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32. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

24.09. - 27.09.2015, Oldenburg

Wie verarbeiten CI-Kinder die Satzmelodie beim Sprachverstehen?

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  • corresponding author presenting/speaker Anne Erler - TU Dresden, Dresden, Deutschland
  • author Dirk Mürbe - Uniklinikum Carl Gustav Carus Dresden, Dresden, Deutschland
  • author Anja Hahne - Uniklinikum Carl Gustav Carus Dresden, Dresden, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 32. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Oldenburg, 24.-27.09.2015. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2015. Doc61

doi: 10.3205/15dgpp24, urn:nbn:de:0183-15dgpp244

Veröffentlicht: 7. September 2015

© 2015 Erler et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Das syntaktische Verarbeitungssystem nutzt prosodische Spracheigenschaften, um Satzstrukturanalysen durchzuführen. In dieser Studie sollte geprüft werden, ob CI-Kinder Intonationsphrasen ähnlich wie Normalhörende verarbeiten und prosodische Hinweise zur syntaktischen Strukturierung nutzen.

Material und Methoden: Prälingual beidseits hörgeschädigten Kindern mit früher bilateraler CI-Versorgung (Alter: 7–14 Jahre) und altersgematchten Kontrollkindern wurden natürlich gesprochene Sätze präsentiert. Im akustisch evozierten Potential wurde ein Marker für die Verarbeitung von Intonationsphrasen (CPS- Closure Positive Shift; vgl. Steinhauer et al., 1999) untersucht. Bei Präsentation einer prosodisch inkorrekten Satzkategorie mit resultierender Verletzung der Verbargumentstruktur ist die erste syntaktische Analyse fehlerhaft. Die dadurch entstehenden Schwierigkeiten in der semantischen und syntaktischen Verarbeitung lassen sich im EKP durch einen biphasischen N400/P600 Effekt nachvollziehen.

Ergebnisse: Bei CI-Kindern lässt sich der CPS ähnlich der Kontrollgruppe nachweisen. Bei Präsentation der prosodisch inkorrekten Sätze zeigt sich bei der Kontrollgruppe ein N400/P600-Effekt. Bei CI-Kindern wird der Marker der semantischen Verletzung (N400) nicht vom P600-Effekt (syntaktische Verarbeitung) gefolgt. Auch Nachbefragungen deuten auf Schwierigkeiten der prosodischen Wahrnehmung bei CI-Kindern hin.

Diskussion: CI-Kinder verarbeiten Intonationsphrasen und nutzen Prosodie zur Satzstrukturanalyse, konzentrieren sich dabei jedoch auf die semantische Interpretation und vernachlässigen syntaktische Restrukturierungsprozesse.

Fazit: Die Daten gehen konform mit der bei Hörgeschädigten bekannten „Schlüsselwortstrategie“. Eine ähnliche Verarbeitungsstrategie konnte auch für – jedoch nicht prosodisch induzierten – Argumentstrukturverletzungen erwachsener CI-Träger beobachtet werden (Hahne et al., 2012).


Text

Hintergrund

Prosodische Sprachinformationen wie Intonationsphrasen helfen normalhörenden Kindern beim Einstieg in den Lautspracherwerb. Darüber hinaus nutzt das Sprachverarbeitungssystem (Parser) die Prosodie auch zur initialen Satzstrukturanalyse. In der folgenden Studie wurde die Verarbeitung von Prosodie bei Kindern mit Cochlea-Implantat (CI) untersucht. Dabei standen zwei Fragestellungen im Vordergrund: 1. Verarbeiten CI-Kinder trotz des elektrischen Hörinputs Intonationsphrasen ähnlich wie normalhörende Kinder? 2. Nutzen CI-Kinder on-line prosodische Informationen zur Analyse der Satzstruktur? Dies wurde mithilfe ereigniskorrelierter Potentiale im EEG untersucht. Die Verarbeitung von Intonationsphrasengrenzen korreliert mit dem „closure positive shift“ (CPS), prosodisch induzierte Argumentstrukturverletzungen („garden-path-Effekt“) können über einen N400/P600-Komplex im evozierten Potential beobachtet werden [1]. Der N400-Effekt steht dabei im Zusammenhang mit semantischen Integrationsschwierigkeiten. Der P600-Effekt spiegelt syntaktische Reanalyseprozesse wider.

