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31. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP) zusammen mit dem 5. Pädakustiker-Symposium der Akademie für Hörgeräte-Akustik

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

18.09. - 21.09.2014, Lübeck

Eine Überlegung zur ätiologischen Strukturierung von Stimmstörungen: „dysregulative Dysphonie“ statt „funktioneller Dysphonie“

Vortrag

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  • corresponding author presenting/speaker Tamás Hacki - Abteilung für Phoniatrie und Pädaudiologie, HNO-Klinik, Universitätsklinikum Regensburg, Regensburg, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. Akademie für Hörgeräte-Akustik. 31. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP) zusammen mit dem 5. Pädakustiker-Symposium der Akademie für Hörgeräte-Akustik. Lübeck, 18.-21.09.2014. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2014. DocHV12

doi: 10.3205/14dgpp46, urn:nbn:de:0183-14dgpp468

Veröffentlicht: 2. September 2014

© 2014 Hacki.
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Gliederung

Text

Zur Charakterisierung einer Dysphonie wird seit Jahrzehnten der Begriff „funktionelle Dysphonie“ trotz vielfacher Kritik unverändert häufig verwendet. „Funktionell“ ist problematisch, weil dieser Begriff entweder (1) im Sinne der Symptomatologie oder (2) der Ätiologie genutzt wird [1] und somit zur Verwirrung führt:

1) „Funktionelle Störung“ wird statt Funktionsstörung verwendet.

"Wie sieht es funktionell aus?“ heißt: Wie sieht es funktionsbezogen aus, wie ist die Funktion, ist ggf. eine Fehlfunktion feststellbar? Der Begriff „funktionelle Störung“ steht hier für die Symptomatologie.

[Funktionsstörungen gehören zu den häufigsten Symptomen einer Dysphonie, vorausgesetzt dass die „Dysphonie“ mit einem komplexen pathologischen Zustand gleichgesetzt wird, der zahlreiche Symptome aufweisen kann (Hacki 1988). Die Symptome können folgendermaßen gruppiert werden: organische Veränderungen, Funktionsstörungen (auf allen Ebenen des stimmerzeugenden Systems), psychische Symptome, vegetative Symptome (autonomes Nervensystem), auditiv wahrnehmbare Symptome (u. a. Heiserkeit) und sensorische (subjektive) Symptome des Patienten.]

2) „Funktionell“ wird auch im Sinne der „nichtorganischen Genese „ angewendet. Hierbei wird der Begriff im ätiologischen Sinne verstanden.

Die Definition der nichtorganischen Stimmstörung beschäftigte unsere Fachkollegen seit dem frühen 20. Jahrhundert. Der Begriff „funktionell“ wurde immer wieder wegen seiner Unschärfe kritisiert ([2], [3], [4], [5], [1] und viele andere). „Mit dieser Negativaussage werden die ätiologischen Möglichkeiten zwar eingeengt, aber nicht ausreichend differenziert.“ [1]. Nach den Negativaussagen „nicht-organisch“ und „nicht feststellbar“ definieren Hartlieb [6] und Schultz-Coulon [7], was unter „funktionell“ zu verstehen ist: eine fehlerhafte Steuerung und Regelung im Phonationssystem".

Neuere Bestimmungen des Dysphoniebegriffes folgen verschiedenen Prinzipien:

Die ätiologische Annäherung an die Stimmstörungen von Titze [8] stellt den Stimmgenerator in den Mittelpunkt und gewährt einen interessanten physikalisch-physiologischen Blick auf den Pathomechanismus, auf die Entstehung des Symptoms „Heiserkeit".

Die Nomenklatur von Morrison und Rammage [9] bevorzugt die Ebene der Symptomatologie: muscle misuse voice disorder, muscular tension dysphonia.

