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36. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

19.09. - 22.09.2019, Göttingen

Morphologische Entwicklung bei prälingual ertaubten Kindern nach Cochlea Implantation – eine kritische Literatursichtung

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Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 36. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Göttingen, 19.-22.09.2019. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2019. DocP6

doi: 10.3205/19dgpp20, urn:nbn:de:0183-19dgpp201

Veröffentlicht: 13. September 2019

© 2019 Reichmuth et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: In der Literatur zum Spracherwerb nach Cochlea-Implantaten (CI) wird häufig von relativen Stärken (u.a. für Wortschatzerwerb) und Schwächen (vor allem im Morphologie-Erwerb) berichtet. Verschiedene Hypothesen bestehen dazu. Durch meist finale und unbetonte Position im Wort (in indogermanischen Sprachen) seien Morpheme schwerer wahrnehmbar. Auch externe Faktoren für eine unzureichende Signalqualität werden angenommen. Andere vermuten eine Erwerbsschwäche im Sinne einer beeinträchtigten Sprachverarbeitung.

Auch im Spracherwerb bei Kindern nach UNHS (früh Hörgeräte (HG)-versorgt) wird eine große Variabilität in der morphologischen Entwicklung beobachtet. Moeller & Tomblin (2015) gehen in ihrem multifaktoriellen Erklärungsmodell von drei Hauptfaktoren aus: 1) Qualität des Hörens mit HG, 2) Qualität des linguistischen Inputs der Eltern und 3) die individuelle Dauer/Zuverlässigkeit des Tragens der HG. Ziel der vorliegenden Recherche ist es, die Studienlage zum Erwerb des morphologischen Systems früh CI-implantierter Kinder, insbesondere zu den o.g. Einflussfaktoren von Moeller & Tomblin, kritisch zu sichten.

Material und Methoden: Medline-Recherche (2009–2019) zum Spracherwerb mit CI (insbesondere Morphologie) bei prälingual ertaubten Kindern (CI-OP ≤ Alter 24 Mo., lautsprachlich gefördert, einsprachig engl. oder dt., durchschnittlich intelligent).

Ergebnisse: Es besteht große Variabilität in den Entwicklungsverläufen. Beidseitige, frühe CI-Versorgung führt zu besserer Sprachwahrnehmung und besseren -Outcomes. Die Qualität des elterlichen Sprachinputs gilt als Schlüsselfaktor, auch für Morphologie. Hörschwellen mit CI haben deutlichen Einfluss auf den Morphologie-Erwerb und werden in jüngeren Studien kontrolliert. Qualität der Prozessoreinstellungen und tägliche Tragedauer werden erst beginnend untersucht. Datalogging weist auf deutlich erhöhte „Coil off“-Zeiten bei Säuglingen und Kleinkindern hin und auf lange Aufenthaltsdauer in ungünstig lauter Umgebung.

Diskussion: Die Literatursichtung stärkt die Sichtweise, dass i.d.R. bei früh implantierten Kindern ohne Zusatzbeeinträchtigungen o.g. externe Faktoren den Morphologie-Erwerb beeinflussen. Diese sollten vermehrt im Monitoring und in der Rehabilitation beachtet werden. Darüber hinaus sollte die Untergruppe der „Langsamen Sprachlerner“ mit Schwächen in allen Sprachdomänen früh identifiziert werden.

Fazit: Die Anwendung der drei Hauptfaktoren des Erklärungsmodells von Moeller & Tomblin auch auf CI-Kinder wird vorgeschlagen.


Text

Hintergrund

Seit über 15 Jahren wird in der Literatur zum Spracherwerb mit Cochlea-Implantaten (CI) diskutiert, ob einzelne linguistische Leistungen verschiedene Anforderungen an die prälingual ertaubten Kinder stellen. So wird häufig von relativen Stärken (u.a. für Wortschatzerwerb) und Schwächen (vor allem im Morphologie-Erwerb) berichtet (für Überblick siehe [1]). Verschiedene Hypothesen bestehen dazu. So seien in indogermanischen Sprachen die Morpheme schwerer wahrnehmbar, da sie meist in finaler und unbetonter Position im Wort stehen (z.B. Auditory Prominence-Hypothesis [2]). Auch externe Faktoren für eine unzureichende Signalqualität werden angenommen (z.B. MIND-Hypothese: Morpheme-In-Noise-Deficit-Hypothesis [3]). Parallelen zur Erwerbsschwäche bei hörenden Kindern mit spezifischer Sprachentwicklungsstörung im Sinne einer beeinträchtigten Sprachverarbeitung werden ebenfalls diskutiert [3], [4].

