gms | German Medical Science

4. Dreiländertagung D-A-CH
35. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

20.09. - 23.09.2018, Innsbruck, Österreich

Korrelation des Sprachstandes vier- und fünfjähriger Vorschulkinder mit ihren Hausnummern: Soziolinguistische Hintergründe eines ungewöhnlichen Befunds

Vortrag

Suche in Medline nach

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. Sektion Phoniatrie der Österreichischen Gesellschaft für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde, Kopf- und Halschirurgie. Schweizerische Gesellschaft für Phoniatrie. 4. Dreiländertagung D-A-CH, 35. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Innsbruck, Österreich, 20.-23.09.2018. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2018. DocP4

doi: 10.3205/18dgpp35, urn:nbn:de:0183-18dgpp355

Veröffentlicht: 14. September 2018

© 2018 Zaretsky et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Die Verteilung des Sprachstandes von Vorschulkindern ist geographisch ungleichmäßig. Ebenso verhält es sich mit der Verteilung soziolinguistischer bzw. -demographischer Merkmale der Kinder und ihrer Familien, z.B. Soziabilität der Kinder, Einkommen, Verfügbarkeit von Kinderärzten.

Ziel der Studie war die retrospektive Überprüfung von Merkmalen der Kinder, ihrer Familien bzw. Stadtteile in Frankfurt/Main hinsichtlich ihres möglichen Beitrages zur Korrelation des Sprachstands im Deutschen mit den Hausnummern des Wohnortes der getesteten Kinder.

Material und Methoden: Eine Stichprobe von 4–5jährigen Kindern (N=1053; 55% männlich, Altersmedian 4;3 Jahre; 41% monolingual Deutsch, 56% Migrantenkinder, 3% unbekannt) wurde mit dem „Kindersprachscreening“ (KiSS) untersucht. Eltern und Kindergarten-ErzieherInnen füllten die KiSS-Fragebögen aus. Mit Spearman-Korrelationen und Mann-Whitney U-Tests wurden Zusammenhänge zwischen (a) Hausnummern, (b) Sprachstand der Kinder im Deutschen und (c) 182 soziolinguistischen bzw. -demographischen Merkmalen der Kinder, ihrer Familien und Stadtteile geprüft.

Ergebnisse: Die Korrelation zwischen Sprachtest-Gesamtscore und Hausnummern lag bei rs=-0,1, p=0,011. Es bestand eine Assoziation zwischen hohen Hausnummern und erhöhtem Anteil von Kindern mit türkischem und arabischem Migrationshintergrund, die beide zu den sprachlich schwächsten Untergruppen der Migrantenkinder zählten. Ansonsten lagen keine Korrelationen mit Merkmalen der Kinder und ihrer Familien vor. Allerdings waren höhere Hausnummern mit mehreren Merkmalen der Frankfurter Stadtteile assoziiert, z.B. häufigerer Empfang der Grundsicherung im Alter, weniger Kindergärten.

Diskussion: Höhere Hausnummern korrelierten mit schwächeren Deutschkenntnissen. Dies lässt sich v.a. dadurch erklären, dass die sprachlich schwächsten Untergruppen der Migrantenkinder, Türken und Araber, häufiger in sehr langen Straßen wohnten. Alle statistischen Koeffizienten erwiesen sich als niedrig, was auf eine Vielzahl von Ausnahmen hindeutet. Korrelationen mit den Merkmalen der Frankfurter Stadtteile lassen vermuten, dass das Einkommen der entsprechenden Familien relativ niedrig und der Zugang zu Bildungseinrichtungen wie auch zum hochwertigen Sprachinput eingeschränkt waren.

Fazit: Ein eingeschränkter Sprachstand im Deutschen der Vorschulkinder, die Straßen mit hohen Hausnummern bewohnen, lässt sich durch ungünstige soziolinguistische bzw. -demographische Bedingungen des Spracherwerbs erklären, z.B. Migrationshintergrund und niedriges Einkommen.


Text

Hintergrund

Die Verteilung des Sprachstandes von Vorschulkindern ist geographisch ungleichmäßig (Zaretsky & Lange [1], [2]). Ebenso verhält es sich mit der Verteilung soziolinguistischer bzw. -demographischer Merkmale der Kinder und ihrer Familien, z.B. mit der Soziabilität der Kinder und dem Einkommen der Familien.

Ziel dieser Studie war die retrospektive Überprüfung von Merkmalen der Kinder, ihrer Familien bzw. Stadtteile in Frankfurt/Main hinsichtlich ihres möglichen Beitrages zur Korrelation des Sprachstands im Deutschen mit den Hausnummern des Wohnortes der getesteten Kinder.

Material und Methoden

Eine Stichprobe von 4–5jährigen Kindern (N = 1053; 55% männlich, 45% weiblich; Altersmedian 4;3 Jahre; 41% monolingual Deutsch, 56% Migrantenkinder, 3% unbekannt) wurde mit dem „Kindersprachscreening“ (KiSS; Euler et al. [3]) untersucht, das Untertests zum Sprachverständnis, Wortschatz, phonologischen Kurzzeitgedächtnis (Nachsprechen der Sätze und Kunstwörter) sowie zur Aussprache und Grammatik enthält.

Eltern und Kindergarten-ErzieherInnen füllten die KiSS-Fragebögen aus. Diese enthielten Items zur Qualität und Quantität des deutschen Sprachinputs, sprachbezogenen medizinischen Auffälligkeiten des Kindes und seiner Verwandten sowie zur Soziabilität des Kindes. Soziodemographische Angaben zu den Merkmalen der Frankfurter Stadtteile wurden der Internetseite der Stadt Frankfurt (https://www.frankfurt.de/) entnommen.