Besondere Aufmerksamkeit verdient das ätiologische System von Mathieson [10] in dem zwei große Komponenten gegenübergestellt werden, zum einen die „behaviorale“ und zum anderen die „organische". Die behaviorale beinhaltet „psychogene“ und „hyperfunktionelle“ Störungen (hyperfunktionelle: Stimmüberbelastung, falscher Stimmgebrauch und übermäßige Muskelspannung). Alle weitere Störungsbilder befinden sich unter den organischen Dysphonien: strukturelle angeborene Veränderungen und Traumen, neurogene, endokrine Störungen und erworbene Larynxerkrankungen.

Eine Neudefinition [11] mag davon ausgehen, dass die komplexe Funktionalität unseres Organismus zum einen auf den Organen/Strukturen, zum anderen auf deren Steuerung beruht.

Von organisch/strukturell bedingten Dysphonien wird gemeinhin gesprochen, wenn ein Organ des Phonationssystems nachweisliche strukturelle Veränderungen zeigt. Die Gründe einer nichtorganischen Störung können somit nur in der Steuerung, d.h. in der hormonellen und neurogenen Regulierung [Aus Gründen der Vereinfachung sehen wir von der Ebene der zellulären Steuerung ab] liegen. Daher der Vorschlag, alle „nichtorganischen“ Störungen unter dem Begriff „regulative Dysphonie“ einzuordnen.

Näher betrachtet:

Durch eine hormonelle Störung entsteht eine hormonell-regulative Dysphonie (z.B. Mutationsstimmstörung).

Durch strukturelle Veränderungen im zentralen und/oder peripheren Bereich des Nervensystems (stroke, Trauma, Lähmungen usw.) entstandene regulative Störungen werden als zentral oder peripher neurogen-regulative Dysphonien bezeichnet.

Es gibt auch diejenigen regulativen Stimmstörungen, die nicht durch die vorgenannten strukturellen Veränderungen des Nervensystems entstehen (also nicht unter neurogen-regulativ einzuordnen wären), sondern „nur“ aufgrund einer „Entgleisung", einer – oft vorübergehenden – Fehlsteuerung zustande kommen. Es empfiehlt sich, diese anstelle von „funktioneller Dysphonie“ als dysregulative (oder pararegulative) Dysphonie zu bezeichnen. Dieser Kategorie werden Dysphonien zugeordnet, die durch eine Störung der psychomotorischen und/oder sensomotorischen Steuerung entstehen (ponogene, psychogene, habituelle, konstitutionelle, usogene bzw. sensorische Dysphonie usw.). [Aufgrund der Anregung von Pahn [1] versteht der Autor dieses Artikels unter sensorischer Dysphonie eine Störung, die von der auditiven bzw. der somatosensorischen Rückkoppelung ausgeht.]

Organische Veränderungen vergesellschaftet mit regulativer Ätiologie (z.B. Akromegalie) können als gemischte organisch-regulative Dysphonie bezeichnet werden.

So strukturiert sich das System der Ätiologie nach dem vorgenannten Prinzip „Störungen des Organs und seiner Steuerung“:

  • organisch-strukturelle Dysphonie
  • regulative Dysphonie
    • hormonell
    • neurogen (zentral, peripher)
    • dysregulativ (pararegulativ)
  • gemischt organisch-regulative Dysphonie

Die Begriffe spiegeln hierbei nur die Ätiologie wider und vermeiden jegliche symptomatologische Konnotation wie „hyper-“ oder „hypo-", „muscle tension“ (z.B. hyperfunktionelle Dysphonie). Die Symptome auf welche diese hinweisen, sind zu pauschal und weisen darüber hinaus zeitliche wie örtliche Inkonstanz auf.

So kann zum Beispiel das Symptom „hyper-“ die Komplexität der muskulären Tonusverhältnisse zwischen den Muskelgruppen nicht darstellen: Hypotonus auf glottaler Ebene geht häufig mit Hypertonus der supraglottalen Strukturen einher, die Artikulatoren weisen unterschiedlichen Tonus auf usw., außerdem ändern sich Symptome wie Tonusauffälligkeiten im Verlauf einer Krankengeschichte häufig (siehe auch bei Pahn [1]). Auch Wendler et al. [12] weisen auf die Unbestimmtheit der Kategorisierung „hyper-“ und „hypo-“ hin.

