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33. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Regensburg, 22.09. - 25.09.2016

Korrelieren sprachlich-auditive Kurzzeitgedächtnisleistungen mit AVWS-Tests

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Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 33. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Regensburg, 22.-25.09.2016. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2016. DocP6

doi: 10.3205/16dgpp15, urn:nbn:de:0183-16dgpp152

Veröffentlicht: 8. September 2016

© 2016 Nickisch et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Als Ursache für Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen (AVWS) werden u.a. Top-down-Störungen diskutiert. Daher stellt sich die Frage, ob sich – und wenn ja, in welchem Ausmaß – bei Kindern mit nachgewiesener AVWS statistische Zusammenhänge von Ergebnissen in AVWS-Tests mit sprachlich-auditiven KZG-Leistungen nachweisen lassen.

Material und Methoden: Die Ergebnisse von Kindern der 2.–4. Schulklassenstufe (n=91 mit diagnostisch gesicherter AVWS sowie n=87 ohne AVWS=Non-AVWS) wurden miteinander verglichen bzgl. des KZG für Zahlenfolgen, sinnleere Silbensequenzen und Sätze mit ausgewählten AVWS-Prüfdimensionen (dichotisches Wortpaarverstehen, Phonemdiskrimination, Phonemidentifikation und Phonemanalyse).

Ergebnisse: Bei den Non-AVWS-Kindern korrelierte keine KZG-Leistung mit irgendeiner Prüfdimension.

Bei Kindern mit AVWS zeigten sich Korrelationen (r= .29–.41) ausschließlich bezüglich:

  • KZG für sinnleere Silbensequenzen mit a) Phonemidentifikation (rho = .407) und b) Phonemanalyse (rho = .368) sowie
  • KZG für Sätze mit a) Phonemidentifikation (rho = .288) und b) dichotischem Wortpaarverstehen (rho = .333).

Diskussion: Die Ergebnisse sprechen bei Kindern mit AVWS für die Annahme von Bottom-up-Pathologien bzw. gegen vorrangige Einflüsse der KZG-Kapazität auf ausgesuchte Ergebnisse in AVWS-Tests. Zusätzliche, übergeordnete Top-down-Pathologien sind jedoch wahrscheinlich.


Text

Hintergrund

Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen (AVWS) werden in der Regel als Bottom-up-Pathologie beschrieben. Allerdings werden zuweilen stattdessen auch Einschränkungen der Aufmerksamkeit und des Kurzzeitgedächtnisses (KZG) i.S. übergeordneter Top-down-Pathologien als vorrangige Faktoren für auffällige Testergebnisse diskutiert [1]. Das KZG hat eine begrenzte Kapazität. Diese hängt von Aufmerksamkeitsprozessen ab und ist reliabel mit kognitiven Funktionen assoziiert, z.B. mit dem Sprachverstehen (und in der primären Sprachentwicklung nachgewiesenermaßen mit dem Wortschatzerwerb [2]). Voraussetzung für das Sprachverstehen ist eine regelhafte auditive Verarbeitung und Wahrnehmung.

Die British Society of Audiology definierte 2011 AVWS als eine entwicklungsneurologische Störung mit bedeutsamem kognitivem Einfluss [3]. Daher stellt sich die Frage, ob sich – und wenn ja, in welchem Ausmaß – bei AVWS-Kindern statistische Zusammenhänge von den Ergebnissen in einer AVWS-Untersuchungsbatterie mit sprachlich-auditiven KZG-Leistungen nachweisen lassen. Wir gehen hypothetisch von einem gerichteten Zusammenhang dergestalt aus, dass zur auditiven Verarbeitung und Wahrnehmung von Sprache (phonologische Information) kurzfristige Speicherleistungen erforderlich sind, die bei Kindern mit AVWS eingeschränkt sind – quantitativ und qualitativ.

Material und Methoden

Die Stärke des Zusammenhangs der Ergebnisse in einer standardisierten AVWS-Untersuchungsbatterie wurde an 91 Kindern der 2.–4. Grundschulklasse (mittleres Alter 8,44; SD 0,99 J.) mit diagnostisch gesicherter AVWS statistisch untersucht und mit der von 87 unauffälligen Kindern (Non-AVWS; 2.–4. Klassenstufe; mittleres Alter 8,36; SD 1,0 J.) verglichen (statistische Berechnungen mit der SPSS-Version PASW Statistics 17). Korreliert wurden die Ergebnisse in 3 Tests zum KZG:

1.
für Zahlenfolgen [KZG-Z] aus dem Psycholinguistischen Entwicklungstest;
2.
für sinnleere Silbensequenzen [KZG-SS], Mottier-Test;
3.
für Sätze, Subtest „Imitation grammatischer Strukturen“ aus dem Heidelberger Sprachentwicklungstest [KZG-IS]

mit den folgenden Prüfdimensionen der AVWS-Untersuchungsbatterie:

1.
Dichotisches Wortpaarverstehen im Störgeräusch (Uttenweiler Test);
2.
Phonemdiskrimination;
3.
Phonemidentifikation und
4.
Phonemanalyse (jeweils aus dem Heidelberger Lautdifferenzierungstest).

