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33. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Regensburg, 22.09. - 25.09.2016

Norrie-Syndrom

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  • corresponding author presenting/speaker Till Flügel - Klinik und Poliklinik für Hör-, Stimm- und Sprachheilkunde, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg, Deutschland
  • author Christina Pflug - Klinik und Poliklinik für Hör-, Stimm- und Sprachheilkunde, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg, Deutschland
  • author Almut Niessen - Klinik und Poliklinik für Hör-, Stimm- und Sprachheilkunde, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 33. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Regensburg, 22.-25.09.2016. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2016. DocP3

doi: 10.3205/16dgpp07, urn:nbn:de:0183-16dgpp072

Veröffentlicht: 8. September 2016

© 2016 Flügel et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Vorgestellt wurde in unserer Klinik ein 17-jähriger Junge mit angeborener Blindheit. Er leidet zusätzlich seit dem 14. Lebensjahr unter einer schubweise progredienten Schwerhörigkeit. Aktuell zeigte sich eine mittelgradige Schwerhörigkeit beidseits. Eine humangenetische Abklärung der Augenveränderungen hatte in der frühen Kindheit keine Auffälligkeiten ergeben. Die Familienanamnese ist bezogen auf Hörstörungen oder Blindheit leer. Wegen der neu aufgetretenen progredienten Schwerhörigkeit empfahlen wir eine erneute humangenetische Abklärung. Diese ergab eine Mutation im NDP-Gen (Norrie Disease Protein), womit die Diagnose eines Norrie-Syndroms gesichert war. Durch diese Mutation, welche auf dem Chromosom Xp11.2-4 lokalisiert ist, wird ein funktionseingeschränktes Norrin gebildet. Dieses Protein spielt eine fundamentale Rolle bei der Ausbildung von Kapillaren in Retina und Innenohr (Stria vascularis). Außerdem scheint das gesunde Protein eine neuroprotektive Rolle für Neurone in der Netzhaut zu spielen. Durch die Fehlentwicklung der Netzhautgefäße kommt es zu sogenannten „Pseudogliomen“, Netzhautablösungen und der Bildung retrolentaler Membranen. Die betroffenen Kinder sind in der Regel von Geburt an blind, gelegentlich kann in den ersten Lebensjahren noch hell / dunkel unterschieden werden. Das Norrie-Syndrom wird X-chromosomal rezessiv vererbt, weshalb praktisch nur Jungen betroffen sind. Eine gezielte pränatale Diagnostik der Erkrankung ist möglich. Die Prävalenz ist unklar. In der Literatur werden als Vermutung Angaben von 1:100 000 genannt. Dementsprechend müsste dann die Anzahl der noch nicht diagnostizierten Patienten sehr hoch sein. Trotz der Seltenheit von nachgewiesenen Betroffenen berichtet der Patient interessanterweise von zwei Personen mit Norrie-Syndrom in seinem Bekanntenkreis.

Fazit: In der klinischen Praxis muss bei Jungen, die durch Veränderungen in der vorderen Augenkammer blind geboren wurden, und bei denen bis Mitte des zweiten Lebensjahrzehnts Hörprobleme auftreten, immer auch an ein Norrie-Syndrom gedacht werden. Da inzwischen bei pränataler Diagnosesicherung zumindest experimentell eine unmittelbar postpartale Behandlung der Augenprobleme möglich scheint, und die Penetranz der Erkrankung bei betroffenen Jungen bei nahezu 100% liegt, ist eine korrekte Diagnosestellung auch für weitere Kinder in betroffenen Familien relevant.


