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32. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

24.09. - 27.09.2015, Oldenburg

Genetische Diagnostik von Schwerhörigkeit bei Kindern und Jugendlichen

Vortrag

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 32. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Oldenburg, 24.-27.09.2015. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2015. Doc22

doi: 10.3205/15dgpp62, urn:nbn:de:0183-15dgpp620

Veröffentlicht: 7. September 2015

© 2015 Tropitzsch et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Die phänotypische und genetische Heterogenität von Schwerhörigkeit hat die genetische Diagnostik betroffener Patienten bisher erschwert. Neue Methoden der Hochdurchsatzsequenzierung erlauben es jedoch, alle bisher bekannten Gene für Schwerhörigkeit in Form einer krankheitsbezogenen, diagnostischen Plattform von über 120 Genen umfassend zu untersuchen („Panel-Diagnostik“). Für Kinder und Jugendliche ist die Aufklärung der genetischen Ursache hinsichtlich der prognostischen Einschätzung und der Aufdeckung syndromaler Krankheitsbilder von besonderer Bedeutung.

Material und Methoden: In einer retrospektiven Untersuchung wurde bei über 150 Patienten eine genetische Ursache für Schwerhörigkeit unter Anwendung der Hochdurchsatzsequenzierung identifiziert. Hierunter befanden sich über 40 Kinder und Jugendliche. Die gefundenen Genotypen wurden mit den audiologischen Phänotypen korreliert und bei Vorliegen einer Cochlea-Implantation mit dem Ergebnis der Cochlea Implantation.

Ergebnisse: Auf Basis der Panel-Diagnostik konnten sowohl bei Kindern und Jugendlichen als auch bei Erwachsenen nicht-syndromale und syndromale Formen genetischer Schwerhörigkeit identifiziert werden. In beiden Altersgruppen bestanden autosomal-rezessive und autosomal-dominate Erbgänge. Von über 120 auf dem Panel vorhandenen Genen waren nur 38 für die Diagnosestellung relevant. Über die Hälfte der Diagnosen konnte mit acht der am häufigsten betroffenen Gene gestellt werden. Bei Versorgung mit Cochlea Implantaten ergab sich bei Kindern und Jugendlichen ein gutes Ergebnis für das Sprachverstehen.

Diskussion: Die simultane Hochdurchsatzsequenzierung in Form eines „Hörpanels“ erlaubt ähnlich wie bei Erwachsenen auch bei Kindern und Jugendlichen eine umfassende genetische Diagnostik. Die erforderliche fachgebundene genetische Beratung umfasst die Aufklärung über die zugrundeliegende Ursache und die prognostische Einschätzung auf Basis der Genotyp-Phänotyp Korrelation. Darüberhinaus erfolgt die Beratung hinsichtlich der Versorgung einschließlich der Cochlea Implantation.

Fazit: Die umfassende genetische Diagnostik stellt eine wertvolle diagnostische Ergänzung in der pädaudiologischen Beratung dar.

Der Erstautor weist auf folgenden Interessenskonflikt hin: Dr. Dr. Saskia Biskup ist Gründerin und Geschäftsführerin der CeGat GmbH, Tübingen.


