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32. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

24.09. - 27.09.2015, Oldenburg

Mutismus – das stationäre Therapiekonzept des Sprachheilzentrums Meisenheim

Poster

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  • author presenting/speaker Belinda Fuchs - Sprachheilzentrum Meisenheim, Glantalklinik, Meisenheim, Deutschland
  • author Maik Herrmann - Sprachheilzentrum Meisenheim, Glantalklinik, Meisenheim, Deutschland
  • corresponding author Anne K. Läßig - Schwerpunkt Kommunikationsstörungen Universitätsmedizin Mainz, Mainz, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 32. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Oldenburg, 24.-27.09.2015. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2015. Doc34

doi: 10.3205/15dgpp25, urn:nbn:de:0183-15dgpp254

Veröffentlicht: 7. September 2015

© 2015 Fuchs et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Gliederung

Zusammenfassung

Hintergrund: Mutismus, als schweigender Rückzug, bei vorhandener Sprechfähigkeit, wird als Kommuniaktionsstörung verstanden, die eine Bewältigungsstrategie des Kindes auf individuell als schwierig, stressauslösend bzw. als belastend empfundene Situationen im jeweiligen Beziehungskontext darstellt.

Material und Methoden: Der therapeutische Ansatz basiert auf der Grundhaltung, dass das Kind als Person im Mittelpunkt des Denkens und Handelns steht. Der individuelle Entwicklungsstand und die positive Beziehungsgestaltung sind die Basis für den erfolgreichen Aufbau stabiler Sprachkompetenz und die Bereitschaft des Kindes, das eigene nonverbale und verbale Kommunikationsverhalten dauerhaft verändern zu wollen.

Ergebnisse: Der stationären Aufnahme im Sprachheilzentrum vorausgehend liegen oftmals mehrjährige ambulante und stationäre Behandlungsversuche ohne nachhaltigen Erfolg.

Der seit 1980 in Meisenheim etablierte therapeutische Prozess ist charakterisiert durch die ständige Reflexion und Bewusstmachung bereits erreichter Therapieschritte und das Aushandeln der nächsten Ziele. Unterstützend wirken:

  • das stationäre Setting, durch das ungünstig verfestigte Strukturen aufgebrochen werden können
  • Entlastung vom Besuch öffentlicher Schulen, durch ein individuell auf das Kind zugeschnittenes schulisches Förderkonzept
  • die Gruppendynamik
  • das Lernen am Modell
  • tiergestützte Interventionen
  • ständige Generalisierung des in der Therapie etablierten Kommunikationsverhaltens durch Begleitung in Realsituationen
  • verhaltenstherapeutische Elemente zur Verstärkung positiven Verhaltens.

Fazit: Grundlegend hierbei sind die Einbeziehung des sozialen Umfeldes sowie der Austausch mit involvierten Fachkräften.

Von Anfang an wird der Therapieprozess für alle Beteiligten offen gelegt, was auch für das Kind einen Schutz vor Überforderung darstellt.

Herauszustellen ist, dass der Entwicklungsprozess auch nach der Entlassung aus der stationären Behandlung noch nicht abgeschlossen ist und falls erforderlich durch nachsorgende Kontakte begleitet wird.


Text

Hintergrund

Mutismus, als schweigender Rückzug, bei vorhandener Sprechfähigkeit, wird als Kommunikationsstörung verstanden, die eine Bewältigungsstrategie des Kindes auf individuell als schwierig, Stress auslösend bzw. als belastend empfundene Situation im jeweiligen Beziehungskontext darstellt.

Primärer Auslöser kann dabei jede Art von Verunsicherung sein. Die Variation in der Gruppe der Mutisten ist groß, aber eine Grundstruktur ist immer wieder zu beobachten: Die ursprüngliche Motivation zum Schweigen ist überlagert von sekundären Reaktionen, die sich aus den positiven und negativen Erfahrungen ergeben, die das Kind mit seinem Schweigen gemacht hat (siehe Abbildung 1 [Abb. 1]). Die Gefahr einer Generalisierung ist groß.

Methode

Der therapeutische Ansatz im Sprachheilzentrum basiert auf der Grundhaltung, dass das Kind als Person im Mittelpunkt des Denkens und Handelns steht. Der individuelle Entwicklungsstand und die positive Beziehungsgestaltung sind die Basis für den erfolgreichen Aufbau stabiler Sprachkompetenz und die Bereitschaft des Kindes, das eigene nonverbale und verbale Kommunikationsverhalten dauerhaft verändern zu wollen.

Der stationären Aufnahme im Sprachheilzentrum vorausgehend liegen oftmals mehrjährige ambulante und stationäre Behandlungsversuche ohne nachhaltigen Erfolg. Der seit 1980 in Meisenheim etablierte therapeutische Prozess ist charakterisiert durch die ständige Reflexion und Bewusstmachung bereits erreichter Therapieschritte und das Aushandeln der nächsten Ziele (siehe Tabelle 1 [Tab. 1]).

Ergebnis

Seit 2005 wurden 164 Kinder/Jugendliche (2/3 Mädchen / 1/3 Jungen) mit selektivem Mutismus durchschnittlich 11 Monate im Sprachheilzentrum therapeutisch behandelt, die in allen Situationen sprechend ihre Therapie beendet haben.

Integriert in eine Therapiegruppe erlebt sich das mutistische Kind mit seinem Schweigen neu. Die Rolle des „Exoten“, – des Einzigen, der sich in seinem Bezugssystem verbal zurücknimmt, spielt keine Rolle mehr. Die Funktion des Schweigens verändert sich, in dem nonverbale Formen der Mitteilung zunächst in den Vordergrund treten und indem Erfahrungsdefizite durch Beobachtung und dann durch Handeln allmählich aufgeholt werden. Bereits vorhandene Kooperations- und Kommunikationsansätze werden bewusst gemacht und durch einen verhaltenstherapeutischen Schritteplan verstärkt.

Manche Kinder und Jugendliche können dann plötzlich und problemlos nonverbale Kommunikation durch verbale ersetzen, andere brauchen intensive therapeutische Begleitung durch Planung in kleinen Schritten.

Nach ausreichenden Generalisierungsübungen im therapeutischen Rahmen werden externe Herausforderungen gesucht. Dabei werden Grenzen deutlich und auch Motivationen, die verbales Rückzugsverhalten auslösen. Die Auseinandersetzung damit erfolgt im Einzelgespräch mit dem Therapeuten oder zusammen mit anderen Gruppenmitgliedern. Alternative Verarbeitungsformen werden gesammelt, geübt und dann wieder in der realen Belastungssituation erprobt.

Tragendes Element aller therapeutischen Interventionen ist die Gemeinschaft, in der man nicht geschont wird, in der man Defizite aufholen und Ängste abbauen kann, in der man sich nicht nur als Hilfesuchender, sondern auch als Helfer erlebt.

Eltern, Geschwister und andere wichtige Bezugspersonen werden von Anfang an in den Therapieablauf einbezogen, in Form von explorativem Gespräch, durch Informationen über den Therapieverlauf, durch eigenes Erleben an einem Familientag und durch den Auftrag, das Kind bei generalisierenden Übungen während der Wochenendkontakte zu unterstützen.

Kurz vor der Entlassung aus der stationären Therapie demonstrieren die Kinder und Jugendlichen in ihrer Heimatschule in Begleitung anderer Gruppenmitglieder mit einem kleinen Vortrag und in einem Gespräch mit der ganzen Klasse die Veränderungen, die sie bezüglich ihres Kommunikationsverhaltens erreicht haben.