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4. Dreiländertagung D-A-CH
35. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

20.09. - 23.09.2018, Innsbruck, Österreich

Diskriminanzanalytische Bestimmung von Variablen zur Klassifikation von Regelgrundschülern mit bzw. ohne AVWS

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Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. Sektion Phoniatrie der Österreichischen Gesellschaft für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde, Kopf- und Halschirurgie. Schweizerische Gesellschaft für Phoniatrie. 4. Dreiländertagung D-A-CH, 35. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Innsbruck, Österreich, 20.-23.09.2018. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2018. DocP13

doi: 10.3205/18dgpp40, urn:nbn:de:0183-18dgpp402

Veröffentlicht: 14. September 2018

© 2018 Nickisch et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Die Diagnose „Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung“ (AVWS) wird im Schulalter gestellt, weil eine nicht intakte Hörverarbeitung im Schulunterricht eher bemerkt wird als in der Spielsituation des Nicht-Schulkindes.

Material und Methoden: In drei empirischen Studien [1], [2], [3] wurden diskriminanzanalytisch diejenigen Testverfahren bestimmt, die in der Regelschule Erst-, Zweit-, Dritt- und Viertklässler mit AVWS von solchen ohne AVWS zu unterscheiden erlauben. In einer synoptischen Übersicht präsentieren wir nun die Testvariablen, die innerhalb der statistischen Modelle über die gesamte Grundschulzeit eine Trennfunktion hatten.

Ergebnisse: Tendenziell lässt sich ein Muster erkennen. So werden bereits im ersten Schuljahr zwei, die Diagnose „AVWS“ bestimmende Variablen sichtbar, die während der gesamten Grundschulzeit nachweisbar bleiben: das reduzierte Kurzzeitgedächtnis für sinnleere Silbenfolgen und das beeinträchtigte Wortverstehen im Störgeräusch. Zudem werden zusätzlich für die jeweils einzelnen Schuljahre bzw. Schuljahresgruppen weitere 1 bis 2 auditive Funktionsdefizite deutlich, die möglicherweise stärker von individuellem Belang sind wie z.B. die Phonemdiskrimination oder das dichotische Wortverstehen.

Diskussion: Vorrangig ist bei Regelgrundschülern wohl davon auszugehen, dass ihr beeinträchtigtes Wortverstehen im Störgeräusch auch das unmittelbare serielle Behalten erschwert, da Sprachsignale erst einmal auf dem Hintergrund lexikalisch-semantischen Wissens gespeichert werden müssen, um sie erkennen zu können. Diesbezügliche Beeinträchtigungen sind für komplexe akustische Situationen wie beim Unterricht in einem Klassenraum ein großes Lernhemmnis.

Fazit: Das Hören im Störgeräusch sowie auch das Kurzzeitgedächtnis für sinnleere Silbenfolgen ermöglichen in Kombination mit jeweils 1–2 weiteren Verfahren im Grundschulalter eine Trennung von Kindern mit AVWS gegenüber Kindern ohne AVWS.


Text

Einleitung

Phonologische Informationsverarbeitung ist für die erfolgreiche Teilnahme am Unterricht in der Grundschule von hoher Bedeutung. Kinder mit Auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen (AVWS) haben hier häufig Probleme. In drei empirischen Studien [1], [2], [3] wurden diskriminanzanalytisch bereits die Testinstrumente bestimmt, die Regelschüler (Erst-, Zweit-, Dritt- und Viertklässler) mit AVWS von solchen ohne AVWS zu unterscheiden erlauben, was im Einzelfall, bei Verdacht auf eine beeinträchtigte auditive Verarbeitung und Wahrnehmung, Anlass zu einer ausführlichen AVWS-Diagnostik sein kann und ggf. Behandlung erforderlich macht.

Im kontrollierten Gruppenvergleich wurden Erstklässler mit AVWS (n=40; mittl. Alter: 6,9, SD 0,5 Jahre) von unauffälligen Regelschulkindern (n=37; mittl. Alter: 6,9, SD 0,5 Jahre) der gleichen Schuljahrgangsstufe in 94,8% aller Fälle (kreuzvalidiert: in 92,2%) statistisch signifikant durch folgende vier Testvariablen getrennt:

1.
Zahlenfolgen-Gedächtnis (aus dem Psycholinguistischen Entwicklungstest, PET);
2.
Phonemdifferenzierung (aus dem Heidelberger Lautdifferenzierungstest, HLAD);
3.
Kurzzeitgedächtnis für sinnleere Silbenfolgen (Mottier-Test);
4.
Wortverstehen im Störgeräusch (Göttinger Sprachaudiometrie im Freifeld) [3].

