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33. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Regensburg, 22.09. - 25.09.2016

Psychogene Hörstörungen im Erwachsenenalter

Vortrag

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Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 33. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Regensburg, 22.-25.09.2016. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2016. DocV44

doi: 10.3205/16dgpp65, urn:nbn:de:0183-16dgpp655

Veröffentlicht: 8. September 2016

© 2016 Görg et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Psychosomatische Krankheitsbilder sind keine Seltenheit in der Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde sowie Phoniatrie und Pädaudiologie. Die sogenannten „psychogenen oder funktionellen Hörstörungen“, auch „nicht organische Hörstörungen“ genannt, nehmen hierbei stetig an Relevanz zu. Ziel der Studie ist es herauszufinden, ob das Krankheitsbild, welches bei Kindern und Jugendlichen verbreitet ist, auch bei Erwachsenen vorkommt und ob anamnestische und audiologische Unterschiede vorliegen. Dabei gilt es, „psychogene Hörstörungen“ bewusst von Aggravation/Simulation zu differenzieren.

Material und Methoden: Im Rahmen einer Studie zu „psychogenen Hörstörungen im Kindesalter“ wurden in den Jahren 2013 bis 2015 ebenfalls Daten zum o.g. Krankheitsbild bei Erwachsenen erhoben. Dabei konnte ein Kollektiv von 13 Patienten eingeschlossen werden. Es wurden sowohl rein deskriptive und epidemiologische Daten erhoben, als auch die Ergebnisse der durchgeführten Hörtests u.a. Ton- und Sprachaudiogramme oder otoakustische Emissionen betrachtet. Die Auswertung erfolgte retrospektiv und pseudoanonymisiert über Excel sowie SPSS.

Ergebnisse: Psychogene Hörstörungen kommen auch im Erwachsenenalter vor. Es bestehen jedoch deutliche Unterschiede zu denen im Kindesalter. So ist das Geschlechterverhältnis mit 46% Männern (n=6) und 54% Frauen (n=7) fast ausgeglichen. Der Anteil an Hörgerätversorgungen liegt bei 54% (n=7). Die Hörstörung lag im Gesamtkollektiv schon Monate bis Jahre vor, was darauf zurückzuführen ist, dass es meist kein direkt auslösendes Event gibt und „psychogene Hörstörungen“ bei Erwachsenen deutlich später erkannt werden als bei Kindern.

Bei 23% (n=3) war der Grund der Überweisung die Fragestellung nach einer CI-Indikation.

Diskussion: Im Zeitraum der Datenerhebung gab es 7 Publikationen zum Thema „psychogene Hörstörungen im Erwachsenenalter“. Dabei wird die Relevanz des Themas bei posttraumatischen Belastungsstörungen im Militärbereich diskutiert, eine Differentialdiagnose bei der Fragestellung zur CI-Indikation aufgezeigt und neue Diagnoseverfahren vorgestellt.

Fazit: Psychogene Hörstörungen sind auch im Erwachsenenalter vorzufinden und gewinnen in den verschiedensten Fachgebieten zunehmend an Bedeutung. Das Bewusstsein und die gesundheitsökonomische Relevanz für diese Erkrankung müssen weiter geschärft, geeignete Therapiekonzepte entwickelt und Behandlungsmöglichkeiten aufgezeigt werden.


Text

Einleitung

Psychosomatische Krankheitsbilder sind keine Seltenheit in der Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde [1]. Die sogenannten „psychogenen Hörstörungen“, auch „Pseudohypakusis“ und „nicht organische Hörstörungen“ (NOH) genannt, nehmen hierbei stetig an Relevanz zu. Unter einer psychogenen Hörstörung versteht man dabei eine Hörstörung ohne organisches Korrelat. Der Hörverlust ist dabei größer und die Hörtestergebnisse schlechter als dass sie durch ein organisches Defizit erklärbar wären [2]. Ziel der Studie ist es herauszufinden, ob das Krankheitsbild, welches bei Kindern und Jugendlichen verbreitet ist, auch bei Erwachsenen vorkommt und falls ja, welche anamnestischen und audiologischen Unterschiede vorliegen. Dabei gilt es, „psychogene Hörstörungen“ bewusst von einer Aggravation oder Simulation zu differenzieren [3], und zwar insbesondere für Erwachsene, da diese eine deutlich höhere Motivation zur Simulation einer Hörstörung haben. Dies liegt am breiteren Feld an möglichen sekundären Krankheitsgewinnen, sei es durch ein Rentenbegehren, die Einstufung eines GdB (Grad der Behinderung) oder MdE (Minderung der Erwerbsfähigkeit). Im Gegensatz zur bewussten Simulation handeln Patienten mit funktioneller Hörstörung unbewusst und mit der tatsächlichen Überzeugung, an einer organischen Hörstörung zu leiden.

