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33. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Regensburg, 22.09. - 25.09.2016

Schwindelerkrankungen und deren Diagnostik mit vHIT und cVEMP bei Kindern mit sensorineuraler Schwerhörigkeit

Vortrag

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  • corresponding author presenting/speaker Lisanne Kettern - HNO-Klinik Universitätsmedizin Mainz SP für Kommunikationsstörungen, Mainz, Deutschland
  • author Marina Schlegel - HNO-Klinik Universitätsmedizin Mainz, Mainz, Deutschland
  • author Anne Läßig - HNO-Klinik Universitätsmedizin Mainz SP für Kommunikationsstörungen, Mainz, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 33. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Regensburg, 22.-25.09.2016. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2016. DocV8

doi: 10.3205/16dgpp12, urn:nbn:de:0183-16dgpp125

Veröffentlicht: 8. September 2016

© 2016 Kettern et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Schwindelerkrankungen treten im Kindesalter mit einer Häufigkeit von 5–15% auf. Der Anteil peripher-vestibulären Schwindels wird mit 29,5% angegeben. Weitere Schwindelursachen im Kindesalter sind Migräne-assoziierter Schwindel, Schädelhirntraumen, psychogener Schwindel und zentral bedingter Schwindel. Ein gehäuftes Auftreten von kindlichem Schwindel bei sensorineuraler Schwerhörigkeit fand bisher kaum Beachtung und eine routinemäßige Diagnostik ist meist nicht etabliert.

Sind der Video-Kopf-Impulstest (vHIT) und die Ableitung zervicaler vestibulär evozierter myogener Potentiale (cVEMP) bei diesen Kindern für die Diagnostik geeignet?

Material und Methoden: Sensorineural schwerhörige Kinder (n=32) im Alter von 4 bis 16 Jahren wurden im Rahmen der stationären Hördiagnostik und Hörgeräteanpassung mit dem vHIT und einer cVEMP-Messung auf eine peripher-vestibuläre Läsion hin untersucht. Die Auswertung erfolgte retrospektiv.

Ergebnisse: 19 der 32 untersuchten Kinder (59%) konnten in beiden Tests valide Ergebnisse erzielen, davon zeigten 68% (n=13) in beiden Tests ein unauffälliges Ergebnis d.h. keinen Hinweis auf eine peripher-vestibuläre Läsion. Die cVEMP konnten bei insgesamt 27 der 32 Kinder (87%) ausgewertet werden, wovon 11 Kinder ein pathologisches Ergebnis aufwiesen. Im vHIT konnte nur bei 20 der 32 Kinder (67%) ein valides Ergebnis erzielt werden, welches bei 2 Kindern pathologisch war.

Diskussion: Die Durchführung des vHIT als auch der cVEMP wurden von fast allen Kindern gut toleriert, allerdings kam es durch mangelndes Aufgabenverständnis und fehlende Kooperation bei der Kalibrierung zu teilweise nicht auswertbaren Ergebnissen. Dies entspricht den bisher publizierten Studien zum vHIT bei Kindern. Der Anteil der nicht auswertbaren Messungen war auf Grund des durchschnittlich geringeren Alters sowie des Einschlusses von Kindern mit syndromalen Erkrankungen und Lernbehinderungen etwas höher. In unserer Studie konnte bei 2 von 32 Kinder (6%) eine pathologische Bogengangsfunktion und bei 11 Kindern eine gestörte Otolithenorganfunktion (34%) nachgewiesen werden. Ein erhöhtes Auftreten von peripher-vestibulärem Schwindel bei schwerhörigen Kindern erscheint auf Grund der Erkrankungen, die sowohl mit Schwindel als auch mit Schwerhörigkeiten einhergehen, plausibel.

Fazit: Auf Grund des gehäuften Auftretens von peripher-vestibulärem Schwindel bei Kindern mit sensorineuraler Schwerhörigkeit erscheint eine routinemäßige Diagnostik mit gut tolerierten Tests wie dem vHIT und cVEMP sinnvoll.


