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4. Dreiländertagung D-A-CH
35. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

20.09. - 23.09.2018, Innsbruck, Österreich

Sensorineurale Schwerhörigkeit bei Wolf-Hirschhorn-Syndrom

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  • corresponding author presenting/speaker Lisanne Kettern - HNO Universitätsmedizin Mainz, Schwerpunkt für Kommunikationsstörungen, Mainz, Deutschland
  • author Anne Läßig - HNO Universitätsmedizin Mainz, Schwerpunkt für Kommunikationsstörungen, Mainz, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. Sektion Phoniatrie der Österreichischen Gesellschaft für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde, Kopf- und Halschirurgie. Schweizerische Gesellschaft für Phoniatrie. 4. Dreiländertagung D-A-CH, 35. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Innsbruck, Österreich, 20.-23.09.2018. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2018. DocP15

doi: 10.3205/18dgpp43, urn:nbn:de:0183-18dgpp438

Veröffentlicht: 14. September 2018

© 2018 Kettern et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Das Wolf-Hirschhorn-Syndrom ist eine syndromale Erkrankung, die auf einer Deletion des kurzen Arms des Chromosoms 4 (4p16.3) beruht. Die Erstbeschreibung erfolgte 1961 durch Hirschhorn und Cooper. Das weibliche Geschlecht ist häufiger betroffen. Meist liegt eine Neumutation vor. Zu den Kardinalsymptomen gehören charakteristische Gesichtsfehlbildungen „Gesicht wie ein griechischer Kriegshelm“, intrauterine und postpartale Wachstumsverzögerung, eine verzögerte psychomotorische Entwicklung und eine Epilepsie. Auch visuelle Probleme, Hörprobleme, genitoureale Fehlbildungen, kardiologische Probleme, Zahnprobleme, eine Abwehrschwäche und andere neurologische Defizite können auftreten.

Material und Methoden: Case Report eines 4,08 Jahre alten Mädchens mit Wolf-Hirschhorn-Syndrom und gesicherter Progredienz einer sensorineuralen Schwerhörigkeit.

Ergebnisse: Die Patientin mit einer gesicherten unbalancierten Translokation am kurzen Arm des Chromosoms 4 mit Verlust 4p16 und Zugewinn von bisher nicht identifizierten Chromosomenmaterials wurde 2015 erstmals vorgestellt. Sie zeigte die typischen Gesichtsdysmorphien, eine Wachstumsverzögerung, eine motorische Entwicklungsverzögerung und eine schwerstgradige Sprachentwicklungsstörung sowie eine Mikrocephalie und eine Epilepsie. Nach unauffälligem Neugeborenen-Hörscreening zeigte sich 2015 eine geringgradige sensorineurale Schwerhörigkeit rechts und eine Normakusis links. 2018 erfolgte bei anamnestisch schlechtem Richtungshören eine erneute Hördiagnostik. Die subjektive und objektive Hördiagnostik ergab eine ab Taubheit grenzender Schwerhörigkeit rechts und eine geringgradige Schwerhörigkeit links. Somit zeigte sich eine rechtsbetonte Hörverschlechterung. Es erfolgte der Versuch einer Hörgeräteanpassung rechts. Ein CT-Felsenbein und ein MRT-Kleinhirnbrückenwinkel waren unauffällig.

Diskussion: In der Literatur werden die Kardinalsyndrome des Wolf-Hirschhorn-Syndroms stets detailliert beschrieben. Obwohl Hörstörungen in 50–60% der Fälle auftreten, werden sie oft nur am Rande erwähnt. Es sind sowohl Schallleitungsschwerhörigkeiten als auch Schallempfindungsschwerhörigkeiten unterschiedlicher Ausprägung beschrieben. Die sensorineuralen Hörstörungen sind nach Versuchen an knock-out Mäusen am ehesten auf Defekte im WHSC-1 Gen zurückzuführen. Im geschilderten Fall besteht eine rechtsbetonte Progredienz der sensorineuralen Schwerhörigkeit.

Fazit: Eine Hördiagnostik bei Wolf-Hirschhorn-Syndrom ist wichtig und sollte regelmäßig erfolgen um ggf. eine adäquate Hörgeräteversorgung einzuleiten.