Material und Methoden

Im Rahmen einer laufenden Studie zu „psychogenen Hörstörungen im Kindesalter“ wurden in den Jahren 2013 bis Anfang 2016 ebenfalls Daten zum zuvor beschriebenen Krankheitsbild bei Erwachsenen erhoben. Dabei konnte ein Kollektiv von insgesamt 16 Patienten in die Studie eingeschlossen werden. Einschlusskriterien waren hierbei das Vorliegen oder der Verdacht auf eine funktionelle Hörstörung sowie ein Alter über 18 Jahre. Außerdem musste der Patient im genannten Zeitraum stationär, konsiliarisch oder ambulant in der HNO-Klinik, Schwerpunkt Kommunikationsstörungen, der Universitätsmedizin Mainz vorstellig gewesen sein. Es wurden sowohl rein deskriptive und epidemiologische Daten erhoben als auch die Ergebnisse der durchgeführten Hörtests, wie Ton- und Sprachaudiogramm oder otoakustische Emissionen betrachtet. Die Auswertung erfolgte retrospektiv und pseudoanonymisiert über Microsoft Excel sowie die Statistiksoftware SPSS.

Ergebnisse

Es konnte gezeigt werden, dass „psychogene Hörstörungen“ auch im Erwachsenenalter vorkommen und dass es sowohl deutliche Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten zu selbigen im Kindesalter gibt. So ist das Geschlechterverhältnis auch bei Erwachsenen mit 31,3% Männern (n=5) und 68,8% Frauen (n=11) deutlich zu Seiten der Frauen verschoben. Das mittlere Alter zum Zeitpunkt der Erstvorstellung lag bei 35,9 Jahren (s=12,2; Ränge: 18–58), wobei die Streuung bei den männlichen deutlich geringer war als bei den weiblichen Patienten. Grund der Überweisung war bei 31,3% der Verdacht auf eine funktionelle Hörstörung (n=5) und bei 18,8% (n=3) die Frage nach einer Cochlea-Implantat-Indikation. Bei 31,3% (n=5) konnte kein genauer Grund erhoben werden und bei weiteren 18,8% (n=3) waren sonstige Gründe, wie Hörstürze oder unklares Hörvermögen ursächlich (Abbildung 1 [Abb. 1]). Der Anteil an Hörgerätversorgungen lag bei 50% (n=8), wobei die Hörstörung im gesamten Kollektiv schon Monate bis Jahre vorlag. Häufige weitere beschriebene Symptome waren Schwindel (62,5%; n=10), Tinnitus (43,8%; n=7), Kopfschmerzen (37,5%; n=6), sowie Otalgien (31,3%; n=5). Bei 26,67% (n=4) war eine Depression vorbeschrieben. Im Tonaudiogramm lag der durchschnittliche Hörverlust bei 71,9% (4-Frequenztabelle nach Röser 1973), wobei jeweils das schlechtere Ohr betrachtet wurde. Die Hörstörung lag bei 56,3% (n=9) beidseitig vor. Die durchgeführte Testung der otoakustischen Emissionen war in 90% (n=9) der Fälle ohne Auffälligkeiten, eine BERA-Messung erfolgte bei 25% (n=4) der Fälle, jeweils ohne pathologischen Befund.

