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31. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP) zusammen mit dem 5. Pädakustiker-Symposium der Akademie für Hörgeräte-Akustik

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

18.09. - 21.09.2014, Lübeck

Artikulations-Handicap-Index als Mittel zur Selbsteinschätzung der Betroffenheit durch eine Aussprachestörung

Postervortrag

  • corresponding author presenting/speaker Anne Läßig - Schwerpunkt Kommunikationsstörungen, Universitätsmedizin Mainz, Mainz, Deutschland
  • author Annerose Keilmann - Schwerpunkt Kommunikationsstörungen, Universitätsmedizin Mainz, Mainz, Deutschland
  • author Tony Roberto Nuñez - Schwerpunkt Kommunikationsstörungen, Universitätsmedizin Mainz, Mainz, Deutschland
  • author Constantin Oberherr - Schwerpunkt Kommunikationsstörungen, Universitätsmedizin Mainz, Mainz, Deutschland
  • author Tadeus Nawka - Klinik für Audiologie und Phoniatrie – Charité, Berlin, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. Akademie für Hörgeräte-Akustik. 31. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP) zusammen mit dem 5. Pädakustiker-Symposium der Akademie für Hörgeräte-Akustik. Lübeck, 18.-21.09.2014. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2014. DocP10

doi: 10.3205/14dgpp38, urn:nbn:de:0183-14dgpp387

Veröffentlicht: 2. September 2014

© 2014 Läßig et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Aussprachestörungen, verursacht durch eine Dysarthrie oder Dysglossie, führen zur Einschränkung der Lebensqualität. In Deutschland sind ca. 220 000 Menschen von Dysarthrien betroffen. Bisher gibt es noch kein geeignetes Messinstrument, die vom Betroffenen empfundenen Auswirkungen auf die Lebenssituation einzuschätzen.

Material und Methoden: Wir entwickelten einen Fragebogen zur Selbsteinschätzung der Artikulationsstörung. Analog zum Voice Handicap Index (VHI) von Jacobson et al. (1997) wurden 30 Items (AHI) formuliert, die mit einem Score von 0 bis 4 eingeschätzt werden (0 = nie, 1 = selten, 2 = manchmal, 3 = oft und 4 = immer). 104 Patienten (67 Männer/37 Frauen im Alter zwischen 34 und 90 Jahren) mit Dysarthrie und 113 Patienten (76 Männer/37 Frauen im Alter von 25 bis 88 Jahren) mit Dysglossie bewerteten zwischen 2007 und 2012 mit Hilfe des AHI ihre Sprechstörung. Es wurde eine Hauptkomponentenanalyse mit Varimax-Rotation vorgenommen, um die Trennschärfe der Items zu ermitteln.

Ergebnisse: Es bestand weder ein statistisch signifikanter Unterschied zwischen den Ergebnissen beider Geschlechter noch ein Zusammenhang zur Erkrankungsdauer. Bei cerebrovaskulären Erkrankungen wurde ein Einfluss auf die Ausprägung des Handicaps bei linksseitig cerebellärer Lokalisation nachgewiesen. Jüngere nahmen ihr Handicap stärker wahr als Ältere. Items mit niedriger Trennschärfe wurden ausgeschlossen und auf 13 Fragen (AHI) reduziert.

Diskussion und Fazit: Mit dem AHI konnte die subjektiv bestehende Beeinträchtigung durch die Sprechstörung erfasst werden. Die Ausprägung ist abhängig vom Tumorstadium, der Tumorlokalisation, der Therapieform, dem Alter und der Lokalisation einer neurologischen Erkrankung. Der AHI hat sich als reliabel und vom Patienten akzeptiert erwiesen. Er kann zur Indikationsstellung für die Therapie der Aussprachestörung durch eine Logopädin und zur Kontrolle des Therapieergebnisses dienen. Die verkürzte Version sollte auf ihre klinische Eignung geprüft werden.