Text

Einleitung und Hintergrund

Schwerhörigkeit ist die häufigste neurosensorische Erkrankung von Kindern und Jugendlichen. Bereits bei Neugeborenen besteht eine Inzidenz von 1–2 pro Eintausend [1]. Von besonderer Bedeutung sind genetische Ursachen, da sie bei über der Hälfte der betroffenen Kinder und Jugendlichen vermutet werden. Die traditionelle genetische Diagnostik mittels Sanger-Sequenzierung limitierte genetische Untersuchungen aus Zeit- und Kostengründen oft auf die Diagnostik einzelner Gene (z.B. GJB2; Connexin 26) und bei klinischem Verdacht auf ein Syndrom mit Vorliegen von Begleitsymptomen ggf. auch die gezielte Untersuchung syndromaler Gene. Bei 70% der Neugeborenen mit erblich bedingter Schwerhörigkeit liegt jedoch eine nicht-syndromale Schwerhörigkeit vor. Hierbei überwiegt die autosomal rezessive, nicht-syndromale Schwerhörigkeit mit 80% der Fälle. Deutlich seltener liegt in 20% eine autosomal dominante, nicht-syndromale Schwerhörigkeit vor. Schwerhörigkeit ist genetisch heterogen. Zurzeit sind 142 Gene für Schwerhörigkeit bekannt, die Entdeckung weiterer Gene in etwa dieser Größenordnung ist zu erwarten. Von den bekannten Genen für Schwerhörigkeit sind 77 Gene nicht-syndromal, 43 syndromal und 16 sowohl mit nicht-syndromalen als auch syndromalen Formen assoziiert. Für die nicht-syndromalen Gene sind 47 als autosomal-rezessive Gene (DFNB), 30 autosomal-dominate Gene (DFNA), 4 X-chromosomale Gene (DFNX) und 8 mitochondriale (maternal) Gene klassifiziert. Sechs dieser Gene sind wiederum sowohl mit autosomal-rezessiven als auch mit autosomal-dominaten Formen assoziiert. Für die einzelnen Gene existieren wiederum verschiedene pathogene Varianten. Allein für die nicht-syndromalen Gene sind mehr als 1200 pathogene Varianten beschrieben [2]. Im letzten Jahrzehnt haben technische Entwicklungen die Möglichkeiten der genetischen Diagnostik stark verändert. Durch Hochdurchsatzsequenzierung, dem sogenannten „next generation Sequencing“ (NGS) lassen sich nahezu alle Gene, die Ursache einer heterogenen Erkrankung sein können, parallel sequenzieren. NGS steigert damit die Effizienz der genetischen Diagnostik und senkt gleichzeitig die Kosten [3], [4], [5].

Material und Methode

Insgesamt wurden bisher 199 Patienten mit mittel- bis hochgradiger Schwerhörigkeit oder Gehörlosigkeit für eine genetische Untersuchung mit Unterstützung der Paneldiagnostik selektiert. Das Kollektiv umfasste sowohl erwachsene Patienten als auch Kinder und Jugendliche. Insgesamt wurden 38 Kinder und Jugendliche untersucht. Bei allen Patienten erfolgte nach Ausschluss von Mutationen in GJB2 (Cx26), GJB3 (Cx31) und GJB6 (Cx30) mittels Sanger Sequenzierung die weiterführende Paneldiagnostik mittels NGS. Es erfolgte mit Hilfe eines „custom design“ Agilent Anreicherungskit die Anreicherung und Sequenzierung auf ein Panel von 126 bekannten Schwerhörigkeitsgenen. Die Hochdurchsatzsequenzierung erfolgte auf dem SOLiD 5500xl System. Gefundene Varianten wurden anschließend mittels Sanger Sequenzierung validiert, um das Ergebnis durch eine unabhängige, etablierte Methode abzusichern.

Ergebnisse

Bei 16 der 38 Kinder und Jugendlichen konnte eine genetische Diagnose gesichert werden. Die Aufklärungsrate liegt somit bei 42% und im Bereich der für die Paneldiagnostik üblichen Aufklärungsraten. Bei 4 der 16 Kinder und Jugendlichen fand sich eine Mutation in GJB2 (Connexin-26; DFNB1A). Bei jeweils 3 der 16 Kinder und Jugendlichen lag eine Mutation in den Genen MYH14 (Myosin-14; DFNA4) und STRC (Stereocilin; DFNB16) vor. Bei jeweils 2 der 16 Kinder und Jugendlichen waren die Gene MYO7A (Myosin VIIa; DFNB2) und PAX3 (Paired box gene 3; Waardenburg Syndrom) betroffen. In den verbleibenden 2 Patienten lagen jeweils Mutationen in den Genen GIPC3 (GIPC PDZ domain-containing family, member 3; DFNB15) und SOX10 (SRY-BOX 10; Waardenburg Syndrom) vor. In Bezug auf die Erbgänge lagen 10 autosomal-rezessive und 6 autosomal-dominante Erbgänge vor. Bei 3 der 16 Patienten (ca. 20%) lagen Mutationen in Genen für syndromale Schwerhörigkeit vor. Bei 6 Patienten liegt eine bilaterale Versorgung mit Cochlea Implantaten mit guten Ergebnissen vor (2x GJB2, 2x MYH14, 1x MYO7A, 1x PAX3).

