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33. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Regensburg, 22.09. - 25.09.2016

Genetische Diagnostik bei schwersten Sprachentwicklungsstörungen und allgemeiner Entwicklungsverzögerung

Vortrag

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 33. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Regensburg, 22.-25.09.2016. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2016. DocV5

doi: 10.3205/16dgpp08, urn:nbn:de:0183-16dgpp080

Veröffentlicht: 8. September 2016

© 2016 Läßig et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Schwerste Sprachentwicklungsstörungen sind meist multifaktoriell bedingt. Bei zusätzlicher allgemeiner Entwicklungsverzögerung sollte nach Ausschluss von Hörstörungen, zentral neurologischen Ursachen oder strukturell hirnorganischen Veränderungen sowie Autismusspektrumsstörungen auch eine humangenetische Diagnostik zur Klärung der Ätiologie erfolgen. Differentialdiagnostisch müssen dabei numerische Chromosomenaberrationen sowie umschriebene Genveränderungen in Erwägung gezogen und molekulargenetisch abgeklärt werden.

Ergebnisse: Exemplarisch berichten wir über einen bei Erstvorstellung 4,10 Jahre alten, muskulär hypoton wirkenden Jungen, der bei Zweispracherwerb expressiv massiv eingeschränkt war (Wortschatz < 50 Wörter) und ein Sprachverständnisalter in der Reynell-Skala von 1,07 Jahren, eine hypotone Mundmotorik mit Hypersalivation und motorische Unruhe mit eingeschränkter auditiver Aufmerksamkeit aufwies. Eine relevante Hörstörung konnte bds. sicher ausgeschlossen werden. Eine auswärtige konventionelle Chromosomenanalyse und klinisch-genetische Untersuchung waren unauffällig gewesen. Im Alter von 6 Jahren sprach er bei noch nicht erfolgtem Zahnwechsel Dreiwortsätze. Die wohlgeformte Körpergröße entsprach der 3. Perzentile, KU der 90. Perzentile. Es fiel ein verkürzter 5. Finger auf.

Daraufhin wurde eine Untersuchung auf Silver-Russell-Syndrom (SRS) und genomweite Mikroarray-Analyse veranlasst. Die Untersuchung auf SRS war unauffällig, jedoch zeigte die Mikroarray-Analyse eine fraglich pathogene heterozygote Mikrodeletion auf dem kurzen Arm von Chromosom 16 (16p13.3). Im Anschluss erfolgte der Kingsmore-MPiMG1-Test (1.222 mit Entwicklungsstörungen im Kindesalter assoziierte Gene). Es wurde eine de novo entstandene und bisher nicht in der Literatur und Datenbanken beschriebene heterozygote 2bp-Deletion eine im ARID1B-Gen auf Chromosom 6q25 (OMIM *614556) detektiert.

Diskussion: Heterozygote Veränderungen des ARID1B-Gens sind erst seit wenigen Jahren als ursächlich für die Autosomal Dominante Mentale Retardierung 12 (ähnlich Coffin-Siris-Syndrom mit einem verkürzten 5. Finger(-endglied)) bekannt. Bisher wurden weltweit 9 Patienten in der Fachliteratur beschrieben.

Fazit: Selbst nach langjähriger Ursachenforschung ist eine humangenetische Beratung und molekulargenetische Diagnostik sinnvoll, um Therapiekonzepte aufeinander abzustimmen und Eltern in ihren Erwartungen und Sorgen zu entlasten.