Ergebnisse

Bei den Non-AVWS-Kindern korrelierte – unabhängig vom Merkmaterial – keine KZG-Leistung mit irgendeiner Prüfdimension.

Hingegen zeigten sich bei Kindern mit AVWS Korrelationen einzelner KZG-Leistungen mit Phonemidentifikation, Phonemanalyse und dichotischem Wortpaarverstehen, allerdings jeweils nur in geringem bis mäßigem Ausmaß (r=.29–.41; s. Tabelle 1 [Tab. 1]). Hierbei korrelierten positiv:

  • KZG-SS mit Phonemidentifikation (rho = .407) und Phonemanalyse (rho = .368);
  • KZG-IS mit Phonemidentifikation (rho = .288) und dichotischem Wortpaarverstehen mit (rho = .333).

Das heißt: Je größer die KZG-Kapazität für sinnleere Silben bzw. Sätze ist, desto höhere Leistungen wurden in den genannten auditiven Prüfdimensionen erhoben. Ansonsten resultierten keine weiteren signifikanten Zusammenhänge zwischen den phonologischen KZG-Leistungen und den Ergebnissen in den AVWS-Tests.

Diskussion

Während sich bei Kindern ohne AVWS keine statistischen Korrelationen von verschiedenen phonologischen KZG-Leistungen mit ausgesuchten AVWS-Prüfdimensionen nachweisen ließen, stellten sich hingegen bei Kindern mit AVWS tendenziell mäßige gerichtete statistische Zusammenhänge dar.

Fehlerfreies Nachsprechen der über Kopfhörer eingespielten Silben bzw. Wörter im HLAD (zur phonematischen Identifikation bzw. Analyse) verlangt zur Bearbeitung der Aufgaben die kurzfristige Speicherung. Das scheint der Grund zu sein, dass diese sprachlich-auditiven Leistungen signifikant am stärksten mit dem KZG für sinnleere Silben korrelieren und die meiste Varianz erklären. Die signifikante Korrelation des dichotischen Wortpaarverstehens mit dem KZG für Sätze, könnte darauf zurückzuführen sein, dass die Aufgabenanforderung des Wortpaarverstehens (jeweils zwei 3-silbige Wörter mit Artikel) beim AVWS-Kind einen Satz erwarten lässt, indem es das Testmaterial als Satzsubjekt deutet. D.h.: Kognitive Einflüsse durch Vorwissen (Top-down) nehmen Einfluss auf die Wahrnehmung. Ferner sind die Merkfähigkeitsanforderungen durch die mehrsilbigen Wörter einschließlich Artikel höher („Wortlängeneffekt“) sowie die Beanspruchung der Speicherdauer zeitlich länger (im Vergleich zu den anderen AVWS-Tests) und daher möglicherweise der KZG-Anforderung für Sätze ähnlicher.

Einerseits sprechen die Ergebnisse bei der vorliegenden klinischen Klientel für die Annahme von Bottom-up-Pathologien bzw. gegen starke Einflüsse der KZG-Kapazität auf ausgesuchte Ergebnisse in AVWS-Tests; allerdings wurde das Augenmerk hier nur auf quantitative Aspekte – und nicht auf die Güte der gespeicherten phonologischen Information – gelegt. Andererseits sind übergeordnete Top-down-Pathologien sehr wahrscheinlich, da alle Testanforderungen Sprachmaterial beinhalteten, welches eine konzeptgesteuerte Informationsverarbeitung verlangt. Die KZG-Kapazität geht aus dem kognitiven System hervor und passt sich der jeweiligen Aufgabenanforderung an. Eine ausschließliche Betrachtung von AVWS als Bottom-up bzw. Top-down gesteuertes Prozessgeschehen erscheint daher unvollkommen und darüber hinaus abhängig von der zur Diagnostik jeweils ausgewählten AVWS-Untersuchungsbatterie.


Literatur

1.
Moore DR, Rosen S, Bamiou DE, Campbell NG, Sirimanna T. Evolving concepts of developmental auditory processing disorder (APD): a British Society of Audiology APD special interest group 'white paper'. Int J Audiol. 2013 Jan;52(1):3-13. DOI: 10.3109/14992027.2012.723143 Externer Link
2.
Gathercole SE, Willis CS, Emslie H, Baddeley AD. Phonological memory and vocabulary development during the early school years: A longitudinal study. Dev Psychol. 1992;28(5):887-98. DOI: 10.1037/0012-1649.28.5.887 Externer Link
3.
British Society of Audiology. Position statement on auditory processing disorder (APD). 2011. Available from: http://www.thebsa.org.uk/wp-content/uploads/2014/04/BSA_APD_PositionPaper_31March11_FINAL.pdf Externer Link