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33. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Regensburg, 22.09. - 25.09.2016

Frühe Progredienz einer Hörstörung bei Cytomegalie: ein Fallbericht

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  • corresponding author presenting/speaker Matthias Weidenmüller - Phoniatrie und Pädaudiologie der Klinik für HNO-Heilkunde, Universitätsmedizin, Göttingen, Deutschland
  • Marco Henneke - Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsmedizin, Göttingen, Deutschland
  • Arno Olthoff - Phoniatrie und Pädaudiologie der Klinik für HNO-Heilkunde, Universitätsmedizin, Göttingen, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 33. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Regensburg, 22.-25.09.2016. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2016. DocP7

doi: 10.3205/16dgpp16, urn:nbn:de:0183-16dgpp160

Veröffentlicht: 8. September 2016

© 2016 Weidenmüller et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Ein Neugeborenen-Screening auf konnatale Cytomegalie-Infektionen (CMV) existiert bisher nicht. Zur Thematik CMV assoziierter sowie progredienter Hörstörungen von Neugeborenen soll der folgende Fall zur Diskussion gestellt werden.

Material und Methoden: Wir berichten über ein Mädchen, bei welchem im Alter von zwei Wochen im Rahmen des Neugeborenenhörscreenings (NHS) die transitorisch evozierten Otoakustischen Emissionen (TEOAE) lediglich rechts nachweisbar waren. Eine Hirnstammaudiometrie (BERA) erfolgte im Alter von acht Wochen im Spontanschlaf sowie im Alter von sechs und zehn Monaten in Vollnarkose (ITN). Neben der humangenetischen Untersuchung auf Connexin 26 und 30 Genmutationen fanden serologische Untersuchungen hinsichtlich einer CMV-Infektion statt.

Ergebnisse: Im Alter von acht Wochen konnte hirnstammaudiometrisch im Spontanschlaf rechts eine Hörschwelle bei 60 dB gesichert werden. Links waren bis 70 dB keine Antworten nachzuweisen. Im Alter von sechs Monaten wurden in ITN eine Adenotomie sowie beidseitige Paukendrainage bei Mukotympanon mit anschließender Hirnstammaudiometrie durchgeführt. Nun waren beidseits bis 90 dB keine Reizantworten mehr vorhanden. Im zehnten Lebensmonat wurde nach sicherer Abheilung der Ohren durch eine erneute BERA eine beidseitige Surditas in ITN bestätigt. Es fanden sich keine Hinweise auf Genmutationen jedoch ein erhöhter CMV-IgG-Titer beim Kind sowie bei der Mutter. Zudem erwies sich das Mädchen mit dem Nachweis von CMV-DNA im Urin, Speichel und Blut als Dauerausscheider. Eine Augenbeteiligung konnte ausgeschlossen werden. Nach einer initial probatorischen Hörgeräteversorgung wurde das Kind mit Cochleaimplantaten (CI) versorgt.

Diskussion: Bei dem Mädchen stellt sich eine progrediente Hörstörung in den ersten Lebensmonaten unter hoher CMV-Last dar. Sowohl vor dem Hintergrund CMV assoziierter Hörstörungen als auch vor dem Hintergrund der möglichen Progredienz unter CMV-Last wäre die frühe Erkennung einer CMV-Infektion wertvoll. Prinzipiell wäre dies anhand der neonatalen Guthrie-Karte denkbar. Bei unserem Kind war diese für eine rückwirkende Diagnostik leider nicht mehr verfügbar. Bei früher Diagnose einer CMV-Infektion wären zudem Risiken und Nutzen einer antiviralen Therapie zu diskutieren.

Fazit: Durch das NHS ist die frühe Erkennung von Hörstörungen gewährleistet. Hinsichtlich Screening und möglicher Therapie einer CMV-Infektion besteht noch Klärungsbedarf.


Text

Hintergrund

Ein Neugeborenen-Screening auf konnatale Cytomegalievirus (CMV)-Infektionen existiert bisher nicht. Zur Thematik CMV assoziierter progredienter Hörstörungen von Neugeborenen und Säuglingen, soll der folgende Fall zur Diskussion gestellt werden.

