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4. Dreiländertagung D-A-CH
35. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

20.09. - 23.09.2018, Innsbruck, Österreich

Perzeption und Lokalisation binauraler Informationen bei Kindern (PLOBI2go) – Psychoakustik zur frühen Erfassung der kindlichen Hörentwicklungsstörung

Vortrag

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  • author Karsten Plotz - Jade Hochschule, Institut für Hörtechnik und Audiologie (IHA), Oldenburg, Deutschland
  • corresponding author presenting/speaker Katharina Schmidt - Jade Hochschule, Institut für Hörtechnik und Audiologie (IHA), Oldenburg, Deutschland
  • Michael Buschermöhle - KIZMO – Klinisches Innovationszentrum für Medizintechnik Oldenburg, Oldenburg, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. Sektion Phoniatrie der Österreichischen Gesellschaft für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde, Kopf- und Halschirurgie. Schweizerische Gesellschaft für Phoniatrie. 4. Dreiländertagung D-A-CH, 35. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Innsbruck, Österreich, 20.-23.09.2018. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2018. DocV32

doi: 10.3205/18dgpp47, urn:nbn:de:0183-18dgpp479

Veröffentlicht: 14. September 2018

© 2018 Plotz et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Flächendeckende Hörtests gibt es nur nach der Geburt im Rahmen des UNHS. Der G-BA hat zum 01.09.2016 in die U8 eine Screenings-Audiometrie eingefügt. Nach Einschätzung der Autoren werden dadurch die im Kleinkindalter typischen und häufigen SLSH nicht sensitiv genug erfasst. Viele Autoren haben die hohe Prävalenz von Paukenergüssen im Kindesalter belegt [1] und ein Persistieren der Folgen bis ins Grundschulalter kann bei 10% der Kinder auftreten [2]. Die Fokussierung auf dem Screening der Hörschwelle bei der U8 wird methodisch, apparativ und strukturell den typischen SLSH nicht gerecht. Störungen der schulischen Teilhabe aufgrund nicht entdeckter, nicht erkannter, nicht behandelter „geringgradiger oder minimaler“ Hörverluste durch SLSH sind als wahrscheinlich anzusehen [3]. Die Autoren stellen ein aktuelles Forschungsprojekt vor, in dem überschwellige psychoakustische Verfahren für das Alter von 5 Jahren entwickelt werden sollen. Der Vorteil von überschwelligen Verfahren wäre die Robustheit gegenüber nicht optimaler Schalldämmung, wie sie für hörschwellennahe Messungen vorhanden sein müsste. Methodisch wären binaural psychoakustische Verfahren außerdem geeigneter, um Aussagen über die Hörentwicklung zu treffen.

Material und Methoden: Die Konzeption der Methoden findet unter Federführung des Institutes für Hörtechnik und Audiologie IHA Oldenburg an der Jade Hochschule statt.

Die Entwicklung der kindgerechten graphischen Benutzer-Oberfläche und die Sicherstellung der guten Verwertbarkeit und Bedienbarkeit für die Anwender wird sichergestellt durch die Kooperation mit der KIZMO GmbH Oldenburg.

Ergebnisse: Ergebnisse sind ab Mitte 2019 zu erwarten. Die Projektlaufzeit beträgt 24 Monate. Die endgültigen Evaluationsmessungen finden ab Frühjahr 2020 statt.

Diskussion: Vorteile der überschwelligen Psychoakustik versus der hörschwellennahen Diagnostik im Setting von Screening-Untersuchungen sollen kritisch abgewogen werden.

Die Anforderungen an eine Psychoakustik-Messstation, die kindgerecht, anwenderfreundlich, intuitiv bedienbar sein soll, sind als anspruchsvoll anzusehen.

Fazit: Das Projekt PLOBI2go wird eine Förderzusage vom BMBF über 1,4 Mio Euro zum 01.09.2018 für eine Laufzeit von 24 Monaten erhalten.

Ziel des Projektes ist die Entwicklung einer mobilen Freifeld-Psychoakustik-Messstation, die im Rahmen der U8 und/oder bei Schuleingangsuntersuchungen eine verlässliche Aussage über die binaurale Hörentwicklung gestatten kann, so dass auffällige Kinder der fachärztlichen Betreuung zugeleitet werden können.


Text

Die Hörentwicklung eines Kindes hat entscheidende Auswirkungen auf die Entwicklung der Sprache und damit der sozialen und der emotionalen Entwicklung. Flächendeckende Hörtests gibt es nur nach der Geburt im Rahmen des UNHS. Der G-BA hat zum 01.09.2016 in die U8 eine Screening-Audiometrie eingefügt. Daher werden in Deutschland aktuell zu zwei vorgegebenen Zeitpunkten Hörstörungen mittels Screeningverfahren in der kindlichen Bevölkerung untersucht. Bei Neugeborenen ist ein Hörscreening gesetzlich seit 2009 geregelt und wird mittels objektiver audiometrischer Verfahren durchgeführt (d.h., das Hörvermögen kann ohne Zutun des Kindes erfasst werden). Der zweite Zeitpunkt eines Hörscreenings ist seit 2016 verbindlich für die kinderärztliche Vorsorgeuntersuchung (U8) mit einem Alter von ca. 4,5 Jahren geregelt worden. Nach Einschätzung der Autoren werden dabei die im Kleinkindalter typischen und häufigen SLSH nicht sensitiv genug erfasst. Viele Autoren haben die hohe Prävalenz von Paukenergüssen im Kindesalter belegt [1] und ein Persistieren der Folgen bis ins Grundschulalter kann bei 10% der Kinder auftreten [2]. Die Fokussierung auf dem Screening der Hörschwelle bei der U8 wird methodisch, apparativ und strukturell den typischen SLSH nicht gerecht.

