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33. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Regensburg, 22.09. - 25.09.2016

Seelische Gesundheit von Menschen mit Hörbehinderung

Vortrag

  • corresponding author presenting/speaker Kathleen Tretbar - Universitätsklinikum Leipzig, Cochlea-Implantat-Zentrum, Leipzig, Deutschland
  • author Sylvia Meuret - Universitätsklinikum Leipzig, Cochlea-Implantat-Zentrum, Leipzig, Deutschland
  • author Michael Fuchs - Universitätsklinikum Leipzig, Cochlea-Implantat-Zentrum, Leipzig, Deutschland
  • author Mona Abdel-Hamid - Universitätsmedizin Göttingen, Göttingen, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 33. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Regensburg, 22.-25.09.2016. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2016. DocV38

doi: 10.3205/16dgpp59, urn:nbn:de:0183-16dgpp592

Veröffentlicht: 8. September 2016

© 2016 Tretbar et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Im audiologisch Bereich treten immer wieder Patienten in Erscheinung, die durch eine Hörbehinderung auch psychosozial belastet erscheinen. Die vorliegende multizentrische Untersuchung stellt die Überprüfung des allgemeinen seelischen Gesundheitszustandes und der psychosozialen Faktoren bei Menschen mit und ohne eine Hörbehinderung in den Fokus. Der wissenschaftliche Überbau erstreckt sich weltweit nur auf wenige Veröffentlichungen zu diesem Thema, obgleich das Vorkommen von Hörbehinderungen in Zukunft gesundheitspolitisch an Relevanz gewinnen wird und ein Überdenken der gegenwärtigen und zukünftigen Behandlungsmöglichkeiten für diese spezielle Patientengruppe notwendig macht. Es zeigt sich über verschiedene Studien hinweg, dass Hörbehinderte ohne psychiatrisch-psychologische Vorgeschichte eine höhere Ausprägung von psychischen und physischen Symptomen angeben als Hörende [5], [2].

Material und Methoden: Mithilfe einer umfangreichen Fragebogenbatterie wurden soziodemografische Daten, das Intelligenzniveau (Subtest Bilderergänzen, WMS-R), die Ausprägung von subjektiver Belastung (Sheehan-Skala) und die Lebensqualität (SF-36) sowie das Vorhandensein von psychischen/physischen Symptomen (depressive Symptome: BDI-II, psychische und physische Symptome: SCL-90-R) erfasst.

Ergebnisse: Die zwei Untersuchungsgruppen bestehen jeweils aus 21 hörenden bzw. hörbehinderten Teilnehmern (6 Männer, 15 Frauen), die bisher keine psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung erfahren haben. Das Durchschnittsalter beträgt 52 Jahre. Alle Teilnehmer verfügen im Durchschnitt über ein durchschnittliches bis leicht überdurchschnittliches Intelligenzniveau. Auf der Sheehan-Skala empfinden sich die hörbehinderten belasteter als die hörenden Probanden. Die Gruppen unterscheiden sich nicht signifikant bzgl. psychischer/physischer Symptome sowie der Lebensqualität.

Fazit: Die Befundlage zeigt, dass eine Hörminderung für die Betroffenen eine Belastung darstellt, die zusätzlich zu dem klinischen Eindruck auch mehrdimensional erfasst werden kann. So erleben sich Menschen mit einer Hörminderung im Vergleich zu hörenden Kontrollen als stärker beeinträchtigt im familiären, sozialen und beruflichen Bereich. Hinweise auf diagnostizierbare psychische Störungen liegen nicht vor. Mögliche protektive Faktoren werden diskutiert.


Text

Hintergrund

Im klinischen Alltag treten immer wieder Patienten in Erscheinung, die durch ihre Hörbehinderung auch psychosozial belastet sind. In der Psychologie hingegen werden hörbehinderte Patientengruppen kaum thematisiert. Die Schnittstelle beider Fachbereiche stellt der psychisch belastete Mensch mit einer Hörbehinderung dar. Verschiedene Studien zeigen, dass hörbehinderte Menschen eine höhere Ausprägung von psychischen und physischen Symptomen angeben als Hörende [5], [2]. Geeignete psychiatrisch-psychologische Diagnostikverfahren und Therapieangebote sind jedoch schwer zu finden. Hingegen werden Hörbehinderungen in Zukunft gesundheitspolitisch durch die demografische Entwicklung und die Zunahme der Lärmbelastung weiter an Brisanz gewinnen [7]. Gleichzeitig wird der Bedarf an psychiatrisch-psychologischen Behandlungsmöglichkeiten prognostisch zunehmen. Die zugrundeliegende multizentrische Erhebung hat sich darum zum Ziel gesetzt, das Auftreten von psychischen und physischen Belastungssymptomen Hörbehinderter im Vergleich zu hörenden Versuchspersonen zu untersuchen.

Material und Methoden

Mithilfe einer umfangreichen Fragebogenbatterie wurden soziodemografische Daten, das Intelligenzniveau (Subtest Bilderergänzen aus Reduzierten Wechsler-Intelligenztest, Dahl, 1972 [1]), die Ausprägung von subjektiver Belastung (Sheehan-Skala [8]) und die Lebensqualität (Fragebogen zum Allgemeinen Gesundheitszustand [SF-36] [6]) sowie das Vorhandensein von psychischen/physischen Symptomen (depressive Symptome: Beck-Depressions-Inventar [BDI-II] [4], psychische und physische Symptome: Symptom-Checkliste [SCL-90-R] [3]) erfasst.

