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33. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Regensburg, 22.09. - 25.09.2016

Rolle der genetischen Diagnostik für die Prognose des funktionellen Ergebnisses nach Cochlea-Implantation

Vortrag

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 33. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Regensburg, 22.-25.09.2016. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2016. DocV4

doi: 10.3205/16dgpp06, urn:nbn:de:0183-16dgpp065

Veröffentlicht: 8. September 2016

© 2016 Tropitzsch et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Die Methode der Hochdurchsatzsequenzierung erlaubt heute die parallele genetische Diagnostik nahezu aller bekannten Gene für Schwerhörigkeit. Auch bei Kandidaten für eine Cochlea-Implantation liegt die Aufklärungsrate mit dieser Methode bei über 50% der Fälle. In der präoperativen Diagnostik und Beratung spielt insbesondere die Frage nach dem Einfluss genetischer Faktoren auf das funktionelle Ergebnis nach Cochlea-Implantation eine entscheidende Rolle. Hierzu ist jedoch bisher meist nur Einzelfallbetrachtungen bekannt.

Material und Methoden: Insgesamt wurden über 250 Patienten mit hochgradiger Schwerhörigkeit oder Gehörlosigkeit mittels Hochdurchsatz-sequenzierung untersucht. Es wurde eine Plattform von 126 bekannten Genen für Schwerhörigkeit verwendet. Die gefundenen Varianten wurden anschließend mittels Sanger Sequenzierung validiert. Die genetischen Befunde wurden mit den funktionellen audiologischen Ergebnissen nach Cochlea-Implantation korreliert.

Ergebnisse: Bei über 140 Cochlea-Implantationen konnte mittels Hochdurchsatzsequenzierung eine genetische Ursache nachgewiesen und validiert werden. Insgesamt waren von 126 für die Diagnostik zur Verfügung stehenden Genen 35 betroffen. Zu den am häufigsten betroffenen Genen zählen GJB2, MYO15A, MYO7A, SLC26A4, CDH23, MYH14 und TMPRSS3. Unabhängig vom betroffenen Einzelgen lagen die funktionellen Ergebnisse der Cochlea-Implantation im Mittel beim bekannten Therapiestandard (60–70% Einsilberverstehen im Freiburger Sprachtest). In der Betrachtung der Einzelgenebene zeigten sich bei einzelnen Genen wie dem TMPRSS3 Gen (n=5) weit unterdurchschnittliche Ergebnisse.

Diskussion: Das TMPRSS3 Gen wird neben dem Cortischen Organ sowohl im Tiermodell als auch in der humanen Cochlea auch im Spiralganglion exprimiert. Im Tiermodell führen Mutationen im TMPRSS3 Gen zu einer Degeneration von Neuronen im Spiralganglion. Der Verlust von Neuronen im Spiralganglion könnte eingeschränkte funktionelle Ergebnisse nach Cochlea-Implantation erklären.

Fazit: Die molekulargenetische Diagnostik kann Beiträge zur prognostischen Einschätzung der Hörrehabilitation mit Cochlea-Implantaten leisten. Für die Betrachtung auf Einzelgenebene sind insbesondere Expressionsmuster im Spiralganglion möglicherweise hinweisend auf ein eingeschränktes funktionelles Ergebnis.

Hinweis: Der Erstautor weist auf folgenden Interessenkonflikt hin: Sarah Fehr ist Angestellte der Cegat GmbH, Tübingen. Saskia Biskup ist Geschäftsführerin und Gesellschafterin der Cegat GmbH, Tübingen.


Text

Einleitung und Hintergrund

Schwerhörigkeit ist die häufigste neurosensorische Erkrankung mit einer Inzidenz von 1–2 pro Eintausend Lebendgeburten. Bei über der Hälfte der betroffenen Kinder liegt eine genetische Ursache für die Schwerhörigkeit vor. Schwerhörigkeit ist phänotypisch und genetisch sehr heterogen, es wurden über 140 Gene und über 200 Loci identifiziert. Die traditionelle genetische Diagnostik mittels Sanger-Sequenzierung limitierte die Untersuchung aus Zeit- und Kostengründen oft auf Einzelgenanalysen der am häufigsten ursächlichen Gene und ggf. auf Gene syndromaler Schwerhörigkeit bei Vorliegen von wegweisenden Begleitsymptomen. Die Diagnosewahrscheinlichkeit war durch diese Methodik sehr limitiert. Im letzten Jahrzehnt haben technische Entwicklungen insbesondere die Hochdurchsatzsequenzierung die Möglichkeiten der genetischen Diagnostik stark verändert [1], [2], [3], [4]. Im hier vorgestellten Verfahren werden neue Methoden der Hochdurchsatzsequenzierung (next generation sequencing, NGS) für die Analyse von 126 für Schwerhörigkeit bekannte Gene parallel und umfassend untersucht. Dies erfolgt mittels eines krankheitsbezogenen Panels für Schwerhörigkeit (Paneldiagnostik) und in ungelösten Fällen mittels der Sequenzierung des gesamten Exoms („whole exome sequencing“). Eine Bestätigung der Befunde aller möglichen Varianten erfolgt mittels der traditionellen Sanger-Sequenzierung. Die parallele genetische Diagnostik nahezu aller bekannten Gene für Schwerhörigkeit erzielt eine Aufklärungsrate von über 50%. Auch bei ausgewählten Kandidaten für eine Cochlea-Implantation liegt die Aufklärungsrate mit dieser Methode entsprechend bei über 50% der Fälle. In der präoperativen Diagnostik und Beratung spielt daher zunehmend die Frage nach dem Einfluss genetischer Faktoren auf das funktionelle Ergebnis nach Cochlea-Implantation eine entscheidende Rolle. Hierzu sind jedoch bisher meist nur Einzelfallbetrachtungen bekannt.