Material und Methoden

Wir berichten über ein Mädchen, bei welchem im Alter von zwei Wochen im Rahmen des Neugeborenenhörscreenings (NHS) die transitorisch evozierten Otoakustischen Emissionen (TEOAE) lediglich rechts nachweisbar waren. Eine Hirnstammaudiometrie (BERA) erfolgte im Alter von acht Wochen im Spontanschlaf sowie im Alter von sechs und zehn Monaten in Vollnarkose (ITN). Neben der humangenetischen Untersuchung auf Connexin 26 und 30 Genmutationen fanden serologische Untersuchungen hinsichtlich einer CMV-Infektion statt. Mittels einer PCR wurde CMV-DNA in Urin, Speichel und Blut quantifiziert. Es erfolgte eine augenärztliche Beurteilung zum Ausschluss einer CMV-Retinitis. Eine MRT des Schädels fand zum Ausschluss zerebraler Veränderungen sowie zur präoperativen Diagnostik vor Cochlea Implantation statt. Nach CI-Versorgung wurden Ablenkreaktionen im Sinne einer Verhaltensbeobachtungsaudiometrie durchgeführt. Zur Erfassung des auditiven Verhaltens wurde der Little Ears Hör-Fragebogen erhoben.

Ergebnisse

Im Alter von acht Wochen konnte hirnstammaudiometrisch im Spontanschlaf rechts eine Hörschwelle bei 60 dB gesichert werden. Links waren bis 70 dB keine Antworten nachzuweisen. Im Alter von sechs Monaten wurden in ITN eine Adenotomie sowie beidseitige Paukendrainage bei Mukotympanon mit anschließender Hirnstammaudiometrie durchgeführt. Nun waren beidseits bis 90 dB keine Reizantworten mehr vorhanden. Im zehnten Lebensmonat wurde nach sicherer Abheilung der Ohren durch eine erneute BERA eine beidseitige Surditas in ITN bestätigt.

Laut der Mutter waren Schwangerschaft und die termingerechte Geburt unauffällig gewesen. Außer der Hörstörung war die übrige Entwicklung des Kindes unauffällig. In der Familienanamnese konnte eine Verwandtenehe der Eltern ausgeschlossen werden. Eine Taubheit war nur seitens der Mutter bei einem Enkel eines Großonkels bekannt. Die MRT des Schädels ergab eine altersentsprechende Anatomie des Cerebrums und eine beidseits regelrechte Darstellung der Cochlea sowie des N. vestibulocochlearis. Zum Zeitpunkt der Cochlea Implantation rechts im Alter von 12 Monaten fanden sich keine Hinweise auf Connexin 26 und 30 Genmutationen, jedoch ein erhöhter CMV-IgG-Titer beim Kind sowie bei der Mutter. Zudem erwies sich das Mädchen mit dem Nachweis von CMV-DNA in Urin, Speichel und Blut als Dauerausscheider. Auch zum Zeitpunkt der Cochlea Implantation links im Alter von 18 Monaten konnte CMV-DNA in Speichel und Urin nachgewiesen werden. Eine CMV-Retinitis wurde augenärztlich ausgeschlossen.

Aus der Gesamtschau der Befunde lässt sich sehr wahrscheinlich auf eine konnatale CMV-Infektion schließen. Da auf die neonatale Trockenblutkarte zum Nachweis konnataler CMV-DNA nicht mehr zurückgegriffen werden konnte, war die letztliche Bestimmung des Infektionszeitpunktes post hoc nicht mehr möglich.

Im Einvernehmen mit den hiesigen Kinderärzten bestand zum Zeitpunkt der Diagnosestellung keine Indikation mehr für eine antivirale Therapie.

Die Ablenkreaktionen mit einem CI lagen im Höralter von 20 Wochen (Lebensalter 18 Monate) bei 30–40 dB. Nach beidseitiger CI-Versorgung zeigte das Mädchen entsprechend ihrem Höralter von 10 Monaten (Lebensalter 22 Monate) die Erwartung übertreffende Hörreaktionen (Little Ears Hör-Fragebogen zur Erfassung des auditiven Verhaltens: Score 23, Erwartungswert 20, Mindestwert 13). Das Mädchen ist zur CI-Rehabilitation an ein CI-Centrum und zur Hörfrühförderung an ein entsprechendes Landesbildungszentrum angebunden.