Ergebnisse

Die zwei Untersuchungsgruppen bestanden jeweils aus 21 hörenden bzw. hörbehinderten erwachsenen Teilnehmern (6 Männer, 15 Frauen), die bisher keine psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung erfahren haben. Das Durchschnittsalter betrug 52 Jahre (±18 Jahre). Alle Teilnehmer verfügten über ein durchschnittliches bis leicht überdurchschnittliches Intelligenzniveau (hörbehinderte Gruppe MIQ= 117±17; hörende Gruppe MIQ= 110±11). Die hörbehinderten Probanden waren größtenteils seit ihrer Geburt schwerhörig, zum Erhebungszeitpunkt waren etwa drei von vier Probanden an Taubheit grenzend schwerhörig. Die meisten Probanden waren mit einem Hörgerät und/oder einem Cochlea Implantat versorgt. Die Auswertung der Testdiagnostik ergab, dass sich auf der Sheehan-Skala die hörbehinderten Probanden im beruflichen, sozialen und familiären Bereich belasteter empfanden als die hörenden Probanden. Die Einschätzung der allgemeinen Lebensqualität ergab keine signifikanten Unterschiede. Der durchschnittliche BDI-Wert lag in beiden Gruppen im unauffälligen Bereich. Die Ergebnisse der SCL-90-R zeigten über alle Probanden hinweg durchschnittliche Ausprägungen psychischer und physischer Symptome. Insgesamt unterschieden sich die Gruppen in keinem Bereich signifikant.

Diskussion

Keiner der testpsychologischen Werte lag im auffälligen Bereich, die beiden Gruppen unterschieden sich auf keiner Subskala signifikant voneinander. Es zeigt sich aber bei genauerer Betrachtung der einzelnen Subskalen, dass die hörbehinderte Gruppe stets höhere Ausprägungen, d.h. eine stärkere Belastung, angab als die hörende Vergleichsgruppe. Als Limitation der Untersuchung muss erwähnt werden, dass in keinem Untertest die Hörbehinderung explizit angegeben bzw. deren Einfluss erfragt wurde. Zudem können die Sheehan-Skala wie auch die SF-36 nur als krankheitsunspezifisches Messinstrument für Lebensqualität erfasst werden, krankheitsspezifische Fragen kamen nicht zum Einsatz. Es gilt zudem den Einfluss der Ertaubungsdauer und die Versorgung mit einem Hörsystem auf die psychische Gesundheit sowie mögliche protektive Faktoren zu diskutieren.

Fazit

Die wissenschaftliche Datenlage zeigt, dass eine Hörminderung für die Betroffenen eine Belastung darstellt, die zusätzlich zu dem klinischen Eindruck auch mehrdimensional erfasst werden kann. In der vorliegenden Untersuchung zeigten sich über alle Skalen hinweg stärkere Ausprägungen bei der hörbehinderten Untersuchungsgruppe, jedoch keine signifikanten Unterschiede zu einer hörenden Vergleichsgruppe. Hinweise auf diagnostizierbare psychische Störungen lagen nicht vor. Für die Zukunft erscheint es notwendig, Diagnostik- und Therapiemöglichkeiten an diese Patientengruppe anzupassen. So könnten die individuellen Beeinträchtigungen als Hörbehinderter in einer hörenden Welt ganzheitlicher erfasst und behandelt werden.


Literatur

1.
Dahl G. WIP – Reduzierter Wechsler-Intelligenztest –. Meisenheim am Glan: Verlag Anton Hain; 1972.
2.
Fellinger J, Holzinger D, Dobner U, Gerich J, Lehner R, Lenz G, Goldberg D. Mental distress and quality of life in a deaf population. Soc Psychiatry Psychiatr Epidemiol. 2005 Sep;40(9):737-42. DOI: 10.1007/s00127-005-0936-8 Externer Link
3.
Franke GH. SCL-90-R. Symptom-Checkliste von L. R. Derogatis – Deutsche Version –. Göttingen: Beltz Test GmbH; 2002.
4.
Hautzinger M, Keller F, Kühner C. BDI-II. Beck-Depression-Inventar. Revision. 2. Auflage. Frankfurt: Pearson Assessment; 2009.
5.
Kvam MH, Loeb M, Tambs K. Mental health in deaf adults: symptoms of anxiety and depression among hearing and deaf individuals. J Deaf Stud Deaf Educ. 2007;12(1):1-7. DOI: 10.1093/deafed/enl015 Externer Link
6.
Morfeld M, Kirchberger I, Bullinger M. SF-36 Fragebogen zum Gesundheitszustand. Göttingen: Hogrefe; 2011.
7.
Schulze A, Zahnert T. Differenzialdiagnostik der Hörstörungen [Differential diagnosis of hearing disorders]. Laryngorhinootologie. 2014 Oct;93(10):689-715. DOI: 10.1055/s-0034-1387738 Externer Link
8.
Sheehan DV. Sheehan Disability Scale. In: Sheehan DV, editor. The Anxiety Disease. New York: Charles Scribner & Sons; 1983. p. 151.
9.
Sohn W, Jörgenshaus W. Schwerhörigkeit in Deutschland. Repräsentative Hörscreening-Untersuchung bei 2000 Probanden in 11 Allgemeinpraxen. Z Allg Med. 2001;77:143-47.