Artikel
Die AWMF-S3-Leitlinien zur Pathogenese, Diagnostik und Behandlung von Redeflussstörungen
Suche in Medline nach
Autoren
Veröffentlicht: | 30. August 2017 |
---|
Gliederung
Zusammenfassung
Hintergrund: Zur zeitgemäßen Identifikation, Diagnose und Behandlung von Redeflussstörungen wurde von 17 Fachgesellschaften eine evidenzbasiert Leitlinie zum Stottern und Poltern erarbeitet und als S3-Leitlinie bei der AWMF veröffentlicht [1].
Material und Methoden: Die Leitlinie unterscheidet sie zwischen originärem (neurogenem nichtsyndromalen und neurogenem syndromalen) und erworbenem (neurogenen und psychogenem) Stottern. Sie beinhaltet einen systematischen Review zur effektiven Behandlung von Stottern, basierend auf einer Literatursuche in den Datenbanken Web of Science, PubMed, PubPsych und Cochrane Library.
Ergebnisse: Für das Kindergartenalter zeigte die Lidcombe-Therapie die höchste Evidenz für ihre Effektivität. Eine starke Evidenz fand sich auch für indirekte Verfahren (an die Kapazitäten des Kindes adaptierte elterliche Kommunikationsanforderungen). Für 6- bis 12-Jährige fand sich bislang keine solide Evidenz für irgendeine Behandlung. Für Jugendliche und Erwachsene gab es eine hohe Evidenz für sprechrestrukturierende Methoden (z. B. Fluency Shaping) und schwache Evidenzen für Stottermodifikation sowie für eine Kombination von Sprechrestrukturierung und Stottermodifikation. Negative Evidenz wurde medikamentösen Behandlungen bescheinigt. Für folgende Methoden fanden sich keine ausreichenden Evidenzen: systematische Änderung der Äußerungslänge, rhythmische Sprache, kontrollierte Atmung, Hypnose, Acceptance and Commitment Therapie, Speech Motor Training und unspezifizierte extensive logopädische Therapie.
Diskussion: Jede Behandlung sollte einen Nutzen innerhalb von 3 Monaten zeigen, andernfalls ist ein Behandlungswechsel angezeigt. Die alleinige Anwendung von Sprechtechniken kann stotterbegleitende negative Emotionen nicht beseitigen; daher wird empfohlen, Methoden der kognitiven Verhaltenstherapie hier zu integrieren.
Fazit: Die Leitlinie beleuchtet die pathophysiologischen genetischen und neurologischen Grundlagen und Definition von Stottern und Poltern neu und listet empfohlene Screening- und Diagnostikinstrumente sowie effektive Therapieprinzipien auf.
Text
Hintergrund
Etwa 1% aller Kinder und Jugendlichen sowie circa 0,2% Frauen und 0,8% Männer an Stottern (ICD 10: F98.5). Prävalenzangaben für Poltern (ICD 10: F98.6) liegen darunter, sind aber ungenau beziffert. Für einen erheblichen Teil dieser Redeflussstörungen besteht Behandlungsbedarf. Zur zeitgemäßen Identifikation, Diagnose und Behandlung von Redeflussstörungen wurde von 17 in Deutschland damit maßgeblich befassten Fachgesellschaften eine evidenzbasiert Leitlinie zum Stottern und Poltern erarbeitet und als S3-Leitlinie bei der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) sowie im Deutschen Ärzteblatt in deutscher und englischsprachiger Version und in Buchform veröffentlicht [1], [2], [3]. Sie öffnet einen neuen Blick auf die pathophysiologischen genetischen und neurologischen Grundlagen und Definition von Stottern und Poltern und listet empfohlene Screening- und Diagnostikinstrumente sowie effektive Therapieprinzipien auf.
Die Leitlinie unterscheidet sie zwischen originärem (neurogenem, nicht-syndromalen und neurogenem syndromalen) und erworbenem (neurogenen und psychogenem) Stottern. Da das bislang als „idiopathisches Stottern“ benannte „gewöhnliche“ Stottern mit strukturellen und funktionellen Hirnveränderungen einhergeht, wird empfohlen, diesen Terminus durch „originäres neurogenes nichtsyndromales Stottern“, kurz „originäres Stottern“ zu ersetzen. Seine Erblichkeit liegt bei 70 bis >80%.
