (NEPS) durch eine Befragung der Klassenlehrkraft erhoben, welche jeweils die sprachlichen und schriftsprachlichen Fähigkeiten (5-stufige Antwortskala: –2 (viel schlechter) bis +2 (viel besser)) jedes Kindes im Vergleich zu anderen gleichaltrigen Kindern beurteilte. Der summierte GFW-S umfasst von –4 bis +4 Fähigkeitspunkte (Erwartungswert 0 entspricht durchschnittlichen Fähigkeiten, d.h. je höher der Wert desto bessere Sprachfähigkeiten liegen vor).

Um den Mehrwert des SOPESS-Sprachscreenings gegenüber der SEU ohne das Screening zu untersuchen, wurde eine konfirmatorische Varianzanalyse durchgeführt. Folgende Prädiktoren wurden für den GFW-S aus der SEU durch eine modellbasierte automatische Variablenselektion, basierend auf dem Akaike Information Criterion, untersucht: Alter bei Einschulung, Dauer in vorschulischer Betreuungseinrichtung, Geschlecht, Entwicklungsverzögerung, Familienstruktur, Frühgeburtlichkeit, gesprochene Sprache im Haushalt, höchster Schul- und Berufsabschluss von Mutter und Vater, in Anspruch genommene Sprachtherapie, Mehrling bei Geburt, Migrationshintergrund, Rauchen im Haushalt, Schulstandort, Sprachauffälligkeiten zum Zeitpunkt der SEU, Stillen nach Geburt, Seh- oder Hörschwäche und Schulzugehörigkeit. Es wurden zwei Modelle gebildet: Modell 1 (M1): nur das Prädiktorenset der SEU; Modell 2 (M2) erweitertes Prädiktorenset um den GRW-S (kategorial) und Unterschiede in der Varianzaufklärung zwischen den Modellen mittels F-Test durch SAS 9.4 für Windows analysiert (p-Wert <0,05 signifikant).

Ergebnisse

Die Studienpopulation umfasste alle Einschüler/innen des Jahrgangs 2015/2016, die im Zeitraum vom 01.09.14 bis 31.08.15 in der Stadt Mainz und im Landkreis Mainz-Bingen eine SEU durchliefen (N=3683). Indem die informierten Eltern eine schriftliche Einwilligung erteilten, konnten 2003 Kinder (54% der Population) in die Kohorte aufgenommen und 1357 Kinder (68% der Kohorte; 37% der Studienpopulation) einbezogen werden (davon waren 48% Mädchen (n=653), Alter bei SEU 4,9–7,2 Jahre). Ausgeschlossen wurden Kinder wegen: Zurückstellung von der Einschulung (n=50), geistige Behinderung (n=5), Kind spricht nicht oder nur radebrechend Deutsch (n=50), GRW-S fehlte (n=48), GFW-S fehlte (n=493). Für den GRW-S konnten insgesamt 90 fehlende Werte ersetzt werden.

Es zeigte sich ein klarer, stetiger Zusammenhang zwischen den Risikostufen des SOPESS-Sprachscreenings (MedianGRW-S: M=0) und den sSKK1 (MittelwertGFW-S: M=0,35 (SD=1,9); jeweils 28%, 30% und 42% der Kinder zeigten unterdurchschnittliche (<0), durchschnittliche (=0) und überdurchschnittliche (>0) sprachliche Fähigkeiten entsprechend einer annähernden Normalverteilung). Die mittleren Sprachkompetenzen nahmen mit Zunahme der SOPESS Risikostufe von 0,8 Punkten (SD=1,7) für die Stufe 0 auf –3,2 Punkte (SD=0,9) für die Stufe 6 ab. Die Analysestichprobe war großteils repräsentativ für die Studienpopulation, allerdings waren Kinder mit Migrationshintergrund etwas unterrepräsentiert.

