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34. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)
Dreiländertagung D-A-CH

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Bern, 14.09. - 17.09.2017

Evaluierung des Neugeborenenhörscreenings in Tirol zwischen 2003 und 2012

Vortrag

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  • corresponding author presenting/speaker Franz Muigg - Universitätsklinik für Hör-, Stimm- und Sprachstörungen Innsbruck, Innsbruck, Österreich
  • author Fiona Lehle - Medizinische Universität Innsbruck, Innsbruck, Österreich
  • author Patrick Zorowka - Universitätsklinik für Hör-, Stimm- und Sprachstörungen Innsbruck, Innsbruck, Österreich
  • author Viktor Weichbold - Medizinische Universität Innsbruck, Innsbruck, Österreich

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 34. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP), Dreiländertagung D-A-CH. Bern, Schweiz, 14.-17.09.2017. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2017. DocV19

doi: 10.3205/17dgpp33, urn:nbn:de:0183-17dgpp330

Veröffentlicht: 30. August 2017

© 2017 Muigg et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Das Positionspapier 2000/2007 des US-amerikanischen Joint Committee on Infant Hearing (JCIH) legt für die Erfassung und Versorgung hörgestörter Neugeborener folgende Zielwerte fest: Hörscreening: bis Ende des 1. Lebensmonats (LM); Diagnose: bis Ende des 3. LM; Versorgung: bis Ende des 6. LM. Es wurde geprüft, ob diese Zielwerte im Bundesland Tirol im Zeitraum 2003–2012 erreicht werden konnten.

Material und Methoden: Die Patientendaten von 112 konnatal hörgestörten Kindern, die im genannten Zeitraum in Tirol geboren wurden, wurden im Hinblick auf die obigen Zielwerte analysiert.

Ergebnisse: Hörscreening: 87% der Kinder wurden im 1. LM gescreent. Bei den 13% mit späterem Screening waren vorwiegend perinatale Komplikationen die Ursache für die Verzögerung. – Diagnose: bei nur 25% der beidseitig hörgestörten Kinder mit auffälligem Screening wurde die Diagnose bis zum 3. LM gestellt. – Versorgung: Von den Kindern, die apparativ versorgt wurden, erfolgte bei nur 14% die Versorgung bis zum 6. LM. Häufige Ursachen für die Verzögerung der Diagnostik und der hörtechnischen Versorgung waren temporäre Schallleitungsstörungen bei den Kindern und eine mangelnde Compliance der Eltern.

Diskussion: Die JCIH-Richtlinien konnten in Tirol nur teilweise zufriedenstellend umgesetzt werden. Auch wenn ab dem Geburtenjahr 2007 ein deutlicher Trend zu einem jüngeren Diagnosealter und Versorgungsalter erkennbar ist, sind Verbesserungen im Ablauf des diagnostischen Prozesses (einschließlich Tracking) erforderlich. Andererseits sind auch die JCIH-Zielwerte hinsichtlich intensivpflichtiger Neugeborener zu hinterfragen.

Fazit: Für eine schnellere Annäherung an die oben genannten Zielwerte sollten neben einer Optimierung des Trackings ein flächendeckendes beidohriges Neugeborenenhörscreening, eine verbesserte Elternberatung sowie ein konsequenteres Vorgehen bei temporären Schallleitungsstörungen zeitnahe umgesetzt werden.


Text

Hintergrund

Das Positionspapier des US-amerikanischen Joint Committee on Infant Hearing (JCIH) aus den Jahren 2000 bzw. 2007 [1], [2] legt für die Erfassung und Versorgung hörgestörter Neugeborener folgende Zielwerte fest:

  • Neugeborenen-Hörscreening: bis Ende des 1. Lebensmonats.
  • Diagnose einer Hörstörung: bis Ende des 3. Lebensmonats.
  • Versorgung einer Hörstörung: bis Ende des 6. Lebensmonats.

Im österreichischen Bundesland Tirol ist das allgemeine Neugeborenenhörscreening seit 2003 flächendeckend eingeführt. Alle im Screening auffälligen Kinder werden an der HSS-Klinik in Innsbruck pädaudiologisch abgeklärt. Ziel dieser Studie war es, retrospektiv zu prüfen, ob dabei die oben genannten (o.g.) Zielwerte im Zeitraum 2003–2012 erreicht wurden.

Stichprobe und Methode

Die Patientendaten von 112 konnatal hörgestörten Kindern, die zwischen 2003 und 2012 in Tirol geboren wurden, wurden im Hinblick auf die o.g. Zielwerte analysiert. Die Daten wurden aus zwei Quellen entnommen:

a. Tirolweite Screeningdatenbank: Screeningzeitpunkte/Screeningergebnisse;
b. Patientenakten: Termine der Abklärung/audiometrische Messergebnisse/Gründe für Verzögerung der Abklärung bzw. Versorgung/Zeitpunkte der Diagnose und der Erstversorgung.