Da im Spracherwerb bei Kindern mit mittel- bis hochgradiger Schwerhörigkeit auch bei Früherkennung im Universellem Neugeborenen-Hörscreening und Frühversorgung mit Hörgeräten (HG) eine große Variabilität in der sprachlichen, insbesondere in der morphologischen Entwicklung beobachtet wird [5], erhält die o.g. Diskussion neue Impulse. Moeller & Tomblin [5] postulieren ein multifaktorielles Erklärungsmodell und gehen davon aus, dass vor allem folgende drei Hauptfaktoren verantwortlich sind: 1) die Qualität des Hörens mit den Hörhilfen, 2) die Qualität des linguistischen Inputs der Eltern und 3) die individuelle Dauer und Zuverlässigkeit des Tragens der Hörhilfe. Sie leiten daraus die Inconsistent Access-Hypothese ab, die ursächlich einen qualitativ und quantitativ unzureichenden sprachlichen Input als Grundlage für den Morphem-Erwerb bei Kindern mit HG annimmt.

Kann diese Hypothese auch auf Kinder nach früher Cochlea-Implantation angewendet werden? Ziel der vorliegenden Literatursichtung war es daher, die aktuelle Studienlage insbesondere zu den o.g. Einflussfaktoren von Moeller & Tomblin [5] zum Erwerb des morphologischen Systems früh CI-implantierter Kinder kritisch zu sichten.

Material und Methoden

Es wurde anhand von peer reviewed Studien (medline) eine kritische Literaturrecherche (2009 bis 2019) zum Spracherwerb mit CI (mit Ergebnissen zur morphologischen Entwicklung) bei Kindern durchgeführt, die lautsprachlich gefördert, einsprachig Englisch oder Deutsch aufwachsen, nonverbal durchschnittlich intelligent sind und spätestens bis zum Alter von 24 Monaten mit CIs versorgt wurden. Studien, die Einflussfaktoren zur Qualität des elterlichen Inputs, Dauer der präoperativen Versorgung mit Hörgeräten, zur Sprachwahrnehmung mit CIs, sowie zur Dauer und Zuverlässigkeit des Tragens der CIs untersuchen, wurden aufgenommen.

Ergebnisse

Als Defizite im Bereich der Morphologie wird einerseits ein geringerer Umfang von Morphemen (u.a. Flexionsmorpheme) bei sonst komplexen expressiven Sprachleistungen beschrieben bis hin zu andererseits generellen Problemen in der Anwendung von syntaktisch-morphologischen Regeln. Es besteht weiterhin große Variabilität in den Entwicklungsverläufen auch bei sehr frühimplantierten Kindern. Beidseitige, frühe CI-Versorgung führt zu besserer Sprachwahrnehmung und besseren -Outcomes [4], [6], [7]. Die Qualität des elterlichen Sprachinputs gilt als Schlüsselfaktor für den Spracherwerb mit CIs, insbesondere auch für die Domäne der Morphologie [4], [6], [7], [8], [9]. Hörschwellen mit CI haben deutlichen Einfluss auf den Morphologie-Erwerb und werden in jüngeren Studien kontrolliert [7]. Die Qualität der Prozessoreinstellungen und tägliche Tragedauer werden erst beginnend untersucht. Ergebnisse aus dem Datalogging weisen auf deutlich erhöhte „Coil off“-Zeiten bei Säuglingen und Kleinkindern hin und auf lange Aufenthaltsdauer in ungünstig lauter Umgebung [10], [11]. Der Wortschatzerwerb erfolgt häufig in akzeleriertem Tempo und kann als Prädiktor für günstige Entwicklungsverläufe dienen [1], [12]. „Langsame Sprachlerner“ mit Defiziten in allen Sprachdomänen stellen eine besondere Risikogruppe dar [4].

Diskussion

Bereits 2017 schlägt Reichmuth [1] vor, die von Moeller & Tomblin [5] genannten drei Haupteinfluss-, bzw. Risikofaktoren der Inconsistent Access-Hypothese auf den Spracherwerb frühimplantierter Kinder zu übertragen. Die vorliegende Literatursichtung stärkt diese Sichtweise und wird auch von Nicholas & Geers [7] diskutiert. Die Qualität des Hörens mit CIs und des elterlichen Sprachinputs sowie die Tragedauer der CIs beeinflussen den Morphologie-Erwerb maßgeblich. Familienzentrierte Rehabilitationskonzepte zur Stärkung der Eltern-Kind-Interaktion (prä- und postoperativ) beinhalten bereits die konkrete Umsetzung zur Verbesserung der Tragedauer und des elterlichen Sprachangebots [6] und werden daher gefordert. Die Optimierung des elterlichen Sprachinputs insbesondere in Hinblick auf die o.g. spezifische Hürde der Morphologie im Spracherwerb sollte gezielt und präventiv erfolgen (siehe z.B. [1], [8], [9], [13], [14]). Die Verbesserung der Tragedauer der CIs u.a. durch Beratung nach Datalogging, Optimierung der Spulenhalterung am Kopf bei Babies und Kleinkindern und der vermehrte Einsatz von technischem Zubehör zur Reduktion von Störgeräuschen werden empfohlen [10], [11].