Wenn der Untersucher in der Lage ist, wesentliche Symptome zu beschreiben, sollten diese nicht in der ätiologischen Bezeichnung erscheinen: Es scheint besser zu sein die Ätiologie mit pauschalen Symptomzusätzen nicht zu befrachten. Die Symptome finden ihren Platz als Bestandteil der Befundbeschreibung unter der (übergeordneten) Struktur der Symptomatologie (s.o.).

Fazit: Die Reduktion einer Stimmstörung auf den Begriff der „funktionellen“ Dysphonie beinhaltet keinen hinreichenden Hinweis auf ihre Ätiologie und beschränkt sich lediglich, quasi im Ausschlussverfahren, auf eine Charakterisierung als „nicht-organische“ Störung. „Regulativ“ hingegen weist konkret auf die Steuerung hin, sei sie neurogen oder hormonell. „Dysregulativ“ könnte in Analogie dazu auf eine Fehlsteuerung des Nervensystems hinweisen, wenn eine zentrale oder periphere strukturelle Veränderung im NS nicht besteht. Der Ausdruck „funktionell“ sollte wegen seiner unbestimmten, missverständlichen Aussage endlich aus der Praxis verbannt werden.


Literatur

1.
Pahn J, Friemert K. Differentialdiagnostische und terminologische Erwägungen bei sogenannten funktionellen Störung im neuropsychiatrischen und phoniatrischen Fachgebiet. 2. Phoniatrischer Aspekt. Folia Phoniat. 1988;40:168-74. DOI: 10.1159/000265906 Externer Link
2.
Barth E. Einführung in die Physiologie, Pathologie und Hygiene der menschlichen Stimme. Leipzig: Thieme; 1911. S. 411.
3.
Stern H. Klinik und Therapie der Krankheiten der Stimme. Mschr Ohrenheilk. 1924;58:1–53.
4.
Weiss DA. Der Begriff des Funktionellen mit besonderer Berücksichtigung der Sprach- und Stimmheilkunde. Mschr Ohrenheilk. 1934;68:830–2.
5.
GundermannH. Die Berufsdysphonie. VEB Thieme; 1970.
6.
Hartlieb K. Stimm- und Sprachheilkunde aus biokybernetischer Sicht. Teil III. Die Korrektur der funktionell gestörten Stimme und Sprache. Folia Foniatr. 1968;20:43-56. DOI: 10.1159/000263186 Externer Link
7.
Schultz-Coulon HJ. Die Diagnostik der gestörten Stimmfunktion. Arch Otorhinolaryngol. 1980;227(1-2):1-169. DOI: 10.1007/BF00456372 Externer Link
8.
Titze IR. Principles of voice production. Prentice-Hall, Inc; 1994
9.
Morrison MD, Rammage LA. Muscle misuse voice disorders: description and classification. Acta Otolaryngol. 1993 May;113(3):428-34. DOI: 10.3109/00016489309135839 Externer Link
10.
Mathieson L. Green and Mathieson’s The voice & its disorders. Whurr Publishers; 2001.
11.
Hacki T. Stimmphysiologie, -pathologie und –therapie. In: Hirschberg J, Hacki T, Mészáros K, Hrsg. Phoniatrie und assoziierte Disziplinen (ungarisch). Budapest: Eötvös; 2013.
12.
Wendler J, Seidner W, Kittel G, Eysholdt U. Lehrbuch der Phoniatrie und Pädaudiologie. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 1996.
13.
Hacki T. Die Dysphonie und ihre Diagnostik. Logos interdisziplinär. 1996;4(4):255-61.