Text

Hintergrund

Beim Wolf-Hirschhorn-Syndrom handelt es sich um eine syndromale Erkrankung, die auf einer Deletion des kurzen Arms des Chromosoms 4 (4p16.3) beruht. Die Erstbeschreibung erfolgte 1961 durch Hirschhorn und Cooper [1]. Die Häufigkeit der Erkrankung liegt bei 1/20.000 bis 1/500.000 Geburten [2], [3], wobei das weibliche Geschlecht häufiger betroffen ist [4]. Meist handelt es sich um eine Neumutation [5]. Zu den Kardinalsymptomen gehören der typische Phänotyp „Gesicht wie ein griechischer Kriegshelm“, eine intrauterine und postpartale Wachstumsverzögerung, eine verzögerte psychomotorische Entwicklung und Epilepsie [2], [3], [4]. Desweiteren können visuelle Probleme, Hörprobleme, genitourinale Fehlbildungen, kardiologische Probleme, Zahnprobleme und eine Abwehrschwäche sowie andere neurologische Defizite auftreten [2], [4]. Auch die Sprachentwicklung, vor allem die expressive Sprachentwicklung, ist meist stark eingeschränkt [4]. Während sich in der Literatur präzise Angaben zu den Kardinalsymptomen finden, ist das Auftreten von Hörstörungen meist nur am Rande erwähnt.

Material und Methoden

Case Report eines 4,08 Jahre alten Mädchens mit Wolf-Hirschhorn-Syndrom und gesicherter Progredienz einer sensorineuralen Schwerhörigkeit. 2015 und 2018 wurde eine ausführliche pädaudiologische Diagnostik mit entwicklungsgerechter subjektiver Audiometrie und BERA, sowie 2018 eine Überprüfung der Sprachentwicklung durchgeführt.

Ergebnisse

Die Patientin mit einer gesicherten unbalancierten Translokation am kurzen Arm des Chromosoms 4 mit Verlust 4p16 und Zugewinn eines bisher nicht identifizierten Chromosomenmaterials wurde uns 2015 erstmals vorgestellt. Das Mädchen war in der 36. SSW per Sectio entbunden worden (Geburtsgewicht 1990g, Größe 44 cm). Sie zeigte die typischen Gesichtsdysmorphien sowie eine motorische Entwicklungsverzögerung und einen nahezu ausbleibenden expressiven Spracherwerb. Es zeigten sich eine Mikrocephalie sowie eine bekannte Epilepsie. Nach unauffälligem Neugeborenen-Hörscreening bds. erfolgte 2015 bei anamnestisch schlechtem Richtungshören eine Hördiagnostik in domo, die den Verdacht auf eine Schwerhörigkeit rechts ergab. Die Freifeldreaktionen lagen zwischen 40–55 dB. In der Klick-BERA ergab sich eine Schwelle rechts von 35 dB nHL und links von 10 dB nHL. In der frequenzspezifischen Notched-Noise-BERA waren bei 0,5/1/2/4 kHz rechts bis 40/30/25/35 dB und links bis 30/10/15/10 dB akustisch evozierte Potentiale mit Welle V ableitbar. Bei geringgradiger sensorineuraler Schwerhörigkeit rechts und Normakusis links wurde auf eine einseitige Hörgeräteversorgung zunächst verzichtet und eine ambulante Kontrolle in 6 Monaten empfohlen.

Eine ambulante Wiedervorstellung erfolgte jedoch erst 2017, der sich 2018 eine stationäre Hördiagnostik anschloss. Anamnestisch hatte die Patientin Probleme Geräuschquellen zu lokalisieren. Die expressive Sprachentwicklung war mit maximal 3-Wortäußerungen, trotz anamnestisch gutem Sprachverstehen auf Deutsch und Spanisch, stark eingeschränkt. Die 4-Jährige besucht einen integrativen Kindergarten und erhält jeweils einmal wöchentlich Logopädie und Hör-Frühförderung. Die Epilepsie wird mit Levetiracetam 2,0-0-2,5 ml behandelt. Bisher habe sie zwei Krampfanfälle im Rahmen von fieberhaften Infekten gehabt. Zudem ist bei Kurzsichtigkeit eine Brillenversorgung geplant.

Inspektorisch fielen die typische Gesichtsdysmorphie und eine diskrete Faltungsanomalie beider Ohrmuscheln bei unauffälligen Trommelfellbefunden auf. Die Tympanogramme waren bds. gipfig. Im Freifeld machte die Patientin eigene Angaben zwischen 30–50 dB. In der seitengetrennten Sprachaudiometrie über Einsteckhörer wurde bei 65/80 dB rechts ein Sprachverstehen von 0/0% und links bei 55/65 dB von 90/80% erreicht, so dass eine Progredienz vermutet wurde. In der daraufhin durchgeführten Klick-BERA zeigte sich rechts ein sicherer Potentialnachweis bei 70 dB und links bei 20 dB. In der Toneburst-BERA war bei 1/2/4 kHz rechts ein sicherer Potentialnachweis JV bei 80/75/75 dB und links bei 25/30/35 dB. Die TEOAE waren bds. nicht reproduzierbar ableitbar. Somit zeigte sich vor allem rechts eine deutliche Hörverschlechterung im Vergleich zu 2015.