Text

Hintergrund

Schwindel und Gleichgewichtsprobleme treten auch im Kindesalter auf. Dennoch finden sich in der Literatur wenige Angaben zur Prävalenz von kindlichen Schwindelerkrankungen. In einer epidemiologischen Studie an Schulkindern aus dem Jahr 1999 wurde die Prävalenz von Schwindel mit 15% [1] angegeben und in einer neueren epidemiologischen Studie an 10-jährigen britischen Schülern (n=6.965) lag die Prävalenz von Drehschwindel bei 5,7% [2] Schwindel im Kindesalter ist nicht einfach zu diagnostizieren. Einerseits ist die Anamnese oft erschwert, andererseits variieren die Symptome von kindlichem Schwindel sehr stark und reichen von verzögerter Haltungskontrolle, über schlechte Koordination bis zu Drehschwindelanfällen. Hinzu kommt, dass eine gut durchführbare und aussagekräftige Gleichgewichtsdiagnostik häufig ein Problem darstellt. In den letzten Jahren wurde mehrfach der Video-Kopf-Impulstest zur Gleichgewichtsdiagnostik bei Kindern empfohlen [3], [4], da dieser von Kindern meist gut toleriert wird.

Als Hauptursachen von kindlichem Schwindel werden in der Literatur peripher-vestibulärer Schwindel und Migräne assoziierter Schwindel angegeben. In einer amerikanischen Studie an 132 Kindern mit Schwindel trat peripher-vestibulärer Schwindel mit 29,5% am häufigsten auf, gefolgt von Migräne / gutartigem paroxysmalem Schwindel bei Kindern (24,2%). Als weitere Ursachen kindlichen Schwindels werden motorische / allgemeine Entwicklungsverzögerung (10,6%), Schädelhirntraumata (9,8%) und Läsionen des zentralen Nervensystems (9,1%) genannt. Im Jugendalter tritt zudem gehäuft psychogener Schwindel auf [5]. Ein gehäuftes Auftreten von kindlichem Schwindel und Gleichgewichtsproblemen bei sensorineural schwerhörigen Kindern fand bisher kaum Beachtung und eine routinemäßige Gleichgewichtsdiagnostik bei schwerhörigen Kindern ist nicht etabliert. Dennoch erscheint ein gehäuftes Auftreten von peripher-vestibulärem Schwindel bei Kindern mit sensorineuraler Schwerhörigkeit auf Grund von Erkrankungen wie Fehlbildungen des Innenohres, Morbus Ménière, Otitis media, congenitale CMV-Infektion, Felsenbeinfrakturen und Labyrinthitis, die sowohl mit einer Schwerhörigkeit als auch mit Schwindelbeschwerden einhergehen können, naheliegend.

Material und Methoden

Insgesamt wurden zwischen Mai 2015 und April 2016 32 Kinder (je 16 Mädchen und Jungen) im Alter zwischen 4 und 16 Jahren (Median 7,0 Jahre) im Rahmen der stationären Hördiagnostik und Hörgeräteanpassung einer Gleichgewichtsdiagnostik mit Video-Kopf-Impuls-Test (vHIT) und zervikalen vestibulär evozierten myogenen Potentialen (cVEMP) zugeführt. Einschlusskriterium war eine sensorineurale Schwerhörigkeit auf mindestens einer Seite sowie ein Alter von über 3 Jahren. Die Ausprägung der sensorineuralen Schwerhörigkeit variierte von annähernd geringgradig bis hin zur Surditas (nach Röser 1973). Die Diagnostik erfolgte unabhängig von anamnestisch bestehenden Gleichgewichtsproblemen oder Schwindel. Bei 2 Kindern erfolgte bei einseitiger Schallleitungsschwerhörigkeit bzw. relevanter Schallleitungskomponente keine Ableitung der cVEMPs. Bei 2 Kindern mit syndromaler Grunderkrankung konnte der vHIT nicht durchgeführt werden. Die Auswertung erfolgte retrospektiv.

Ergebnisse

Bei 19 der 32 untersuchten Kinder (59%) konnten beide Gleichgewichtstests mit validen Ergebnissen durchgeführten werden. Bei diesen Kindern zeigten 68% (n=13) ein unauffälliges Ergebnis in beiden Tests (Abbildung 1 [Abb. 1]).

Betrachtet man die beiden Gleichgewichtstests separat, ergaben sich deutliche Unterschiede bezüglich der Auswertbarkeit. Die cVEMP konnten bei 87% der Kinder ausgewertet werden, wobei sich bei 11 dieser 27 Kinder (34%) ein pathologisches Ergebnis ergab (Abbildung 1 [Abb. 1]). Nur bei 2 Kindern lag ein einseitiger Ausfall des Sakkulus vor. Bei den übrigen 9 Kindern handelte es sich um eine pathologische Seitendifferenz. Im vHIT konnte nur bei 20 Kindern (67%) ein auswertbares Ergebnis erzielt werden. Bewertet wurde das Vorhandensein von Rückstellsakkaden, während der Gain aufgrund unzureichender Kalibration nicht bewertet werden konnte. Von den 20 auswertbaren vHIT zeigten nur 2 (= 6%) ein pathologisches Ergebnis (Abbildung 1 [Abb. 1]).