Diskussion

Weltweit gilt CMV als die wichtigste Ursache von nicht genetischen Hörstörungen und Ertaubungen [1]. Bei diesem Mädchen stellte sich eine progrediente Hörstörung in den ersten Lebensmonaten unter hoher CMV-Last dar. Über 50% der Kinder mit neonatal symptomatischer (Symptomtrias intrazerebrale Verkalkungen, Mikrozephalie, Chorioretinitis) und etwa 10–15% aller Neugeborenen mit asymptomatischer CMV-Infektion, zu denen auch unser Fall zählt, entwickeln im Lauf des ersten Lebensjahres eine Schallempfindungsstörung1. Nur etwa ein Drittel aller konnatal infizierten Kinder, die später Folgeschäden entwickeln, sind bereits bei der Geburt symptomatisch [2].

Sowohl vor dem Hintergrund CMV assoziierter Hörstörungen als auch vor dem Hintergrund der möglichen Progredienz unter CMV-Last wäre die frühe Erkennung einer CMV-Infektion wertvoll. Eine konnatale Infektion ist nur in den ersten 3 Lebenswochen oder post hoc mittels PCR aus der Trockenblutkarte des neonatalen Stoffwechselscreenings nachweisbar [2], [3]. Bei unserem Kind war diese für eine rückwirkende Diagnostik leider nicht mehr verfügbar. 2004 fiel der Beschluss des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Früherkennung von Krankheiten bei Kindern bis zur Vollendung des 6. Lebensjahres (Kinder-Richtlinien) zur Einführung des erweiterten Neugeborenen-Screenings (Paragraph 15.3, Dokumentation der Laborleistung), dass Restblutproben spätestens nach 3 Monaten zu vernichten sind.

Bei früher Diagnose einer CMV-Infektion wären Risiken und Nutzen einer antiviralen Therapie zu diskutieren. Die deutsche Gesellschaft für pädiatrische Infektiologie stützt ihre Empfehlung auf eine Studie, in der eine innerhalb der ersten vier Lebenswochen begonnene 6 wöchige antivirale Therapie mit Ganciclovir eine weitere Hörverschlechterung bis zum ersten Lebensjahr abwenden konnte [4], [5].

Fazit

Folgende Punkte möchten wir zur Diskussion stellen: Aufgrund der klinischen Merkmale einer konnatalen CMV-Infektion (asymptomatischer Verlauf bei Geburt, rasche Progredienz einer Hörstörung unter hoher Viruslast, Beginn einer antiviralen Therapie möglichst innerhalb der ersten Lebenswochen), erscheint ein Neugeborenen-Screening auf eine konnatale CMV-Infektion sinnvoll! Hierfür sowie für eine post hoc Diagnostik sollte die Trockenblutkarte des neonatalen Stoffwechselscreenings (über die o.g. 3 Monate hinaus) zur Verfügung stehen!


Literatur

1.
Grosse SD, Ross DS, Dollard SC. Congenital cytomegalovirus (CMV) infection as a cause of permanent bilateral hearing loss: a quantitative assessment. J Clin Virol. 2008 Feb;41(2):57-62. DOI: 10.1016/j.jcv.2007.09.004 Externer Link
2.
Schuster K, Henneke P, Huzly D, Speckmann C. Zytomegalievirusinfektionen im ersten Lebensjahr. Monatsschr Kinderheilkd. 2013;161(2):157-68. DOI: 10.1007/s00112-012-2807-1 Externer Link
3.
Boppana SB, Ross SA, Novak Z, Shimamura M, Tolan RW Jr, Palmer AL, Ahmed A, Michaels MG, Sánchez PJ, Bernstein DI, Britt WJ, Fowler KB; National Institute on Deafness and Other Communication Disorders CMV and Hearing Multicenter Screening (CHIMES) Study. Dried blood spot real-time polymerase chain reaction assays to screen newborns for congenital cytomegalovirus infection. JAMA. 2010 Apr 14;303(14):1375-82. DOI: 10.1001/jama.2010.423 Externer Link
4.
Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie. Zytomegalovirus-Infektionen. DGPI Handbuch. 5. Aufl. Stuttgart New York: Thieme; 2009. S. 565-68.
5.
Kimberlin DW, Lin CY, Sánchez PJ, Demmler GJ, Dankner W, Shelton M, Jacobs RF, Vaudry W, Pass RF, Kiell JM, Soong SJ, Whitley RJ; National Institute of Allergy and Infectious Diseases Collaborative Antiviral Study Group. Effect of ganciclovir therapy on hearing in symptomatic congenital cytomegalovirus disease involving the central nervous system: a randomized, controlled trial. J Pediatr. 2003 Jul;143(1):16-25. DOI: 10.1016/S0022-3476(03)00192-6 Externer Link