Material und Methode

Bei über 140 Fällen einer Cochlea-Implanation von Patienten mit hochgradiger Schwerhörigkeit oder Gehörlosigkeit erfolgte mit Hilfe eines „custom design“ Agilent Anreicherungskit die Anreicherung und Seqenzierung auf ein Panel von 126 bekannten Schwerhörigkeitsgenen. Die Hochdurchsatzsequenzierung erfolgte auf dem SOLiD 5500xl System. Gefundene Varianten wurden anschließend mittels Sanger Sequenzierung validiert, um das Ergebnis durch eine unabhängige, etablierte Methode abzusichern. Die validierten genetischen Befunde wurden mit den funktionellen audiologischen Ergebnissen nach Cochlea-Implantation korreliert.

Ergebnisse

Auf Basis der „Panel-Sequenzierung“ konnten einzelne Basenaustausche und Deletionen in bekannten Genen für genetische Schwerhörigkeit identifiziert und anschließend durch Sanger-Sequenzierung bestätigt werden. Insgesamt waren von 126 für die Diagnostik zur Verfügung stehenden Genen 38 betroffen. Zu den am häufigsten betroffenen Genen zählen GJB2, MYO15A, MYO7A, SLC26A4, CDH23, MYH14 und TMPRSS3. Unabhängig vom betroffenen Einzelgen lagen die funktionellen Ergebnisse der Cochlea-Implantation im Mittel beim bekannten Therapiestandard (60-70% Einsilberverstehen im Freiburger Sprachtest). In der Betrachtung der Einzelgenebene zeigten sich bei einzelnen Genen wie dem TMPRSS3 Gen (n=5) und dem CDH23 Gen (n=4) aber weit unterdurchschnittliche audiologische Ergebnisse (Abbildung 1 [Abb. 1]).

Diskussion

Die möglichst eindeutige ätiologische Aufklärung eines Hörverlusts bei genetischer Ursache ist wesentlich für die weitere Beratung und Behandlung der Patienten. Die Aufklärung einer genetischen Ursache kann bei der Beratung bezüglich der Prognose unterstützen, die Wahl der bestmöglichen Intervention (z.B. Cochlea-Implantat) erleichtern und eine genetische Risikoberatung ermöglichen. Darüber hinaus können Syndrome ausgeschlossen werden, oder das Vorliegen eines Syndroms angezeigt werden, gerade wenn andere phänotypische Zeichen für ein Syndrom sich noch nicht klinisch manifestiert haben (z.B. bei Usher-Syndrom). Gene mit funktionell unterdurchschnittlichen Ergebnissen wie TMPRSS3 [2] und CDH23 [3], [4]. werden neben dem Corti’schen Organ auch im Spiralganglion exprimiert und führen bei Vorliegen einer Mutation zum Verlust von Neuronen im Spiralganglion. Dies weist auf eine funktionelle Bedeutung von TMPRSS3 und CDH23 für die Funktion der Spiralganglien hin und kann eingeschränkte funktionelle Ergebnisse erklären und stimmt mit der Erwartung aus tierexperimentellen Ergebnissen überein.

Fazit

Der methodische Fortschritt im Bereich der „Next-Generation-Sequencing“ erlaubt die gleichzeitige Analyse aller Schwerhörigkeitsgene. Die molekulargenetische Diagnostik kann Beiträge zur prognostischen Einschätzung der Hörrehabilitation mit Cochlea-Implantaten leisten. Für die Betrachtung auf Einzelgenebene liefern insbesondere Expressionsmuster im Spiralganglion Hinweise auf eingeschränkte funktionelle Ergebnisse.


Literatur

1.
Shearer AE, DeLuca AP, Hildebrand MS, Taylor KR, Gurrola J 2nd, Scherer S, Scheetz TE, Smith RJ. Comprehensive genetic testing for hereditary hearing loss using massively parallel sequencing. Proc Natl Acad Sci USA. 2010 Dec;107(49):21104-9. DOI: 10.1073/pnas.1012989107 Externer Link
2.
Fasquelle L, Scott HS, Lenoir M, Wang J, Rebillard G, Gaboyard S, Venteo S, François F, Mausset-Bonnefont AL, Antonarakis SE, Neidhart E, Chabbert C, Puel JL, Guipponi M, Delprat B. Tmprss3, a transmembrane serine protease deficient in human DFNB8/10 deafness, is critical for cochlear hair cell survival at the onset of hearing. J Biol Chem. 2011 May;286(19):17383-97. DOI: 10.1074/jbc.M110.190652 Externer Link
3.
Zallocchi M, Meehan DT, Delimont D, Rutledge J, Gratton MA, Flannery J, Cosgrove D. Role for a novel Usher protein complex in hair cell synaptic maturation. PLoS ONE. 2012;7(2):e30573. DOI: 10.1371/journal.pone.0030573 Externer Link
4.
Zheng QY, Yan D, Ouyang XM, Du LL, Yu H, Chang B, Johnson KR, Liu XZ. Digenic inheritance of deafness caused by mutations in genes encoding cadherin 23 and protocadherin 15 in mice and humans. Hum Mol Genet. 2005 Jan;14(1):103-11. DOI: 10.1093/hmg/ddi010 Externer Link