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33. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Regensburg, 22.09. - 25.09.2016

Familiäre progrediente Ertaubung durch neue Mutation im ACTG1-Gen

Vortrag

  • corresponding author presenting/speaker Eva Fischer-Krall - Uniklinik Köln, HNO-Klinik, CI-Zentrum Köln (CIK), Köln, Deutschland
  • Dirk Beutner - Uniklinik Köln, HNO-Klinik, Köln, Deutschland
  • Ruth Lang-Roth - Uniklinik Köln, HNO-Klinik, CI-Zentrum Köln (CIK), Köln, Deutschland
  • Cristian Setz - Uniklinik Köln, HNO-Klinik, Köln, Deutschland
  • Ingrid Goebel - Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Institut für Humangenetik, Hamburg, Deutschland
  • Holger Thiele - Uniklinik Köln, Cologne Centre for Genomics (CCG), Köln, Deutschland
  • Peter Nuernberg - Uniklinik Köln, Cologne Centre for Genomics (CCG), Köln, Deutschland
  • Christian Kubisch - Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Institut für Humangenetik, Hamburg, Deutschland
  • Alexander Erich Volk - Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Institut für Humangenetik, Hamburg, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 33. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Regensburg, 22.-25.09.2016. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2016. DocV2

doi: 10.3205/16dgpp04, urn:nbn:de:0183-16dgpp045

Veröffentlicht: 8. September 2016

© 2016 Fischer-Krall et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Progrediente (progr.) familiäre (fam.) Schwerhörigkeiten (SH) sind eine heterogene Gruppe von Hörstörungen (HS) hinsichtlich der klinischen Dynamik u. der Prognose. Um eine individualisierte Therapie anbieten zu können, besteht ein Interesse die zugrundeliegenden genetischen (gen.) Ursachen mit verschiedenen klinischen Verläufen zu korrelieren. Bei einer Fam. mit einer autosomal-dominant (a.-d.) erblichen, progr. zur Ertaubung führenden SH, konnte durch gen. Untersuchungen erkrankten Familienmitglieder (FM) eine neue Mutation (Mut.) im ACTG1-Gen identifiziert werden, die als Ursache der SH angesehen werden darf.

Material und Methoden: Der Fam.-Stammbaum der beschriebenen deutschen Fam. umfasst 4 Generationen mit insgesamt 10 schwerhörigen Personen. Wir stellen die klinischen Verläufe u. audiol. Befunde über einen Zeitraum von bis zu 7 Jahren dar. Es erfolgte eine Gesamtexom-Sequenzierung bei einem der Erkrankten. Mittels der Software VARBANK des CCG wurde auf seltene Mut. mit einer Allelfrequenz <0.01 in bek. SH-Genen gefiltert. Die Validierung der identifizierten Mut. u. die Segregationsanalyse erfolgte mittels Sanger-Sequenzierung.

Ergebnisse: Bei der Exom-Sequenzierung wurde die Mut. c.197C>T des Gen ACTG1 nachgewiesen. Die Punktmutation führt auf Proteinebene zu einem Aminosäurenaustausch (p.Thr66Ile). In öffentlichen Datenbanken wie dem ExAC Browser o. Exome Variant Server ist die Variante nicht gelistet. Diese Mut. wurde allerdings bisher auch nicht bei anderen Patienten mit einer ACTG1-assoziierten Schwerhörigkeit beschrieben. In-silico-Prädiktionsprogramme klassifizieren dieses Allel als wahrscheinlich pathogen. Bei allen untersuchten erkrankten FM konnte diese Mut. nachgewiesen werden. Ferner wurden Mut. anderer SH-Gene nicht nachgewiesen.

Diskussion: Die bisher bekannten Krankheitsallele im ACTG1 führen zu einer a.-d. nicht-syndromalen IO-SH o. einem Baraitser-Winter Syndrom. Eine syndromale SH liegt bei der von uns untersuchten Fam. nicht vor. Klinisch sehen wir eine a.-d. SH, die sich phänotypisch bei allen Betroffenen ähnlich darstellt. Die HS sind immer beidseitig, nahezu symmetrisch, basocochleär u. langsam progr. HG-Versorgung u. CI sind erfolgreich. Mit diesen Erkenntnissen gelingt eine Beratung der Fam. mit prognostisch gutem Verlauf unter Einbeziehung der zur Verfügung stehenden Versorgungen.

Fazit: Die neue Mutation im ACTG1-Gen determiniert eine cochleäre SH, die a.-d. vererbt wird u. sich erfolgreich mit HG bzw. CI versorgen lässt.


Text

Hintergrund

Familiäre progrediente Schwerhörigkeiten sind eine heterogene Gruppe von Hörstörungen hinsichtlich der klinischen Charakteristika und der zu Grunde liegenden Genetik. Sie unterscheiden sich bezüglich der primär betroffenen Frequenzbereiche, des zeitlichen Verlaufs der Progredienz und des Erfolgs der Versorgung mit Hörgeräten und/oder Cochlea Implantaten. Der Ort der Hörstörung ist für den Versorgungserfolg entscheidend und wird durch die genetische Veränderung determiniert. Um eine individualisierte Therapie anbieten zu können, besteht ein Interesse die zugrundeliegenden genetischen Ursachen mit verschiedenen klinischen Verläufen zu korrelieren.

Bei einer Familie mit einer autosomal-dominant erblichen, progredienten zur Ertaubung führenden Schwerhörigkeit, konnte durch genetische Untersuchungen an erkrankten Familienmitglieder eine neue Mutation im ACTG1 Gen identifiziert werden, die als Ursache der Schwerhörigkeit angesehen werden darf.