Diskussion

Die Durchführung des vHIT und der cVEMP wurde von fast allen Kindern gut toleriert. Allerdings kam es vor allem beim vHIT durch mangelnde Kooperation während der Kalibrierung und fehlendes Aufgabenverständnis zu teilweise nicht auswertbaren Ergebnissen. Zwei Kinder schlossen während der vHIT Untersuchung wiederholt die Augen und ein Kind blinzelte zu häufig. Die Rate von auswertbarer Testergebnisse im vHIT (59%) liegt somit unter den Ergebnissen der Studie von Hülse et al. 2015 [4]. Hier erreichten 76% der Kinder im vHIT auswertbare Ergebnisse. Zur Kalibrierung wurden bei jüngeren Kindern Tierpiktogramme verwendet, während diese in unserer Studie mit Laserpunkten erfolgte. Hamilton et al. 2015 [3] konnten sogar 100% der durchgeführten vHIT auswerten. Hier lag das mediane Alter der Patienten jedoch mit 13±3,4 deutlich höher als in unsere Studie. Neben dem geringeren medianen Lebensalter kam der Einschluss von Kindern mit syndromalen Erkrankungen (CHARGE-Assoziation: n=1, Williams-Beuren-Syndrom: n=1) sowie Kindern mit allgemeiner Entwicklungsverzögerung / Entwicklungsretardierung (n=5) erschwerend hinzu. Während der Prozentsatz von Kindern mit pathologischer Bogengangsfunktion (6%) in unserer Studie im Bereich der pädiatrischen Normalbevölkerung liegt, war der Prozentsatz der Kinder mit pathologischer Otolithenorganfunktion deutlich erhöht. Hierbei ist zu erwähnen, dass bei 28% Kindern (n=9) zumindest einseitig eine kombinierte Schwerhörigkeit vorlag. Bei 2 dieser 9 Kinder wurde auf Grund der Schallleitungskomponente auf die Ableitung der cVEMPs verzichtet, ansonsten wurde diese bei nur geringem Schallleitungsanteil durchgeführt. Auch leichte Tubenbelüftungsstörungen – wie sie bei 4 der Kinder vorlagen – können bereits die Auswertbarkeit der cVEMP beeinflussen.

Fazit

Insgesamt war der Anteil der Kinder, die entweder eine pathologische Bogengangsfunktion oder eine pathologische Otolithenfunktion oder beides aufwiesen, bei den schwerhörigen Kindern in unserer Studie im Vergleich zur Normalbevölkerung erhöht. Eine routinemäßige Diagnostik mit den relativ gut tolerierten vHIT und cVEMP erscheint somit sinnvoll. Zur besseren Beurteilbarkeit der Prävalenz von Schwindel bei sensorineuraler Schwerhörigkeit im Kindesalter sind größere Fallzahlen erforderlich.


Literatur

1.
Russell G, Abu-Arafeh I. Paroxysmal vertigo in children – an epidemiological study. Int J Pediatr Otorhinolaryngol. 1999 Oct 5;49 Suppl 1:S105-7.
2.
Humphriss RL, Hall AJ. Dizziness in 10 year old children: an epidemiological study. Int J Pediatr Otorhinolaryngol. 2011 Mar;75(3):395-400. DOI: 10.1016/j.ijporl.2010.12.015 Externer Link
3.
Hamilton SS, Zhou G, Brodsky JR. Video head impulse testing (VHIT) in the pediatric population. Int J Pediatr Otorhinolaryngol. 2015 Aug;79(8):1283-7. DOI: 10.1016/j.ijporl.2015.05.033 Externer Link
4.
Hülse R, Hörmann K, Servais JJ, Hülse M, Wenzel A. Clinical experience with video Head Impulse Test in children. Int J Pediatr Otorhinolaryngol. 2015 Aug;79(8):1288-93. DOI: 10.1016/j.ijporl.2015.05.034 Externer Link
5.
O'Reilly RC, Greywoode J, Morlet T, Miller F, Henley J, Church C, Campbell J, Beaman J, Cox AM, Zwicky E, Bean C, Falcheck S. Comprehensive vestibular and balance testing in the dizzy pediatric population. Otolaryngol Head Neck Surg. 2011 Feb;144(2):142-8. DOI: 10.1177/0194599810393679 Externer Link