Der Erwerb des morphologischen Systems stellt i.d.R. für Kindern mit CI ohne Zusatzbeeinträchtigungen zwar eine spezifische Hürde (auch bei OP <12 Monaten), aber wohl keine Schwäche im Spracherwerb dar (siehe auch [1], [7]). Die Annahme einer besonderen Erwerbsschwäche kann nur für eine Untergruppe der Risikokinder der „Langsamen Sprachlerner“ mit Schwächen in allen Sprachdomänen weiter aufrechterhalten werden [4]. Diese sollten früh identifiziert werden, um Ursachen früh abklären und die Kinder spezifisch fördern zu können [1], [4]. In der Forschung zum Spracherwerb nach CI sollten die drei o.g. Einflussfaktoren als Kontrollvariablen systematischer berücksichtigt werden.

Fazit – Schlussfolgerung

Für eine erfolgreiche Lautsprachentwicklung – insbesondere auch in der vulnerablen Domäne der Morphologie – ist die Sicherstellung eines qualitativ und quantitativ konsistenten Zugangs zu akustisch und linguistisch optimiertem Input für prälingual ertaubte Kinder nach früher CI-Versorgung grundlegend. Es ist eine interdisziplinäre Aufgabe in der CI-Rehabilitation bei Kindern die Qualität des Hörens mit CIs und des elterlichen Sprachinputs sowie die Tragedauer der CIs als wesentliche Einflussgrößen kontinuierlich zu optimieren und zu kontrollieren.


Literatur

1.
Reichmuth K. Spracherwerb prälingual ertaubter Kinder mit Cochlear Implantat – Aktueller Forschungsstand und Implikationen für die Sprachtherapie. Sprachtherapie Aktuell: Forschung – Wissen – Transfer. 2017;(4)1:e2017-04. DOI: 10.14620/stadbs171104 Externer Link
2.
Svirsky MA, Stallings LM, Lento CL, Ying EA, Leonard LB. Grammatical morphologic development in pediatric cochlear implant users affected by the perceptual promminence of the relevant markers. Annals of Otology Rhinology Laryngology. 2002;111:109-12.
3.
Hammer A. The acquisition of verbal morphology in cochlear-implanted and specific language impaired children [Dissertation]. Utrecht: LOT; 2010.
4.
Geers AE, Nicholas J, Tobey E, Davidson L. Persistent Language Delay Versus Late Language Emergence in Children With Early Cochlear Implantation. J Speech Lang Hear Res. 2016;59(1):155–70.
5.
Moeller MP, Tomblin J (2015b). Epilolgue: Conclusions an Implications for research and Practice (Outcomes of Children with Hearing Loss Study). Ear & Hearing. 2015;36(Suppl 1):92S-8S
6.
Yoshinaga-Itano C, Sedey AL, Wiggin M, Mason CA. Language Outcomes Improved Through Early Hearing Detection and Earlier Cochlear Implantation. Otol Neurotol. 2018;39(10):1256-63.
7.
Nicholas JG, Geers AE. Sensitivity of expressive linguistic domains to surgery age and audibility of speech in preschoolers with cochlear implants. Cochlear Implants Int. 2018;19(1):26-37.
8.
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Cruz I, Quittner A, Marker C, Desjardin J. Identification of effective strategies to promote language in deaf children with cochlear implants. Child Development. 2013;84(2):543–59.
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11.
Easwar V, Sanfilippo J, Papsin B, Gordon K. Impact of Consistency in Daily Device Use on Speech Perception Abilities in Children with Cochlear Implants: Datalogging Evidence. J Am Acad Audiol. 2018;29(9):835-46.
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Han M, Storkel H, Lee J, Yoshinago-Itano C. The influence of word characteristics on the vocabulary of children with cochlear implants. J Deaf Stud Deaf Educ. 2015;20(3):242–51.
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14.
Reichmuth K. Kommunikationsorientierte-sprachspezifische Therapie nach Reichmuth. In: Wachtlin B, Bohnert K, editors. Kinder mit Hörschädigungen in der Logopädie. Stuttgart: Thieme Verlag; 2018. (Forum Logopädie).