Mit Spearman-Korrelationen und Mann-Whitney U-Tests wurden Zusammenhänge zwischen (a) Hausnummern, (b) Sprachstand der Kinder im Deutschen und (c) 182 soziolinguistischen bzw. -demographischen Merkmalen der Kinder, ihrer Familien und Stadtteile geprüft.

Ergebnisse

Die Korrelation zwischen dem KiSS-Gesamtscore und Hausnummern lag bei rs = -0,1, p = 0,011. Es ließen sich allerdings keine signifikanten Zusammenhänge zwischen Hausnummern und soziolinguistischen bzw. -demographischen Merkmalen der Kinder und ihrer Familien identifizieren, bis auf den Migrationshintergrund. Kinder mit türkischem (Z = -2,39, p = 0,017, M = 74,6 vs. 47,6) und arabischem (Z = -2,48, p = 0,013, M = 56,5 vs. 47,6) Migrationshintergrund wohnten tendenziell in den Häusern mit höheren Hausnummern als deutsche Kinder. Beide genannten Untergruppen der türkisch (Z = -3,83, p < 0,001, M = 24,9 vs. 31,9) bzw. arabisch muttersprachlichen Kinder (Z = -2,03, p = 0,043, M = 26,7 vs. 31,1) erzielten im KiSS-Gesamtscore signifikant niedrigere Mittelwerte als alle anderen Migrantenkinder zusammengenommen. Zwischen den Hausnummern aller Migrantenkinder und denen der deutschen Kinder bestand dagegen kein signifikanter Unterschied.

Höhere Hausnummern waren mit folgenden Merkmalen der Frankfurter Stadtteile assoziiert:

  • mehr Empfänger der Grundsicherung im Alter: rs = 0,1, p = 0,024,
  • mehr Kinder mit Migrationshintergrund bis Alter von fünf Jahren: rs = 0,1, p = 0,033,
  • mehr Einwanderer aus Ost-Europa: Bosnien und Herzegowina (rs = 0,1, p = 0,013), Kroatien (rs = 0,1, p = 0,018), Polen (rs = 0,1, p = 0,022) und Serbien (rs = 0,1, p = 0,044),
  • weniger Kindergärten: rs = -0,1, p < 0,001,
  • weniger Grundschulen: rs = -0,1, p = 0,012,
  • weniger private Fahrzeuge (PKW): rs = -0,1, p = 0,001.

Diskussion

Höhere Hausnummern der vier- und fünfjährigen Frankfurter Kinder korrelierten mit schwächeren Deutschkenntnissen, gemessen am Gesamtscore der richtigen Antworten im validierten, normierten Sprachscreening KiSS.2. Dieser Zusammenhang lässt sich v. a. dadurch erklären, dass die sprachlich schwächsten Untergruppen der Migrantenkinder, Türken und Araber (vgl. Zaretsky & Lange [4]), häufiger in sehr langen Straßen – wie einem der Frankfurter sozialen Brennpunkte Mainzer Landstraße – wohnten und geographisch von den deutschen Muttersprachlern getrennt waren.

Alle statistisch signifikanten Koeffizienten gelten als schwach bis sehr schwach, was auf eine Vielzahl von Ausnahmen hindeutet. Die meisten Ergebnisse – darunter Assoziationen zwischen Hausnummern und sämtlichen in den Kindersprachscreening-Fragebögen erfassten Variablen zu soziolinguistischen bzw. -demographischen Merkmalen der Kinder und ihrer Familien – erwiesen sich, abgesehen vom Migrationshintergrund, als nicht statistisch signifikant.

Die Korrelationen der Hausnummern mit den Merkmalen der Frankfurter Stadtteile lassen vermuten, dass das Einkommen der entsprechenden Familien relativ niedrig und der Zugang zu Bildungseinrichtungen, wie auch zum hochwertigen Sprachinput, eingeschränkt waren.

Fazit

Ein eingeschränkter Sprachstand im Deutschen der Vorschulkinder, die Straßen mit hohen Hausnummern bewohnen, lässt sich durch ungünstige soziolinguistische bzw. -demographische Bedingungen des Spracherwerbs erklären, z.B. Migrationshintergrund und niedriges Einkommen.


Literatur

1.
Zaretsky E, Lange BP. The geography of language skills and language(-related) disorders: A case of Frankfurt/Main. In: Grucza S, Olpińska-Szkiełko M, Romanowski P, editors. Advances in Understanding Multilingualism: A Global Perspective. Frankfurt/Main: Peter Lang Verlag; 2016. p. 181-97.
2.
Zaretsky E, Lange BP. Geolinguistics of language competence: A case of Frankfurt am Main, Germany. In: Lucrările celui de-al șaselea Simpozion Internațional de Lingvistică, București, 29-30 mai 2015, Section Dialectologie. Geolingvistică. Onomastică. Fonetică. București: Editura Univers Enciclopedic Gold; 2017. p. 176-87.
3.
Euler HA, Holler-Zittlau I, van Minnen S, Sick U, Dux W, Zaretsky Y, Neumann K. Psychometrische Gütekriterien eines Kurztests zur Erfassung des Sprachstandes vierjähriger Kinder. HNO. 2010;58(11):1116-23.
4.
Zaretsky E, Lange BP. Ob Italienisch Deutsch fördert: Warum Italienisch sprechende Kinder schneller Deutsch erwerben als einige andere Migrantengruppen in Deutschland. Dutch Journal of Applied Linguistics. 2015;4(1):122-40.