Diskussion

Auch bei Kindern und Jugendlichen wird mit der Paneldiagnostik eine deutlich höhere Aufklärungsrate von 42% als in der Einzelgendiagnostik erreicht und liegt damit in dieser Altersgruppe etwa vierfach höher als bei der ausschließlichen Diagnostik für GJB2. Es kann damit in weit über einem Drittel der Fälle eine ätiologische Aufklärung eines Hörverlusts auf genetischer Grundlage geleistet werden. Bei Erwachsenen liegt der Anteil der Patienten mit einer Mutation für GJB2 nochmals niedriger. Die Aufklärung einer genetischen Ursache kann die klinische Diagnose absichern und ergänzen. Insbesondere bei Vorliegen einer Mutation in syndromalen Genen können ggf. weitere Untersuchungen gezielt veranlasst werden. Die ätiologische Aufklärung kann bei der Beratung die prognostische Abschätzung unterstützen. Alle mit einem Cochlea Implantat versorgten Patienten hatten Mutationen in Genen, die eine Expression in den sensorischen und nicht den neuronalen Anteilen der Cochlea zeigen (GBJ2, MYH14, MYO7A). Andere Gene sind auch im Spiralganglion exprimiert (z.B. GIPC3) und haben daher evtl. einen Einfluss auf die Funktion. In die Zukunft betrachtet kann die Diagnostik langfristig die Grundlage für die Anwendung neuer therapeutischer Ansätze sein.

Die simultane Hochdurchsatzsequenzierung in Form eines spezifischen Diagnostikpanels für alle derzeit bekannten Schwerhörigkeitsgene erlaubt eine umfassende genetische Diagnostik mit hoher Aufklärungsrate und kann jederzeit durch neue Schwerhörigkeitsgene erweitert werden. Der Vorteil eines spezifischen Diagnostikpanels für Schwerhörigkeit liegt darin, dass ausschließlich die mit Schwerhörigkeit in Zusammenhang stehenden Gene untersucht werden. Die zielgerichtete Untersuchung kann auch weiteren Familienmitgliedern angeboten werden.

Fazit

Der methodische Fortschritt im Bereich der „Next-Generation-Sequencing“ erlaubt bei Kindern und Jugendlichen die gleichzeitige Analyse aller bekannten Schwerhörigkeitsgene in Form eines krankheitsspezifischen Diagnostikpanels für Schwerhörigkeit. Die Aufklärungsrate liegt derzeit bei über einem Drittel der Fälle und wird in Zukunft weiter ansteigen. Die Ergebnisse können in die prognostische und therapeutische Beratung einfließen.

Anmerkung

Der Erstautor weist auf folgenden Interessenskonflikt hin: Dr. Dr. Saskia Biskup ist Gründerin und Geschäftsführerin der CeGat GmbH, Tübingen.


Literatur

1.
Morton CC, Nance WE. Newborn hearing screening – A silent revolution. N Engl J Med. 2006;354:2151-64. DOI: 10.1056/NEJMra050700 Externer Link
2.
Shearer AE, Smith RJ. Genetics: advances in genetic testing for deafness. Curr Opin Pediatr. 2012;24(6):679-86. DOI: 10.1097/MOP.0b013e3283588f5e Externer Link
3.
Shearer A, DeLuca A, Hildebrand M, Taylor K, Gurrola II J, Scherer S, Scheetz T, Smith R. Comprehensive genetic testing for hereditary hearing loss using massively parallel sequencing. Proc Natl Acad Sci U S A. 2010;107(49):21104-9. DOI: 10.1073/pnas.1012989107 Externer Link
4.
Kothiyal P, Cox S, Ebert J, Husami A, Kenna MA, Greinwald JH, Aronow BJ, Rehm HL. High-throughput detection of mutations responsible for childhood hearing loss using resequencing microarrays. BMC Biotechnol. 2010;10:10. DOI: 10.1186/1472-6750-10-10 Externer Link
5.
Lin X, Tang W, Ahmad S, Lu J, Colby C, Zhu J, Yu Q. Applications of targeted gene capture and next-generation sequencing technologies in studies of human deafness and other genetic disabilities. Hearing Research. 2012 Jun;288(1-2):67-76. DOI: 10.1016/j.heares.2012.01.004  Externer Link