Bei an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit rechts und geringgradiger Schwerhörigkeit links erfolgte der Versuch einer Hörgeräteanpassung rechts. Zusätzlich wurde in Hinblick auf eine Ursachenabklärung und eine mögliche Cochlea-Implantatversorgung rechts eine Bildgebung mittels CT-Felsenbein und MRT-Kleinhirnbrückenwinkel veranlasst. Bis auf einzelne flüssigkeitsverlegte Mastoidzellen rechts ergab die Schädel-MRT einen Normalbefund. Auch das CT-Felsenbein zeigte, bis auf eine fehlende Anlage der Stirnhöhle, einen Normalbefund bds. Die logopädische Testung ergab ein massiv eingeschränktes Sprachverstehen mit einem Rohwert 1 im TROG-D, schwerstgradige syntaktisch-morphologische Defizite und eine schwerstgradige phonetisch-phonologische Störung.

Diskussion

In der Literatur sind stets die Kardinalsyndrome des Wolf-Hirschhorn-Syndroms wie das charakteristische Aussehen, die intrauterine und postpartale Wachstumsverzögerung, die psychomotorische Entwicklungsverzögerung sowie die Epilepsie detailliert beschrieben [4]. In manchen Publikationen fehlt der Hinweis auf mögliche Seh- und Hörstörungen. Hörstörungen treten jedoch in 40–60% der Fälle auf [2], [4], wobei es sich meist um Schallleitungsschwerhörigkeiten handelt [2]. 15% der Patienten mit Wolf-Hirschhorn-Syndrom sind von einer sensorineuralen Schwerhörigkeit betroffen [5], [2]. Von der Deletion am kurzen Arm des Chromosoms 4 sind in der Regel WHSCR-1 und WHSCR-2 als zwei überlappende kritische Genregionen betroffen. Das in beiden Regionen vorkommende Gen WHSC-1 Gen konnte in bisher allen bekannten Fällen von Wolf-Hirschhorn-Syndrom nachgewiesen werden [3]. Ahmed et al. konnten 2015 an knock-out Mäusen zeigen, dass das WHSC-1 Gen neben kraniofacialen Dysmorphien zu charakteristischen Haarzelldefekten führt [5]. Homozygot WHSC-1 negative Mäuse zeigten eine andere Anordnung der Haarzellen in insgesamt 6 Reihen mit zusätzlichen Haarzellen in Basis und Apex der Cochlea sowie eine abnormale Form, Länge und Orientierung oder ein teilweises Fehlen der Kino- und Stereozilien [5]. In der WHSCR-2 Region befindet sich das Gen FGFR3, was nach Ausschaltung bei Mäusen zu tauben Tieren führt. Es ist wahrscheinlich, dass die Deletion von WHSC-1 und FGFR3 bei großen Deletionen zu einem ausgeprägten sensorineuralen Hörverlust führen [5].

Zur Ausprägung und Progredienz der Schwerhörigkeit bei Wolf-Hirschhorn-Syndrom finden sich in der Literatur kaum Daten. Bei Diagnosestellung wird ein audiologisches Screening, falls nötig mit BERA empfohlen.

Fazit

Im geschilderten Fall besteht eine ausgeprägte sensorineurale Schwerhörigkeit mit vor allem einseitig deutlicher Progredienz. Regelmäßige pädaudiologische Hörkontrollen sind somit bei Wolf-Hirschhorn-Syndrom auch nach unauffälligem Neugeborenenhörscreening indiziert, um ggf. auftretende Hörverschlechterungen diagnostizieren und adäquat versorgen zu können. Publikationen zu Hörstörungen bei diesem Syndrom und deren Verlauf sind deshalb wünschenswert, um die Versorgungsqualität dieser Patienten zu verbessern.


Literatur

1.
Cooper H, Hirschhorn K. Apparent deletion of short arms of one chromosome (4 or 5) in a child with defects of midline fusion. Mamm Chrom Nwsl. 1961;4:14.
2.
Battaglia A, Filippi T, Carey JC. Update on the Clinical Features and Natural History of Wolf-Hirschhorn (4p-) Syndrome: Experience with 87 patients and Recommendations for Routine Health Supervision. American Journal of Medical Genetics Part C. 2008;148:246-51.
3.
Bergemann AD, Cole F, Hirschhorn K. The etiology of Wolf-Hirschhorn syndrome. Trends in Genetics. 2005;21(3):188-95.
4.
Blanco-Lago R, Málaga-Díeguez I, Granizo-Martinéz JJ, Carrera-García L, Barruz-Galián P, Lapuzina P, Nevado-Blanco J. Síndrome de Wolf-Hirschhorn. Descriptión de una cohorte espanola de 51 casos y revisión de la bibliografía. Rev Neurol. 2017;64(9):393-400.
5.
Ahmed M, Ura K, Streit A. Auditory hair cell defects as potential cause for sensorineural deafness in Wolf-Hirschhorn syndrome. Disease Models & Mechanisms. 2015;8:1027-35.