Diskussion

Die oben dargestellten Studienergebnisse verdeutlichen einige Beobachtungen mit Relevanz für den klinischen Alltag. So wird nur knapp 1/3 der Patienten mit der richtigen Verdachtsdiagnose „psychogene Hörstörung“ in der Klinik vorstellig, was zur Folge hat, dass bei der Primärdiagnostik das Krankheitsbild häufig nicht richtig erkannt wird. Wie oben beschrieben, lag die Hörstörung im gesamten Kollektiv schon Monate bis Jahre vor und ist darauf zurückzuführen, dass es meist kein direkt auslösendes Event gibt und „psychogene Hörstörungen“ bei Erwachsenen deutlich später diagnostiziert werden als bei Kindern. Die häufig vorkommenden Begleitsymptome wie Kopfschmerzen, Tinnitus oder Schwindel weisen auf eine ausgeprägte Psychosomatisierungstendenz hin, was sich auch in der überdurchschnittlichen Anzahl an Depressionen widerspiegelt [4]. Wie bei den kindlichen psychogenen Hörstörungen zeigt sich auch hier, dass deutlich mehr Frauen betroffen sind als Männer und dass die Ergebnisse des Tonaudiogramms schlechter sind als die der Sprachaudiometrie bei zumeist unauffälligen objektiven Hörtestergebnissen.

Im Zeitraum der Datenerhebung gab es 7 Publikationen zum Thema „psychogene Hörstörungen im Erwachsenenalter“. Dabei werden unter anderem die Relevanz des Themas bei posttraumatischen Belastungsstörungen im Militärbereich diskutiert [5], [6], eine Differentialdiagnose bei der Fragestellung zur CI-Indikation aufgezeigt [7] und neue Diagnoseverfahren vorgestellt [8], [9]. Alle Veröffentlichungen betonen dabei die Relevanz des Themas.

Schlussfolgerung

Psychogene Hörstörungen sind ein Krankheitsbild, welches auch im Erwachsenenalter vorzufinden ist und zunehmend an Bedeutung gewinnt. Dabei betrifft es verschiedenste Fachrichtungen, was eine interdisziplinäre Zusammenarbeit, beispielsweise zwischen der Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde, Phoniatern und Pädaudiologen sowie der Psychosomatik und ggf. auch Neurologen erfordert. Das Bewusstsein für die Erkrankung muss weiter geschärft werden, um die Patienten möglichst frühzeitig zu erkennen, geeignete interdisziplinäre Therapiekonzepte zu entwickeln bzw. Behandlungsmöglichkeiten zu schaffen, damit diese Patienten geheilt und eine Über- oder Fehlversorgung, sei es durch die Verschreibung eines Hörgerätes oder die Implantation eines Cochlea-Implantats, vorgebeugt werden kann.


Literatur

1.
Marek A. Psychosomatik in der HNO-Heilkunde. Thieme; 2009.
2.
Austen S, Lynch C. Non-organic hearing loss redefined: understanding, categorizing and managing non-organic behaviour. Int J Audiol. 2004 Sep;43(8):449-57. DOI: 10.1080/14992020400050057 Externer Link
3.
Feldmann H, Brusis T. Das Gutachten des Hals-Nasen-Ohren-Arztes. Thieme; 2012.
4.
Löwe B, Spitzer RL, Williams JB, Mussell M, Schellberg D, Kroenke K. Depression, anxiety and somatization in primary care: syndrome overlap and functional impairment. Gen Hosp Psychiatry. 2008 May-Jun;30(3):191-9. DOI: 10.1016/j.genhosppsych.2008.01.001 Externer Link
5.
Bailey K, Pearson C, Clack J. Non-organic hearing loss in United Kingdom military personnel. J R Nav Med Serv. 2014;100(3):333-6.
6.
Nelson SC. Non-organic hearing loss. J R Army Med Corps. 2012 Dec;158(4):329-30. DOI: 10.1136/jramc-158-04-11 Externer Link
7.
Kompis M, Senn P, Mantokoudis G, Caversaccio M. Cochlear implant candidates with psychogenic hearing loss. Acta Otolaryngol. 2015 Apr;135(4):376-80. DOI: 10.3109/00016489.2014.985801 Externer Link
8.
McPherson B, McMahon K, Wilson W, Copland D. "I know you can hear me": neural correlates of feigned hearing loss. Hum Brain Mapp. 2012 Aug;33(8):1964-72. DOI: 10.1002/hbm.21337 Externer Link
9.
Tomoda A, Kinoshita S, Korenaga Y, Mabe H. Pseudohypacusis in childhood and adolescence is associated with increased gray matter volume in the medial frontal gyrus and superior temporal gyrus. Cortex. 2012 Apr;48(4):492-503. DOI: 10.1016/j.cortex.2010.10.001 Externer Link