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36. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

19.09. - 22.09.2019, Göttingen

Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen im Grundschulalter. Eine faktorenanalytische Untersuchung

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  • corresponding author presenting/speaker Christiane Kiese-Himmel - Phoniatrisch/Pädaudiologische Psychologie, Universitätsmedizin Göttingen, Göttingen, Deutschland
  • author Andreas Nickisch - kbo-Kinderzentrum München, Abteilung Hören-Sprache-CI, München, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 36. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Göttingen, 19.-22.09.2019. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2019. DocP4

doi: 10.3205/19dgpp13, urn:nbn:de:0183-19dgpp138

Veröffentlicht: 13. September 2019

© 2019 Kiese-Himmel et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Untersuchung der Struktur unserer eklektischen Testbatterie zur Diagnose von AVWS.

Material und Methoden: Testergebnisse von 143 Kindern mit AVWS (96 Jungen) im mittl. Alter von 8,3 (SD 1,1) Jahren gingen in mehrere exploratorische Faktorenanalysen (EFA; Hauptkomponentenmethode) ein. Unter Berücksichtigung der Ergebnisse unserer diskriminanzanalytischen Vorstudien und der zu Grunde liegenden Interkorrelationen wurde eine EFA mit 12 diagnostischen Testvariablen gewählt (Wortverstehen im Störgeräusch durch Göttinger Sprachaudiometrie II; Binauraler Summationstest; Dichotische Sprachaudiometrie (Uttenweiler); HLAD-Subtests Phonemdifferenzierung, Phonemidentifikation, Phonemanalyse; PET-Subtests Laute Verbinden und Zahlenfolgen-Gedächtnis; Mottier-Test; HSET-Subtest Imitation grammatischer Strukturen; PaTsy-Subtests Tonhöhendiskrimination und monaurale Ordnungsschwelle).

Ergebnisse: Das Kaiser-Meyer-Olkin (KMO)-Maß der Stichprobeneignung war mit .739 tendenziell gut. Aus der ersten EFA resultierten 12 noch unzureichend interpretierbare Faktoren mit einem Eigenwert >1, die 61,3% Gesamtvarianz erklärten. Da das Eigenwertkriterium bei einer großen Variablenanzahl häufig zu viele Faktoren extrahiert, wurde ein Scree-Test durchgeführt. Dieser sprach für eine 4-Faktorenlösung, obgleich das Muster der Faktorenladungen eher eine 3-Faktoren-Lösung nahelegte. Die daraufhin vorgenommene Promax-Rotation zeigte mit 4 Faktoren ein eindeutiger interpretierbares Muster. Es resultierten ein phonematischer Faktor, ein verbal-auditiver Kurzzeitgedächtnisfaktor, ein basaler Hörverarbeitungsfaktor und ein Hörverarbeitungsfaktor von redundanzreduzierter Sprache. Die Höhe der Interkorrelationen der Faktoren sprach für ihre Unterschiedlichkeit.

Fazit: Mit diesen Ergebnissen ist ein vorläufiges Modell zentral-auditiver Prozesse unserer Testbatterie entworfen. Eine Replikation des Faktorenmusters an größeren Stichproben ist aber nötig.


Text

Einleitung

Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen (AVWS) stellen eine facettenreiche neurokognitive Störung dar. Unser Ziel war es, die inhaltlichen Merkmale, die die Tests/Subtests unserer aus früheren Publikationen bekannten Testbatterie (s.u.) zur Sicherung der Diagnose im Grundschulalter ausmachen, in einem datenreduzierenden statistischen Verfahren [1] aufzudecken.

Material und Methode

Unsere eklektische AVWS-Testbatterie besteht aus 16 Subtests/Tests zur Untersuchung spezifisch-auditiver Fähigkeiten und hat sich in der Trennung von Kindern mit bzw. ohne AVWS bewährt [2], [3], [4], [5]. Unter Berücksichtigung der Ergebnisse der diskriminanzanalytischen Vorstudien wählten wir 12 der 16 diagnostischen Testvariablen aus, die z-standardisiert in eine explorative Faktorenanalyse (EFA) eingingen: Wortverstehen im Störgeräusch durch die Göttinger Sprachaudiometrie II; Binauraler Summationstest; Dichotische Sprachaudiometrie (Uttenweiler); Subtests Phonemdifferenzierung, Phonemidentifikation, Phonemanalyse (Heidelberger Lautdifferenzierungtest – HLAD); Subtests Laute Verbinden und Zahlenfolgen-Gedächtnis (Psycholinguistischer Entwicklungstest – PET); Mottier-Test; Subtest Imitation grammatischer Strukturen (Heidelberger Sprachentwicklungstest – HSET); Subtests Tonhöhendiskrimination und monaurale Ordnungsschwelle (Psychoakustisches Testsystem – PaTsy).

Studienkollektiv

Nach abgeschlossener interdisziplinärer Untersuchung und gemäß den bereits früher ausführlich beschriebenen Diagnosekriterien [4] wurde im kbo-Kinderzentrum München im Zeitraum von 2004–2017 bei 143 Kindern (96 Jungen; 47 Mädchen; 6–11 Jahre) im mittl. Alter von 8,3 (SD 1,1) Jahren (mit vollständigen Datensätzen bzgl. der o.g. Tests) die Diagnose „AVWS“ gesichert. Diese Kinder hatten keine periphere Hörstörung und auch keine Intelligenzminderung (nonverbaler IQ>85).

