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36. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

19.09. - 22.09.2019, Göttingen

Deutsch-basierte vs. (quasi-)universelle Kunstwörter bei Vorschulkindern mit und ohne Migrationshintergrund

Vortrag

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  • corresponding author presenting/speaker Eugen Zaretsky - Universitätsklinikum Marburg, Abt. Phoniatrie und Pädaudiologie, Marburg, Deutschland
  • author Christiane Hey - Universitätsklinikum Marburg, Abt. Phoniatrie und Pädaudiologie, Marburg, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 36. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Göttingen, 19.-22.09.2019. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2019. DocV13

doi: 10.3205/19dgpp18, urn:nbn:de:0183-19dgpp183

Veröffentlicht: 13. September 2019

© 2019 Zaretsky et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Die Prüfung des phonologischen Kurzzeitgedächtnisses (PK) als einer der wichtigen Säulen des Erst- und Zweitspracherwerbs beinhaltet meist Aufgaben zum Nachsprechen von Kunstwörtern. Allerdings besteht bei solchen Aufgaben die Gefahr, dass Kinder mit Migrationshintergrund, die noch über schwache Deutschkenntnisse verfügen, die Phonotaktik ihrer Muttersprachen auf deutsch-basierte Kunstwörter (DBK) übertragen und dadurch fälschlicherweise als auffällig klassifiziert werden. Seit 2015 liegt eine Liste von (quasi-)universellen Kunstwörtern (QUK) vor, die viele Weltsprachen berücksichtigen (Chiat 2015). Diese Studie hatte zum Ziel, zum ersten Mal im deutschen Sprachraum die Leistungen der Kinder mit und ohne Migrationshintergrund in Aufgaben mit DBK und QUK zu vergleichen.

Material und Methoden: Insgesamt wurden 493 Kindergartenkinder im Alter 4;0–4;6 (23% monolingual Deutsch, 77% mind. zweisprachig) mit dem Sprachtest „Kindersprachscreening 2“ (KiSS) und einer Liste von QUK untersucht. KiSS-Kunstwörter sind DBK und wurden um mehrere Items aus der älteren KiSS-Version (KiSS-XL) erweitert. Gesamtscores der richtigen Antworten in beiden Aufgaben zum Nachsprechen wurden mittels Mann-Whitney U-Tests für Kinder mit und ohne Migrationshintergrund verglichen. Mit demselben Test wurde geprüft, ob in KiSS auffällige Probanden niedrigere Ergebnisse in beiden Aufgaben liefern als unauffällige.

Ergebnisse: Während bei DBK monolingual deutsche Kinder signifikant höhere Gesamtscores der richtigen Antworten erreichten als Kinder mit Migrationshintergrund (Z=–3,78, p<0,001), bestand bei QUK kein Unterschied zwischen diesen zwei Probandengruppen (Z=–0,33, p=0,740). Kinder, die im KiSS gesamtauffällig waren, lieferten sowohl in DBK (Z=–8,76, p<0,001) als auch in QUK (Z=–4,45, p<0,001) signifikant niedrigere Ergebnisse als unauffällige.

Diskussion: In DBK demonstrierten monolingual deutsche Kinder signifikant bessere Ergebnisse in den Aufgaben zum PK als Migrantenkinder. Dies dürfte damit zusammenhängen, dass die Kenntnisse der deutschen Phonotaktik das Ergebnis dieses KiSS-Untertests mitbeeinflussten und in die Bewertung der Leistungen im PK miteinflossen. Bei QUK bestand dieses Phänomen nicht. Dabei konnten auch QUK sprachlich auffällige Kinder von unauffälligen unterscheiden.

Fazit: Im Gegensatz zu DBK liefern QUK sowohl bei deutschen als auch bei Migrantenkindern vergleichbare Ergebnisse, wodurch eine zuverlässigere Prüfung des phonologischen Kurzzeitgedächtnisses unabhängig von den Deutschkenntnissen möglich wird.


Text

Hintergrund

Das phonologische Kurzzeitgedächtnis (PK) steht in engem Zusammenhang mit dem Erwerb von Sprache im Allgemeinen, inklusive Fremdspracherwerb [1], [2], [3] sowie mit dem Erwerb schriftsprachlicher Kompetenz [4]. Daher korrelieren Leistungen des phonologischen Kurzzeitgedächtnisses auch mit Schulleistungen im Lesen und Schreiben [5]. Kinder mit mehreren sprachbezogenen Krankheitsbildern liefern in Aufgaben zum PK signifikant niedrigere Werte als unauffällige Kinder: spezifische Sprachentwicklungsstörung, Down-, Williams- und Fragiles-X-Syndrom, generell geistige Behinderung, periphere Hörstörung, auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung, Lese-Rechtschreibschwäche und Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung. Die Prüfung des PK als einer der wichtigen Säulen des Erst- und Zweitspracherwerbs beinhaltet meist Aufgaben zum Nachsprechen von Kunstwörtern. Allerdings besteht bei solchen Aufgaben die Gefahr, dass Kinder mit Migrationshintergrund, die noch über schwache Deutschkenntnisse verfügen, die Phonotaktik ihrer Muttersprachen auf deutsch-basierte Kunstwörter (DBK) übertragen und dadurch fälschlicherweise als sprachlich oder gar medizinisch auffällig klassifiziert werden. Seit 2015 liegt eine Liste von (quasi-)universellen Kunstwörtern (QUK) vor, die viele Weltsprachen berücksichtigen [6]. Diese Studie hatte zum Ziel, zum ersten Mal im deutschen Sprachraum die Leistungen der Kinder mit und ohne Migrationshintergrund in Aufgaben mit DBK und QUK zu vergleichen.