Text

Einleitung

Die Ursachen von schwersten Sprachentwicklungsstörungen sind meist multifaktoriell, jedoch sollte bei einer zusätzlichen allgemeinen Entwicklungsverzögerung nach umfangreicher pädaudiologische Diagnostik und Ausschluss von Hörstörungen eine genetische Beratung und Diagnostik fester Bestandteil sein. Liegt eine Entwicklungsverzögerung von mehr als 30% vor, ist zur Feststellung einer Intelligenzminderung (Prävalenz: IQ<70 ca. 1,5–2%; IQ<50 ca. 0,3–0,4%) auch eine ergänzende Intelligenzdiagnostik und genetische Abklärung unabdingbar. Es sind mittlerweile über 1.000 verschiedene Gene bekannt, die hierfür ursächlich sind. Dabei treten bei 15% chromosomale Aberrationen auf. Monogene Ursachen findet man bei 30% autosomal dominant als de novo Mutation, 13–24% autosomal rezessiv und 5–10% x-chromosomal vererbt. Beispiele sind hier das Angelman-Syndrom und das Fragile X-Syndrom zu nennen. Zur Abklärung zentral neurologischer Ursachen ist u.a. die Durchführung einer EEG-Untersuchung z.B. zur Diagnosestellung einer Epilepsie (Prävalenz der genetisch bedingten Epilepsien ca. 0,5–1% mit Auftreten in der Kindheit zu 50%) wie beispielsweise die Rolando-Epilepsie, tuberöse Sklerose oder RETT-Syndrom indiziert. Hierbei kann man zwischen idiopathischen Epilepsien, symptomatischen und progressiven Formen unterscheiden. Ein weiterer Baustein in der Diagnostik stellt die Bildgebung wie MRT-Untersuchung des Schädels zur Abklärung strukturell hirnorganischer Ursachen sowie ggf. eine Muskelbiopsie zur Abklärung einer neuromuskulären Ursache z.B. Muskeldystrophien und Stoffwechseldiagnostik zur u.a. Abklärung auf Mitochondropathien, lysosomale Speicherkrankheiten, Neurotransmitterstörungen, peroxismalen Störungen und Organoazidosen dar. Begleitende Verhaltensauffälligkeiten mit Aufmerksamkeitsdefizit, Aufmerksamkeitshyperaktivitätssyndrom sowie Autismusspektrumsstörungen sind ebenfalls zu berücksichtigen und können kinder-psychiatrisch sowie genetisch abgeklärt werden. Am Anfang steht die Chromosomenanalyse, um numerische Chromosomenaberrationen wie z.B. Trisomie 21, Klinefelter-Syndrom, Triple X-Syndrom zu diagnostizieren. Ergänzend folgt eine spezifische Gendiagnostik und ggf. Array-CGH-Analyse und abschließend Panel-Untersuchung bzw. whole-Exome-Sequenzierung um umschriebene Genveränderungen wie z.B. Mikrodeletionssyndrom 22q11, Williams-Beuren-Syndrom, Noonan-Syndrom (Prävalenz: 1: 1.000–2.500) molekulargenetisch zu sichern.

Material und Methoden

Nach umfangreicher Anamnese u.a. mit Erfassung der Entwicklungsmeilensteinen, einer Konsanguinität, Beurteilung von Dysmorphien und des Verhaltens sowie ergänzenden logopädischen, wahrnehmungstherapeutischen Diagnostik und Intelligenztestung beraten wir in unserer Sprechstunde in schwerwiegenden Fällen mit meist ausbleibender Sprachentwicklung routinemäßig über die Notwendigkeit einer humangenetischen Abklärung und betreuen diese Patienten als B-Zentrum interdisziplinär zusammen mit dem Zentrum für seltene neurologische Erkrankungen (ZSEN).

Ergebnisse

Fall 1

Ein bei Erstvorstellung 4,10 Jahre alter, muskulär hypoton wirkender Junge wies bei Zweispracherwerb eine expressiv massiv eingeschränkte Sprachentwicklung (Wortschatz<50 Wörter) und ein Sprachverständnisalter in der Reynell-Skala von 1,07 Jahren, eine hypotone Mundmotorik mit Hypersalivation und motorische Unruhe mit eingeschränkter auditiver Aufmerksamkeit auf. Eine relevante Hörstörung konnte bds. sicher ausgeschlossen werden. Eine auswärtige konventionelle Chromosomenanalyse und klinisch-genetische Untersuchung waren unauffällig gewesen. Im Alter von 6 Jahren sprach er bei noch nicht erfolgtem Zahnwechsel Dreiwortsätze. Die wohlgeformte Körpergröße entsprach der 3. Altersperzentile, Kopfumfang der 90. Altersperzentile. Es fiel ein verkürzter 5. Finger auf.