Material und Methoden

Der Familienstammbaum der beschriebenen deutschen Familie umfasst vier Generationen mit insgesamt zehn schwerhörigen Personen (vgl. Abbildung 1 [Abb. 1]). Wir stellen die klinischen Verläufe und audiologischen Befunde über einen Zeitraum von sieben Jahren dar und zeigen die Ergebnisse nach erfolgreicher Cochlea Implantation bei den zwei ertaubten Familienmitgliedern (II1 und III1).

Bei einem der Erkrankten erfolgte eine Gesamtexom-Sequenzierung. Mittels der Software VARBANK des Cologne Center for Genomics (CCG) wurde auf seltene Mutationen mit einer Allelfrequenz <0.01 in Schwerhörigkeitsgenen gefiltert. Die Validierung der identifizierten Mutation und die Segregationsanalyse erfolgten mittels Sanger-Sequenzierung.

Ergebnisse

Klinik: Alle schwerhörigen Familienmitglieder entwickelten bereits in ihrer Kindheit eine zunächst geringgradige Hochtonschwerhörigkeit. Das jüngste audiometrierte Familienmitglied war 6 Jahre alt und bereits mit Hörgeräten versorgt. Die Hörstörungen sind immer beiderseitig auftretend und meist symmetrisch. Die audiologischen Befunde weisen auf eine cochleäre Schwerhörigkeit hin.

Im weiteren Lebensverlauf nehmen die Schwerhörigkeiten zunächst basocochleär, später dann auch im Tieftonbereich, zu. Die interindividuelle Dynamik ist variabel ausgeprägt (vgl. Abbildung 2 [Abb. 2]). Die Hörgeräteversorgung ist erfolgreich und wird gut akzeptiert. Die Ertaubung tritt zwischen der zweiten und vierten Lebensdekade ein. Zwei weibliche Familienmitglieder wurden erfolgreich mit Cochlea Implantaten versorgt (vgl. Tabelle 1 [Tab. 1]).

Genetik: Bei der Exom-Sequenzierung wurde die Mutation c.197C>T des Gen ACTG1 nachgewiesen. In öffentlichen Datenbanken wie dem ExAC Browser oder Exome Variant Server ist die Variante nicht gelistet. Diese Mutation wurde allerdings bisher auch nicht bei anderen Patienten mit einer ACTG1-assoziierten Schwerhörigkeit beschrieben. In-silico-Prädiktionsprogramme klassifizieren dieses Allel als wahrscheinlich pathogen. Bei allen untersuchten erkrankten Familienmitgliedern konnte diese Mutation nachgewiesen werden. Ferner wurden Mutationen anderer Schwerhörigkeitsgene nicht nachgewiesen. Die entdeckte Punktmutation führt auf Proteinebene zu einer Substitution eines Threonins durch ein Isoleucin an Position 66 des γ-Aktin Proteins (p.Thr66Ile). Das γ-Aktin Protein findet sich u.a. in den Stereozilien der inneren Haarzellen in der Cochlea.

Diskussion

Die bisher bekannten Krankheitsallele im Gen ACTG1 führen zu einer autosomal-dominanten, nicht-syndromalen Innenohrschwerhörigkeit oder einem Baraitser-Winter Syndrom. Das Baraitser-Winter Syndrom ist ein Fehlbildungssyndrom mit u.a. fazialen Dysmorphien, intellektuellen Defiziten unterschiedlichen Ausmaßes mit oft schwerer Epilepsie. Eine syndromale Schwerhörigkeit liegt bei der von uns untersuchten Familie nicht vor. Klinisch sehen wir eine autosomal-dominante Schwerhörigkeit, die sich phänotypisch bei allen Betroffenen ähnlich darstellt. Die Hörstörungen sind immer beiderseitig, nahezu symmetrisch, basocochleär und langsam progredient. Der Erkrankungsbeginn liegt in der Kindheit, die Ertaubung tritt zeitlich zwischen der zweiten und vierten Lebensdekade ein.

Hörgeräte-Versorgung und Cochlea Implantation sind bei allen Betroffenen erfolgreich. Mit diesen Erkenntnissen über die genetischen Ursache der Schwerhörigkeit und den klinischen Verlauf können betroffene Familienmitglieder sinnvoll beraten werden und bei Ertaubung eine erfolgreiche Cochlea Implantation in Aussicht gestellt werden.

Fazit

Die beschriebene neue Punktmutation im Gen ACTG1 determiniert eine cochleäre Schwerhörigkeit durch eine veränderte Expression des γ-Aktin Proteins. Damit ist eine erfolgreiche Cochlea Implantation zur Rehabilitation nach Ertaubung für betroffene Familienmitglieder zu empfehlen.


Literatur

1.
de Heer AM, Huygen PL, Collin RW, Oostrik J, Kremer H, Cremers CW. Audiometric and vestibular features in a second Dutch DFNA20/26 family with a novel mutation in ACTG1. Ann Otol Rhinol Laryngol. 2009 May;118(5):382-90.
2.
Eppsteiner RW, Shearer AE, Hildebrand MS, Deluca AP, Ji H, Dunn CC, Black-Ziegelbein EA, Casavant TL, Braun TA, Scheetz TE, Scherer SE, Hansen MR, Gantz BJ, Smith RJ. Prediction of cochlear implant performance by genetic mutation: the spiral ganglion hypothesis. Hear Res. 2012 Oct;292(1-2):51-8. DOI: 10.1016/j.heares.2012.08.007 Externer Link