Ergebnisse

Screening

87% der Kinder wurden im ersten Lebensmonat, somit termingemäß, gescreent. Bei den 13% der Säuglinge mit späterem Screening waren perinatale Komplikationen bzw. eine notwendige intensivmedizinische Behandlung die häufigsten Ursachen für die Verzögerung. Der Median für das Alter der Säuglinge beim Screening liegt bei 3 Tagen, siehe Abbildung 1 [Abb. 1].

Durch das Hörscreening wurden 72% aller bilateral hörgestörten Kinder, die zwischen 2003 und 2012 in Tirol geboren wurden, erfasst. Die übrigen 28% der bilateral hörgestörten Kinder weisen Großteiles eine progrediente („late onset“) Hörstörung auf.

Diagnose

Bei nur 25% der beidseitig hörgestörten Kinder mit auffälligem Screening wurde die Diagnose der Hörstörung bis zum Ende des 3. Lebensmonats gestellt. Der Median des Alters bei Diagnosestellung liegt bei 9,5 Monaten. Allerdings zeigt sich, dass das Diagnosealter über den erfassten Zeitraum hinweg sinkt: liegt der Median in den frühen Jahren (2003 bis 2006) noch bei ca. 20 Monaten, so liegt er in den letzten Jahren bei ca. 5 Monaten. Ebenso zeigt sich, dass der Grad der Hörstörung das Diagnosealter beeinflusst: je höher der Grad der Hörstörung, desto früher das Diagnosealter.

Häufigste Ursachen für die Verzögerung der Diagnosestellung waren rezidivierende Mittelohrprobleme des Kindes und mangelnde Compliance der Eltern (nicht eingehaltene Kontrolltermine). Diese zusammen sind für über 50% der Fälle verantwortlich. Auch zu zögerliches Vorgehen beim Abklären einer Hörstörung (unsichere Diagnosekriterien) sorgte in Einzelfällen für eine verspätete Diagnose.

Versorgung

Nur 14% der bilateral hörgestörten Kinder mit Indikation für eine apparative Versorgung wurden bis zum sechsten Lebensmonat versorgt. Bei den übrigen 86% wurde die hörtechnische Versorgung, sofern indiziert, erst später realisiert. Der Median des Alters bei Erstversorgung liegt bei 35 Monaten. Doch zeigt sich hier eine ähnlich günstige Entwicklung wie beim Diagnosealter: das Erstversorgungsalter sinkt über den erfassten Zeitraum hinweg ab (siehe Abbildung 2 [Abb. 2]). Die aus den Daten ermittelte Regressionsgerade zeigt, dass das Erstversorgungsalter in den letzten Jahren im Mittel bei ca. 13 Monaten lag.

Diskussion

Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen, dass die Zielwerte des JCIH in Tirol im untersuchten Dezennium nur teilweise zufriedenstellend erreicht wurden. Insbesondere Diagnosestellung und Erstversorgung blieben hinter den zeitlichen Vorgaben zurück. Zwar ist in den letzten Jahren ein deutlicher Trend zu einem früheren Diagnose- und Versorgungsalter erkennbar, jedoch sind weitere Verbesserungen im Ablauf des diagnostischen Prozesses (verbesserte Elternberatung, konsequenteres Vorgehen bei temporären Schallleitungsstörungen, optimiertes Tracking) und in der Versorgungseinleitung erforderlich. Andererseits sind auch die Zielwerte des JCIH daraufhin zu hinterfragen, ob sie für bestimmte Gruppen von Säuglingen (z.B. intensivpflichtige Neugeborene) realistisch sind.


Literatur

1.
; American Academy of Pediatrics, Joint Committee on Infant Hearing. Year 2007 position statement: Principles and guidelines for early hearing detection and intervention programs. Pediatrics. 2007 Oct;120(4):898-921. DOI: 10.1542/peds.2007-2333 Externer Link
2.
; Joint Committee on Infant Hearing; American Academy of Audiology; American Academy of Pediatrics; American Speech-Language-Hearing Association; Directors of Speech and Hearing Programs in State Health and Welfare Agencies. Year 2000 position statement: principles and guidelines for early hearing detection and intervention programs. Joint Committee on Infant Hearing, American Academy of Audiology, American Academy of Pediatrics, American Speech-Language-Hearing Association, and Directors of Speech and Hearing Programs in State Health and Welfare Agencies. Pediatrics. 2000 Oct;106(4):798-817.