An Zweitklässlern wurde eine diagnostische Trennung der klinischen Gruppe (n=33; mittl. Lebensalter: 7,8, SD 0,7 Jahre) von unauffälligen Kindern (n=48; mittl. Lebensalter: 7,6, SD 0,5 Jahre) in 97,5% aller Fälle (96,3% nach Kreuzvalidierung), also mit einer sehr kleinen Fehlerwahrscheinlichkeit, nachgewiesen durch:

1.
Kurzzeitgedächtnis für sinnleere Silbenfolgen (Mottier-Test);
2.
Wortverstehen im Störgeräusch (Göttinger Sprachaudiometrie im Freifeld);
3.
dichotisches Wortpaarverstehen (Uttenweiler Test);
4.
PET-Zahlenfolgen-Gedächtnis) [2].

Dritt- und Viertklässler mit AVWS (n=46; mittl. Lebensalter: 9,2, SD 0,7 Jahre) wurden von unauffälligen Regelschulkindern (n=39; mittl. Lebensalter: 9,3, SD 0,7 Jahre) in 94,1% der Fälle (kreuzvalidiert: in 90,6%) signifikant getrennt durch:

1.
Kurzzeitgedächtnis für sinnleere Silbenfolgen (Mottier-Test);
2.
Sprachverstehen im Störgeräusch (Göttinger Sprachaudiometrie im Freifeld);
3.
HLAD-Phonemdifferenzierung [1].

Methode

Im Rahmen der Erstdiagnostik waren bei Kindern mit diagnostizierter AVWS schuljahresabhängig zwischen 8 bis 12 pädaudiometrische und psychometrische Untersuchungsinstrumente einer eklektischen AVWS-Testbatterie durchgeführt worden, deren Ergebnisse die Diagnose „AVWS“ vs. unauffällige Regelschüler „Non-AVWS“ ermöglichte. In einer synoptischen Übersicht stellen wir nun die Testvariablen dar, die innerhalb der statistischen Modelle über die gesamte Regelgrundschulzeit eine Trennfunktion hatten.

Ergebnisse

Bereits im ersten Grundschuljahr wurden zwei, die Diagnose „AVWS“ bestimmende Leistungen sichtbar, die während der gesamten Grundschulzeit nachweisbar blieben. Das waren das:

1.
reduzierte Kurzzeitgedächtnis für sinnleere Silbenfolgen, welches – im Gegensatz zur Gedächtnisspanne für Zahlen – die Verarbeitungsgenauigkeit des phonologischen Speichers spiegelt und
2.
beeinträchtigte Wortverstehen im Störgeräusch.

Zudem wurden zusätzlich für die jeweils einzelnen Schuljahre bzw. Schuljahresgruppen weitere ein bis zwei auditive Funktionsdefizite deutlich, die möglicherweise stärker von individuellem Belang waren wie die Phonemdifferenzierung oder das dichotische Wortpaarverstehen.

Diskussion

Vorrangig ist bei Regelgrundschülern wohl davon auszugehen, dass ihr beeinträchtigtes Wortverstehen im Störgeräusch auch ihr unmittelbares phonologisch-serielles Behalten erschwert (siehe auch [4]), da Sprachsignale erst einmal auf dem Hintergrund lexikalisch-semantischen Wissens gespeichert werden müssen, um sie erkennen zu können. Je besser sie verstanden werden, desto größer ist die Chance, Laute und Lautstrukturen weiter zu verarbeiten. Diesbezügliche Beeinträchtigungen sind für komplexe akustische Situationen wie beim Schulunterricht in einem Klassenraum ein großes Lernhemmnis.

Tabelle 1 [Tab. 1]


Literatur

1.
Nickisch A, Kiese-Himmel C. Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsleistungen 8- bis 10-Jähriger: Welche Tests trennen auffällige von unauffälligen Kindern? Laryngo-Rhino-Otologie. 2009;88:469-76.
2.
Nickisch A, Gohde K, Kiese-Himmel C. AVWS bei Regelschülern im 2. Schuljahr. Welche Tests trennen auffällige von unauffälligen Kindern? Laryngo-Rhino-Otologie. 2013;92:594-599.
3.
Nickisch A, Werner F, Kiese-Himmel C. Diagnostik von AVWS bei Erstklässlern: Welche Tests trennen auffällige von unauffälligen Kindern? Laryngo-Rhino-Otologie. 2018 Feb 15. DOI: 10.1055/s-0044-101836 Externer Link
4.
Osman H, Sullivan JR. Children’s Auditory Working Memory performance in degraded listening conditions. J Speech Language Hearing Res. 2014;57:1503-11