Mit steigendem GRW-S nahm der GFW-S stetig, ohne Bildung eines Plateaus ab. Der gleiche Trend zeigte sich in der getrennten Betrachtung der sprachlichen und schriftsprachlichen Fähigkeiten. Die lineare Regressionsanalyse zeigte, dass bereits Kinder der ersten Risikostufe (GRW=1) im Vergleich zu Kindern mit einem GRW von 0 einen niedrigeren GFW-S aufwiesen (β=–0,78; SE=0,15; 95% KI –1,1 bis –0,5) dieser Unterschied nahm mit steigenden Risikostufen weiter zu. Die Variablenselektion ergab für das Modell M1 insgesamt 13 unabhängige SEU-Prädiktoren für den GFW-S: Alter bei Einschulung, Betreuung außerhalb der Familie, Entwicklungsverzögerung, Geschlecht, gesprochene Sprache im Haushalt, höchster Schulabschluss von Mutter und Vater, höchster Berufsabschluss der Mutter, Hörschwäche, Migrationshintergrund, Sprachauffälligkeiten, Schulzugehörigkeit. M1 erklärte 31,6% der gesamten Varianz, die durch Hinzunahme des GRW-S auf 38,2% gesteigert werden konnte. Die Varianzaufklärung von M2 unterschied sich signifikant zu der von M1 (p<0,001).

Diskussion

Kinder mit einem GRW von nur 1 hatten signifikant schlechtere Fähigkeiten als Kinder mit einem GRW von 0, wodurch die bisherige Interpretation, bei der Ergebnisse mit 3 Risikopunkten (RP) bisher als grenzwertig und mit >3 RP als auffällig eingestuft werden [2], in Frage gestellt werden kann. Eine individuellere Betrachtung eines Kindes und weiterer Prädiktoren für sprachliche Fähigkeiten aus der SEU erlauben eine gezieltere Auswahl von weiterführenden Maßnahmen z.B. additive Sprachförderung oder logopädische Einzeltherapie. Kinder mit 2 RP und schlechter Bildungsprognose könnten z.B. bereits Maßnahmen erhalten, während bei Kindern mit 2 RP und guter Prognose abgewartet werden könnte. Dazu ist eine Integration vorhandener SEU-Prädiktoren, also ein Prädiktionsmodell notwendig. Auffällige Sprachleistungen in den SOPESS-Untertests sollten dennoch durch weitere kinderärztliche, logopädische, psychologische und phoniatrisch-pädaudiologische Untersuchungen abgeklärt werden.

Schlussfolgerungen

Es zeigte sich ein klarer, unabhängiger Zusammenhang zwischen dem SOPESS-Sprachscreening und den schulischen Sprachkompetenzen am Ende der 1. Klasse sowie ein deutlicher Zusatznutzen gegenüber bisherigen Prädiktoren für schulische Sprachfähigkeiten, der den zeitlichen, personellen und wirtschaftlichen Mehraufwand der Durchführung rechtfertigt. Dieses Sprachscreening könnte als sekundäre Präventionsmaßnahme – unter Einbezug von weiteren soziodemografischen und medizinischen Prädiktoren – die Basis für eine gezielte Auswahl von weiteren Versorgungs- und/oder Fördermaßnahmen sein.


Literatur

1.
Daseking M, Petermann F, Röske D, Trost-Brinkhues G, Simon K, Oldenhage M. Entwicklung und Normierung des Einschulungsscreenings SOPESS. Development and Standardisation of the Social-Pediatric Screening SOPESS. Gesundheitswesen. 2009;71:648-55.
2.
Petermann F, Daseking M, Oldenhage M, Simon K. SOPESS – Sozialpädiatrisches Entwicklungsscreening für Schuleingangsuntersuchungen. Theoretische und statistische Grundlagen zur Testkonstruktion, Normierung und Validierung. Düsseldorf: LfGuAdL Nordrhein-Westfalen; 2009.
3.
Daseking M, Petermann F, Simon K, Waldmann HC. Vorhersage von schulischen Lernstörungen durch SOPESS. Gesundheitswesen. 2011;73(10):650-9.