Material und Methoden

Insgesamt wurden 2017–2019 493 Kindergartenkinder im Alter 4;0–4;6 (23% monolingual Deutsch, 77% mind. zweisprachig; 53% männlich, Durchschnittsalter 4;3) mit dem Sprachtest „Kindersprachscreening 2“ (KiSS; [7], [8]) und einer Liste von QUK untersucht. KiSS-Kunstwörter sind DBK wie „Nabolira“, „Gune“ und wurden um mehrere Items aus der älteren KiSS-Version (KiSS-XL) erweitert. Gesamtscores der richtigen Antworten in beiden Aufgaben zum Nachsprechen wurden mittels Mann-Whitney U-Tests für Kinder mit und ohne Migrationshintergrund verglichen. Mit demselben Test wurde geprüft, ob in KiSS auffällige Probanden niedrigere Ergebnisse in beiden Aufgaben liefern als unauffällige.

Ergebnisse

Während bei DBK monolingual deutsche Kinder signifikant höhere Gesamtscores der richtigen Antworten erreichten als Kinder mit Migrationshintergrund (Z=–3,78, p<0,001; M=14,1±3,8 vs. M=12,5±4,3), bestand bei QUK kein Unterschied zwischen diesen zwei Probandengruppen (Z=–0,33, p=0,740; M=10,7±2,8 vs. M=10,5±3,1). Kinder, die im KiSS gesamtauffällig waren, lieferten sowohl in DBK (Z=–8,76, p<0,001, M=11,6±4,2 vs. M=15,0±3,4) als auch in QUK (Z=–4,45, p<0,001; M=10,0±3,2 vs. M=11,3±2,8) signifikant niedrigere Ergebnisse als unauffällige.

Diskussion

Bei Aufgaben zum PK, die sprachspezifisch konzipiert sind, besteht die Gefahr, dass Migrantenkinder als medizinisch abklärungsbedürftig eingestuft werden, obwohl Ihnen nur die Phonotaktikkenntnisse der jeweiligen Landessprache fehlen. Vereinzelt wurde die Benachteiligung dieser Art auch schon in Studien für andere Sprachen nachgewiesen [9], [10]. Die Unterschätzung der Gedächtnisleistungen eines solchen Kindes und das Veranlassen von unnötigen, ggf. teuren medizinischen Untersuchungen könnten die Folge sein. Daher empfiehlt sich der Einsatz von Kunstwörtern, die sprachunabhängig entwickelt wurden und keine Untergruppen von Migrantenkindern benachteiligen. In der aktuellen Studie demonstrierten monolingual deutsche Kinder in DBK signifikant bessere Ergebnisse in den Aufgaben zum PK als Migrantenkinder. Dies dürfte damit zusammenhängen, dass die Kenntnisse der deutschen Phonotaktik das Ergebnis dieses KiSS-Untertests mitbeeinflussten und in die Bewertung der Leistungen im PK miteinflossen. Bei QUK bestand dieses Phänomen nicht. Dabei konnten auch QUK sprachlich auffällige Kinder von unauffälligen unterscheiden.

Fazit

Im Gegensatz zu DBK liefern QUK sowohl bei deutschen als auch bei Migrantenkindern vergleichbare Ergebnisse, wodurch eine zuverlässigere Prüfung des phonologischen Kurzzeitgedächtnisses unabhängig von den Deutschkenntnissen möglich wird.


Literatur

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Erdos C, Genesee F, Savage R, Haigh C. Predicting risk for oral and written language learning difficulties in students educated in a second language. Appl Psycholinguist. 2014;35(2):371-98.
2.
Gathercole SE, Hitch GJ, Service E, Martin AJ. Phonological short-term memory and new word learning in children. Dev Psychol. 1997;33(6):966-79.
3.
Martin KI, Ellis NC. The roles of phonological short-term memory and working memory in L2 grammar and vocabulary learning. Stud Second Lang Acquis. 2012;34(3):379-413.
4.
Steinbrink C, Schwanda S, Vogt K. Zusammenhänge zwischen kognitiven Variablen und Lese-Rechtschreibleistungen bei Erstklässlern mit Schwierigkeiten im Rechtschreiben. Nervenheilkunde. 2008;27(7):644-51.
5.
De Carvalho CA, Kida Ade S, Capellini SA, de Avila CR. Phonological working memory and reading in students with dyslexia. Front Psychol. 2014;18(5):746.
6.
Chiat S. Non-word repetition. In: Armon-Lotem S, de Long J, Meir N, editors. Assessing Multilingual Children. Disentangling Bilingualism from Language Impairment. Bristol: Multilingual Matters; 2015. p. 125-50.
7.
Neumann K, Holler-Zittlau I, van Minnen S, Sick U, Zaretsky Y, Euler HA. Katzengoldstandards in der Sprachstandserfassung. Sensitivität und Spezifität des Kindersprachscreenings (KiSS). HNO. 2011;59:97-109.
8.
Euler HA, Holler-Zittlau I, van Minnen S, Sick U, Dux W, Zaretsky Y, Neumann K. Psychometrische Gütekriterien eines Kurztests zur Erfassung des Sprachstandes vierjähriger Kinder. HNO. 2010;58(11):1116-23.
9.
Summers C, Bohman TM, Gillam RB, Peña ED, Bedore LM. Bilingual performance on nonword repetition in Spanish and English. Int J Lang Commun Disord. 2010;45(4):480-93.
10.
Thorn AS, Gathercole SE. Language-specific knowledge and short-term memory in bilingual and non-bilingual children. Q J Exp Psychol A. 1999;52(2):303-24.