Material und Methoden

26 frühzeitig beidseits hörgeschädigte und bilateral mit Cochlea-Implantaten versorgte Kinder im Alter von 7 bis 14 Jahren sowie 26 altersgematchte normalhörende Kontrollprobanden nahmen an einer EEG-Studie teil. Der CPS wurde durch die akustische Präsentation von Sätzen mit zwei bzw. drei Intonationsphrasen untersucht. In einer weiteren Satzbedingung wurde durch „cross-splicing“ eine Argumentstrukturverletzung prosodisch induziert. Um die Aufmerksamkeit der Kinder zu garantieren, wurde eine „Probe verification task“ von den Kindern durchgeführt. Anschließend erfolgte eine Nachbefragung, bei der die Kinder die prosodische Wohlgeformtheit von Sätzen beurteilen sollten.

Ergebnisse

Der CPS konnte deskriptiv in beiden Probandengruppen ausgelöst werden. Der Effekt zeigte sich in der CI-Gruppe niedrigamplitudiger und mit etwas größerer Latenz (vgl. Abbildung 1 [Abb. 1]).

Für die prosodisch inkorrekte Satzkondition konnte in beiden Probandengruppen der biphasische N400/P600-Effekt beobachtet werden. Im Vergleich waren für die CI-Gruppe größere Latenzen zu beobachten. Der N400-Effekt war bei den CI-Gruppen stärker ausgeprägt als in der Kontrollgruppe. Bei den normalhörenden Kindern zeigte der P600-Effekt eine höhere Amplitude als bei den CI-Kindern. Zusätzlich erfolgte für beide Gruppen die getrennte Betrachtung nach Alter (< / > 10 Jahre). In der Kontrollgruppe stellte sich der N400-Effekt bei den jüngeren Kindern mit größerer Amplitude und Latenz dar. Bei den CI-Kindern war dieser Alterseffekt für die N400-Komponente ebenfalls zu beobachten. Der P600-Effekt war nur für die älteren CI-Kinder nachweisbar (Abbildung 2 [Abb. 2]).

In der Nachbefragung schnitten die Kontrollkinder signifikant besser ab als die CI-Kinder.

Diskussion

Trotz der schlechteren Beurteilung der prosodischen Wohlgeformtheit verarbeiten CI-Kinder prosodische Sprachmerkmale wie Intonationsphrasengrenzen online ähnlich wie normalhörende Kinder. Wie der Parser von Normalhörenden nutzt ihr Sprachverarbeitungssystem außerdem Prosodie zur initialen Satzstrukturanalyse. Dabei konzentrieren sich CI-Kinder jedoch stärker auf die semantische Interpretation, syntaktische Restrukturierungsprozesse sind deutlich vulnerabler. Dies geht konform mit der bei Hörgeschädigten bekannten „Schlüsselwortstrategie“, sowie beobachteten Verarbeitungsstrategien erwachsener CI-Träger [2].

Fazit

CI-Kinder verarbeiten on-line Intonationsphrasen. Sie nutzen Prosodie ähnlich wie normalhörende Kinder zur syntaktischen Analyse, lösen auftretende Konflikte jedoch stärker auf semantischer Ebene.


Literatur

1.
Steinhauer K, Alter K, Friederici AD. Brain potentials indicate immediate use of prosodic cues in natural speech processing. Nat Neurosci. 1999 Feb;2(2):191-6. DOI: 10.1038/5757 Externer Link
2.
Hahne A, Wolf A. Müller J., Mürbe D, Friederici AD. Sentence comprehension in proficient adult cochlear implant users: On the vulnerability of syntax. Lang Cogn Process. 2012;27(7-8):1192-1204. DOI: 10.1080/01690965.2011.653251 Externer Link