Im Rahmen des Vorhabens PLOBI2go wird ein alternativer Ansatz verfolgt. Die Hörwahrnehmung ist nicht zwingend von der Hörschwelle abhängig. Die entwicklungsbedingte Reifung des beidohrigen Hörens gestattet es, informationstragende „gut hörbare“ (sogenannte überschwellige) akustische Reize von solchen zu trennen, die nicht informationstragend oder störend sind. Es gibt Hinweise in der Literatur, dass diese akustische Filterung beeinträchtigt sein kann, wenn im Kindergartenalter längere Zeit oder wiederholt langanhaltende Hörstörungen vorliegen, die in ihrem Ausmaß zwar als sehr gering eingeschätzt werden, aber wegen der Dauer ihres Vorliegens Auswirkungen haben können, deren Ausmaß und Effekt nicht ausreichend untersucht bzw. nicht ausreichend berücksichtigt wird. Störungen der schulischen Teilhabe aufgrund nicht entdeckter, nicht erkannter, nicht behandelter "geringgradiger oder minimaler" Hörverluste durch SLSH sind als wahrscheinlich anzusehen [4], [3]. Es ist deshalb notwendig, ein verlässliches Verfahren einzusetzen, das eine Aussage zur binauralen (beidohrigen) Hörentwicklung erlaubt und ergänzend zum Audiometrie-Screening der Hörschwelle seine Verwendung finden könnte.

Das System PLOBI2go („Plattform zur Messung der Perzeption und Lokalisation binauraler Information bei Kindern“) soll außerhalb des professionell akustisch optimierten Versorgungssystems bei Kinderärzten (U8) und bei Gesundheitsämtern im Rahmen der Schuleingangsuntersuchung (SEU) als Screening-System entwickelt werden. Damit stellen sich besondere Anforderungen: Die Kinder sind im späten Kindergartenalter und haben noch nicht die Grundschulreife voll entwickelt. Dies hat wesentliche Auswirkungen auf das Design, die Handhabung und die nutzerspezifischen Anforderungen des zu entwickelnden Systems. Das Personal ist zwar sachlich eingewiesen, hat aber keine fachspezifische Ausbildung zur Hördiagnostik bei kleinen Kindern durchlaufen. Dies steigert die Anforderungen an das PLOBI2go-System. Es muss eine intuitive Bedienungsführung für den Anwender und eine motivierende, weitgehend selbsterklärende grafische Oberfläche für die Kinder erstellt werden. Für die Testdurchführung sollen deshalb Techniken aus dem Gaming-Bereich genutzt werden. Da die Kinder nicht an das Tragen von klinisch-audiologischen Kopfhörern gewöhnt sind, muss oft mit Lautsprechern (d.h. im Freifeld) gemessen werden. Wenn es zu einer Hörsystemanpassung (konventionelle Hörgeräte oder sogenannte FM-Anlagen) kommen sollte, dann sind ebenfalls nur noch Messungen im Freifeld möglich. Das System PLOBI2go wird diese Aspekte berücksichtigen und außerdem für wechselnde Anwendungsorte als mobiles System ausgelegt sein.

Es wird eine hohe Marktakzeptanz erwartet, da im Rahmen der Entwicklung die Bedarfe der Anwender berücksichtigt werden. Zudem wird von Anfang an auf eine kostengünstige und mobile Lösung Wert gelegt. Der wissenschaftlich-audiologische Ansatz, psychoakustische Leistungen im betreffenden Alter als Screening-Instrument zur Verfügung zu stellen, hat einen absoluten Neuheitswert. Es bietet die Möglichkeit, die Inklusion bei Kindern mit Auffälligkeiten in der binauralen Entwicklung von Anbeginn der Grundschulzeit zu ermöglichen. Dadurch kann sich die Möglichkeit eröffnen, Stigmatisierungen, Schulprobleme, Schulängste oder schulische Leistungen unter dem Potential des Kindes vorausschauend, proaktiv zu mindern bzw. positive Impulse zur gesunden Entwicklung und zur Inklusion im Bereich der Grundschule zu setzen.

Das Projekt PLOBI2go hat eine Projektsumme von ca. 1,4 Mio €, mit einem 1,1 Mio € Förderanteil durch das BMBF inklusive Projektpauschale. Die Laufzeit beträgt 2 Jahre vom 01.09.2018 bis 31.08.2020.

Abbildung 1 [Abb. 1]


Literatur

1.
Damm M, Jayme KP, Klimek L. [Recurrent otitis media with effusion in childhood: when should an otolaryngologist consider an allergic etiology?]. Hno. 2013;61(10):843-848. DOI: 10.1007/s00106-013-2700-9 Externer Link
2.
Keogh T, Kei J, Driscoll C, Khan A. Children with minimal conductive hearing impairment: speech comprehension in noise. Audiology & Neuro-Otology. 2010;15(1):27-35. DOI: 10.1159/000218360 Externer Link
3.
Whitton JPJ, Polley DBD. Evaluating the perceptual and pathophysiological consequences of auditory deprivation in early postnatal life: a comparison of basic and clinical studies. Journal of the Association for Research in Otolaryngology – JARO. 2011;12(5):535-547. DOI: 10.1007/s10162-011-0271-6 Externer Link
4.
Tharpe AM, Bess FH. Identification and management of children with minimal hearing loss. International Journal of Pediatric Otorhinolaryngology. 1991;21(1):41-50.