Material und Methoden
Die Leitlinie unterscheidet sie zwischen originärem (neurogenem nichtsyndromalen und neurogenem syndromalen) und erworbenem (neurogenen und psychogenem) Stottern. Sie beinhaltet einen systematischen Review zur effektiven Behandlung von Stottern basierend auf einer Literatursuche in den Datenbanken Web of Science, PubMed, PubPsych und Cochrane Library durch drei unabhängig voneinander arbeitende Teams. 43 Publikationen erfüllten die definierten methodologischen Kriterien.
Ergebnisse
Abbildung 1 [Abb. 1] zeigt einen Algorithmus zur Identifikation, Diagnostik und Therapie zu Diagnostik und Therapie kindlichen Stotterns.
Für das Kindergartenalter zeigte die Lidcombe-Therapie die höchste Evidenz für ihre Effektivität (Cohens d = 0,72–1,00). Eine starke Evidenz fand sich auch für indirekte Verfahren (an die Kapazitäten des Kindes adaptierte elterliche Kommunikationsanforderungen). Für 6- bis 12-Jährige fand sich bislang keine solide Evidenz für irgendeine Behandlung. Für Jugendliche und Erwachsene gab es eine hohe Evidenz für sprechrestrukturierende Methoden (z. B. Fluency Shaping) (Cohens d = 0,75–1,63) und schwache Evidenzen für Stottermodifikation (Cohens d = 0,56–0,65) sowie für eine Kombination von Sprechrestrukturierung und Stottermodifikation. Negative Evidenz wurde medikamentösen Behandlungen bescheinigt. Für folgende Methoden fanden sich keine ausreichenden Evidenzen: rhythmische Sprache, kontrollierte Atmung, Hypnose und unspezifizierte extensive logopädische Therapie.
Diskussion
Jede Behandlung sollte einen Nutzen innerhalb von 3 Monaten zeigen, andernfalls ist ein Behandlungswechsel angezeigt. Die alleinige Anwendung von Sprechtechniken kann stotterbegleitende negative Emotionen nicht beseitigen; daher wird empfohlen, Methoden der kognitiven Verhaltenstherapie hier zu integrieren. Auch wenn sich keine ausreichende Evidenz für die Effekte einer Teilnahme an Selbsthilfegruppen fand, empfahl der klinische Konsensus eine solche, ebenso, wenn möglich, den Einschluss von Gruppensitzungen in die Behandlung und systematische Erhaltungsprogramme.
Fazit: Die Leitlinie beleuchtet die pathophysiologischen genetischen und neurologischen Grundlagen und Definition von Stottern und Poltern neu und empfiehlt Screening- und Diagnostikinstrumente sowie effektive Therapieprinzipien.
Literatur
- 1.
- Neumann K, Euler HA, Bosshardt HG, Cook S, Sandrieser P, Schneider P, Sommer M, Thum G.* (Hrsg.: Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie). Pathogenese, Diagnostik und Behandlung von Redeflussstörungen. Evidenz- und konsensbasierte S3-Leitlinie, AWMF-Registernummer 049-013, Version 1. 2016. Available from: http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/049-013.html. Gelesen am 13. 05. 2017. *im Auftrag der Leitliniengruppe
- 2.
- Neumann K, Euler HA, Bosshardt HG, Cook S, Sandrieser P, Sommer M. Pathogenese, Diagnostik und Behandlung von Redeflussstörungen [The Pathogenesis, Assessment and Treatment of Speech Fluency Disorders]. Dtsch Arztebl Int. 2017 Jun 5;114(22-23):383-90. DOI: 10.3238/arztebl.2017.0383
- 3.
- Neumann K, Euler HA, Bosshardt HG, Cook S, Sandrieser P, Schneider P, Sommer M, Thum G. Stottern und Poltern: Entstehung, Diagnose, Behandlung. Die Leitlinie zu Redeflussstörungen. Frankfurt am Main: Peter Lang; 2017.