Text

Vorgestellt wurde in unserer Klinik ein 17-jähriger Junge mit angeborener Blindheit. Er leidet zusätzlich seit dem 14. Lebensjahr unter einer schubweise progredienten Schwerhörigkeit. Aktuell zeigte sich eine mittelgradige Schwerhörigkeit beidseits. Eine humangenetische Abklärung der Augenveränderungen hatte in der frühen Kindheit keine Auffälligkeiten ergeben. Zudem besteht seit der Kindheit eine Gerinnungseinschränkung durch einen hereditären Faktor VII-Mangel sowie eine bisher ungeklärte Hepatopathie. Der Patient besucht eine Blindenschule und strebt das Fachabitur an. Die Familienanamnese ist bezogen auf Hörstörungen oder Blindheit leer. Wegen der neu aufgetretenen progredienten Schwerhörigkeit empfahlen wir eine erneute humangenetische Abklärung. Diese ergab eine Mutation im NDP-Gen (Norrie Disease Protein), womit die Diagnose eines Norrie-Syndroms gesichert war. Das Syndrom wurde nach Gordan Norrie benannt, der 1927 Erstbeschreiber einer familiären Häufung angeborener Blindheit mit entsprechenden weiteren Auffälligkeiten war. In den 60er Jahren ergänzte die Dänin Margarete Warburg die Beschreibungen und schlug auch die Benennung nach Norrie vor. Durch die Mutation im NDP-Gen, welche auf dem Chromosom Xp11.2-4 lokalisiert ist, wird ein funktionseingeschränktes Norrin gebildet. Dieses Protein spielt eine fundamentale Rolle bei der Ausbildung von Kapillaren in Retina und Innenohr (Stria vascularis). Außerdem scheint das gesunde Protein eine neuroprotektive Rolle für Neurone in der Netzhaut zu spielen. Durch die Fehlentwicklung der Netzhautgefäße kommt es zu sogenannten „Pseudogliomen“, Netzhautablösungen und der Bildung retrolentaler Membranen. Die betroffenen Kinder sind in der Regel von Geburt an blind, gelegentlich kann in den ersten Lebensjahren noch hell/dunkel unterschieden werden. Weder die Hepatopathie, noch der Faktor VII-Mangel sind bisher in Zusammenhang mit einem Norrie-Syndrom beschrieben worden. Aktuell wird davon ausgegangen, dass es sich um zwei voneinander unabhängige Störungen handelt. Das Norrie-Syndrom wird X-chromosomal rezessiv vererbt, weshalb praktisch nur Jungen betroffen sind. Sehr selten kommt es bei (heterozygoten) Überträgerinnen zu geringer ausgeprägten Seh- oder Hörstörungen. Homozygote weibliche Betroffene sind in der Literatur nicht beschrieben. Neben den genannten Befunden weist ein Drittel der Patienten außerdem eine Lernbehinderung bzw. geistige Behinderung auf. Fast die Hälfte ist verhaltensauffällig, wobei Autismus-Spektrum-Störungen den größten Teil ausmachen. Etwa 1/6 der Patienten leiden unter epileptischen Anfällen. Bei der Hälfte der erwachsenen Patienten treten bereits in relativ jungem Alter periphere Gefäßerkrankungen wie Varikosis, Ulcera crures und erektile Dysfunktion auf. Eine gezielte pränatale Diagnostik der Erkrankung ist möglich. Die Prävalenz ist unklar. In der Literatur werden als Vermutung Angaben von 1:100.000 genannt. Dementsprechend müsste dann die Anzahl der noch nicht diagnostizierten Patienten sehr hoch sein. In der klinischen Praxis muss bei Jungen, die durch Veränderungen in der vorderen Augenkammer blind geboren wurden, und bei denen bis Mitte des zweiten Lebensjahrzehnts Hörprobleme auftreten, immer auch an ein Norrie-Syndrom gedacht werden. Da inzwischen bei pränataler Diagnosesicherung zumindest experimentell eine unmittelbar postpartale Behandlung der Augenprobleme möglich scheint, und die Penetranz der Erkrankung bei betroffenen Jungen bei nahezu 100% liegt, ist eine korrekte Diagnosestellung auch für weitere Kinder in betroffenen Familien relevant.

Literatur beim Verfasser

Gekürzte Version des Originalbeitrags von Nießen/Pflug, Hörstörung bei einem blinden Jugendlichen, Laryngo-Rhino-Otol 2016; 95(06): 413-414, DOI: 10.1055/s-0042-100213 © Georg Thieme Verlag [1].


Literatur

1.
Nießen A, Pflug C. Hörstörung bei einem blinden Jugendlichen [Hearing Loss in a Blind Youth]. Laryngorhinootologie. 2016 Jun;95(6):413-4. DOI: 10.1055/s-0042-100213 Externer Link