Daraufhin wurde eine Untersuchung auf Silver-Russel-Syndrom (SRS) und Mikroarray-Analyse veranlasst. Die Untersuchung auf SRS war ebenfalls unauffällig, jedoch zeigte die Mikroarray-Analyse eine fraglich pathogene heterozygote Mikrodeletion auf dem kurzen Arm von Chromosom 16 (16p13.3). Im Anschluss erfolgte der Kingsmore-MPiMG1-Test (1.200 Gene für Entwicklungsstörungen im Kindesalter). Es bestätigte sich eine im ARID1B-Gen auf Chromosom 6q25 (OMIM *614556) [1] eine de novo heterozygote 2bp-Deletion, die zu einer Leserasterverschiebung und vorzeitigem Stopp-Codon und Abbruch der Proteinbiosynthese des ARID1B-Proteins führt.

Diskussion zu Fall 1

Diese heterozygote Variante des ARID1B-Gens sind erst seit wenigen Jahren bekannt und ursächlich für die Autosomal Dominante Mentale Retardierung 12 (ähnlich Coffin-Siri-Syndrom mit einem verkürzten 5. Finger(-endglied)). Bisher sind weltweit etwa 9 Patienten in der Fachliteratur bekannt.

Fall 2

Ein bei Erstvorstellung 2,6 Jahre alter, freundlicher Junge mit groben Gesichtszügen, breiter Nasenwurzel, deutlicher motorischen Unruhe und bisher ausbleibenden Spracherwerb und ohne triangulierenden Blickkontakt oder Symbolspiel. Bei ausschließlich oraler Exploration des Materials war eine Sprachverständnistestung mit der Reynell-Skala III nicht möglich. Eine Hörstörung konnte nach umfangreicher pädaudiologischer Diagnostik inkl. BERA- und OAE-Messungen sowie subjektiver Audiometrie nach Re-Adenotomie und Paukendrainagen-Einlage bds. sicher ausgeschlossen werden. Eine MRT Schädeluntersuchung war bei Nakosezwischenfall auswärts nicht durchführbar gewesen. Die weiterführende Stoffwechseldiagnostik ergab kein Anhalt für MPS II und VII, Alpha- und Beta-Mannosidose oder Aminoazidopathie. Eine konventionelle Chromosomenanalyse zeigte keinen Anhalt für numerische oder strukturelle Aberrationen der Chromosomen. Eine molekulargenetische Diagnostik des FMR1-Gens bei V.a. Fragiles-X-Syndrom (OMIM 30955) [1] wurde veranlasst.

Diskussion zu Fall 2

In einer zusätzlichen Southern-Blot-Analyse bestätigten sich expandierende Trinukleotidrepeats (CGG-Repeatlänge von 300–1.000) und somit eine maternal übertragene Vollmutation im FMR1-Gen auf dem X-Chromosom (fragile X mental retardation 1). Die Prävalenz liegt für männliche Betroffene bei 1 : 1.200.

Schlussfolgerung

Selbst nach langjähriger Ursachenforschung ist bei schwersten Sprachentwicklungsstörungen mit allgemeiner Entwicklungsverzögerung eine erneute humangenetische Beratung und molekulargenetische Diagnostik sinnvoll, um eine Ursache zu finden, die Prognose sowie eine Einschätzung des Wiederholungsrisikos der Erkrankung abgeben zu können, Versorgungs- und Therapiekonzepte realistisch auf die Möglichkeiten der kleinen Patienten abzustimmen und die Eltern in Ihren Erwartungen und Sorgen zu entlasten. Durch die humangenetische Diagnostik wird den Eltern im Rahmen der Familienplanung dann ggf. die Möglichkeit der Pränataldiagnostik bzw. Präimplantationsdiagnostik zur Verfügung stehen.


Literatur

1.
Orphanet [Internet]. Verfügbar unter: http://www.orpha.net Externer Link