Ergebnisse

Das Kaiser-Meyer-Olkin (KMO)-Kriterium, welches dem Ausmaß an Korrelationen zwischen allen Variablen entspricht und ein Maß für die faktorenanalytische Angemessenheit der Testvariablen ist, war mit .739 als „mittelmäßig“ einzuschätzen; der Bartlett-Test auf Sphärizität mit einem Signifikanzwert von .000 belegte eine Eignung der Daten für eine Dimensionierung. Zur Extraktion von Faktoren wurde eine Hauptkomponentenanalyse (nicht abgebildet) durchgeführt, die Bestimmung der Faktorenzahl erfolgte nach dem Kaiser-Kriterium (Eigenwert >1). Der Eigenwert (3,257) von Faktor 1 sank bei den folgenden drei Faktoren auf etwas über den Wert 1. Die Anzahl von vier zu extrahierenden Faktoren wurde durch den anschließenden Scree-Test bestätigt. Durch vier Faktoren mit einem Eigenwert >1 wurden 61,3% Gesamtvarianz aufgeklärt, wozu Faktor 1 ca. 27% beitrug, Faktor 4 noch ca. 11%. Nahezu alle Kommunalitäten h2 – sie geben an, wie hoch welcher Faktor zur Varianzaufklärung jeder Variablen beiträgt – lagen nach erfolgter Extraktion im Bereich .509 bis .764. Das heißt, mindestens die Hälfte der Varianz einer jeden Testvariablen konnte durch die vier extrahierten Faktoren erklärt werden. Die meiste Varianz (76%) wurde für die Variable „HLAD-Differenzierung“ aufgeklärt, aber nur knapp 48% für die Variable „Laute Verbinden“ und 41% für das Wortverstehen im Störgeräusch.

Die Komponentenmatrix (nicht abgebildet) zeigte, dass die Ladungen auf den unrotierten Komponenten (Faktoren) vorwiegend auf der ersten Komponente hochluden und sich deswegen schlecht interpretieren ließ. So lagen auf Faktor 1 mehr als die Hälfte aller Variablen mit einer Ladung ≥.57. Die folgende Promax-Rotation, ein obliques Rotationsverfahren, führte zu einer besseren Interpretierbarkeit (Tabelle 1 [Tab. 1]). Faktor 1 war durch die drei hoch ladenden HLAD-Variablen ausgewiesen: Phonemdifferenzierung (.908), -analyse (.790), -identifikation (.753). Da gemäß Gorsuch [6] bei der Interpretation von Faktoren auch Ladungen berücksichtigt werden sollten, die >.30 sind, waren die „Binaurale Summation (.408) und das „Laute Verbinden“ (.377) hinzuzunehmen. Auf Faktor 2 luden alle Kurzzeitgedächtnisaufgaben hoch und das dichotische Wortpaarverstehen, welches zur Bearbeitung eine Kurzzeitspeicherung verlangt, auf Faktor 3 die beiden PaTsy-Tests. Faktor 4 war durch binaurale Summation und Hören im Störgeräusch markiert (mit Nebenladung des dichotischen Wortpaarverstehens [.388] sowie des Laute Verbindens [.349]).

Diskussion

Die Zahl der empirischen, zu faktorisierenden Testvariablen war im Verhältnis zur Stichprobengröße bei der 12-Variablen-EFA angemessen, d.h. nicht zu groß, geht man doch meistens von einer Relation Variablenzahl zu Stichprobengröße von 1:3 bis 1:10 aus. Die Analyse nach Promax-Rotation ließ sich für unsere AVWS-Testbatterie mit mehrheitlich verbalen Stimuli i.S. einer substanziellen Faktorenstruktur gut interpretieren. Faktor 1 repräsentiert phonematische Verarbeitung. Die Nebenladung des binauralen Summationstests auf diesem Faktor lässt sich damit erklären, dass bei diesem Test 2-silbige Einzelwörter angeboten werden und die Verschmelzung von jeweils monaural hohen Frequenzen eines Wortes mit den monaural tiefen Frequenzen phonematisch unterlegt ist. Faktor 2 ist ein sprachlich-auditiver Kurzzeitgedächtnisfaktor. Faktor 3 markiert basale Hörverarbeitung, Faktor 4 Hörverarbeitung von redundanzreduzierter Sprache. Ein Faktor mit weniger als drei substanziell ladenden Variablen ist als instabil zu bezeichnen, denn für einen soliden Faktor sind mindestens vier Variablen mit einer Ladung >.30 wünschenswert. Unter dieser Prämisse bleibt Faktor 3 nach einer Faktorenrotation problematisch. Mit diesen Ergebnissen ist ein vorläufiges Modell zentral-auditiver Prozesse auf dem Hintergrund unserer Testbatterie entworfen. Eine Replikation des Faktorenmusters an größeren Stichproben ist nötig.


Literatur

1.
Backhaus K, Erichson B, Plinke W, Weiber R. Multivariate Analysemethoden. 13. überarb. Aufl. Heidelberg: Springer; 2011.
2.
Kiese-Himmel C, Nickisch A. Die diagnostische Genauigkeit einer AVWS-Testbatterie in der Klassifikation von auffälligen und unauffälligen Kindern. Laryngorhinootol. 2015;94:373-7.
3.
Nickisch A, Gohde K, Kiese-Himmel C. AVWS bei Regelschülern im 2. Schuljahr. Welche Tests trennen auffällige von unauffälligen Kindern? Laryngorhinootol. 2013;92:594-9.
4.
Nickisch A, Kiese-Himmel C. Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsleistungen 8- bis 10-Jähriger: Welche Tests trennen auffällige von unauffälligen Kindern? Laryngorhinootol. 2009;88:469-76.
5.
Nickisch A, Werner F, Kiese-Himmel C. Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen (AVWS) bei Erstklässlern: Welche Tests trennen auffällige von unauffälligen Kindern? Laryngorhinootol. 2018;97:624-9.
6.
Gorsuch RL. Factor analysis. Hillsdale: Erlbaum; 1983.