Text

Hintergrund

Aussprachestörungen, verursacht durch eine neurogen bedingte Dysarthrie oder strukturell bedingte Dysglossie, führen zu Einschränkungen der Lebensqualität. In Deutschland sind schätzungsweise ca. 220 000 Menschen von Dysarthrien betroffen [1]. Bisher gibt es noch kein geeignetes Messinstrument, mit dem es möglich ist, die vom Betroffenen empfundenen Auswirkungen auf seine Lebenssituation einzuschätzen.

Material und Methoden

Wir entwickelten einen Fragebogen zur Selbsteinschätzung der der Beeinträchtigung durch eine Artikulationsstörung. Analog zum Voice Handicap Index (VHI) von Jacobson et al. [2] wurden 30 Items (AHI) formuliert, die mit einem Score von 0 bis 4 eingeschätzt werden (0 = nie, 1 = selten, 2 = manchmal, 3 = oft und 4 = immer, Gesamtscore von 0 bis 120). 104 Patienten (67 Männer/37 Frauen im Alter zwischen 34 und 90 Jahren) mit Dysarthrie und 113 Patienten (76 Männer/37 Frauen im Alter von 25 bis 88 Jahren) mit Dysglossie bewerteten zwischen 2007 und 2012 mit Hilfe des AHI ihre Sprechstörung. Es wurde eine Hauptkomponentenanalyse mit Varimax-Rotation vorgenommen, um die Trennschärfe der Items zu ermitteln.

Ergebnisse

Es bestand weder ein statistisch signifikanter Unterschied zwischen den Ergebnissen beider Geschlechter noch ein Zusammenhang zur Erkrankungsdauer.

Jüngere Betroffene nahmen die Beeinträchtigung ihrer Aussprache stärker wahr als ältere.

Die Genese der Dysarthrie war traumatisch (n=1), cerebrovaskulär (ngesamt=92*, davon n=28 bulbär, n=26 kortikal rechts, n=19 kortikal links, n=6 cerebellär rechts, n=7 cerebellär links), degenerativ (n=10*, *davon n=1 sowohl cerebrovaskulär als auch degenerativ) oder entzündlich bzw. autoimmun (n=2). Die Läsionen waren kortikal rechts (26), kortikal links (19), cerebellär rechts (6) und cerebellär links (7) lokalisiert. Die Patienten waren im Mittel 68,6 Jahre (Median 72 Jahre) alt. Im Vergleich waren die Patienten mit Dysglossie mit einem Mittel von 61,8 (Median 63 Jahre) jünger.

Im AHI ergab sich ein Mittelwert im Gesamtscore von 24,26 und ein Median von 18,00 für die neurologischen Patienten: 30 (28,8%) Patienten gaben am Tag der Untersuchung eine „normale“ Aussprache, 50 (48,1%) einer „leichten“ Sprechstörung, 17 (16,3%) eine „mittelgradig" gestörte und 7 (6,7%) einer „hochgradigen“ Aussprachestörung an. Nur für die Lokalisation „cerebellär links“ ergab sich gegenüber den anderen Lokalisationen ein statistisch signifikanter Unterschied (p-Wert 0,045 im Wilcoxon-Test).

Ohne Berücksichtigung der Tumorstadien betrugen die Medianwerte der Gesamtscores des AHI bei den Patienten mit Dysglossie 8,5 nach laserchirurgischen Eingriffen (n=61), 9 sowohl bei alleiniger Radiochemotherapie (n=35) als auch ohne dokumentierte Therapie, bis 15,5 für kombinierte Therapien (Radiatio (n=14)/Radiochemotherapie mit chirurgischem Eingriff) und 16 bei konventionellen chirurgischen Eingriffen (n=20). Der Gesamtscore nahm bei den meist chirurgisch behandelten Tumorstadien T1-T3 stetig zu (T1-Tumoren (n=44): Median=8, T2 (n=34): Median=16, T3 (n=12): Median=32), während Patienten mit einem überwiegend (90,9%) radiochemisch behandelten T4-Tumor die Beeinträchtigung als geringer angaben (T4 (n=22): Median=7,5). Über alle vier Tumorstadien hinweg ergab der Kruskal-Wallis Test einen p-Wert von 0,041.

Für Patienten mit Kopf-Halstumoren lässt sich sagen, dass Patienten mit einer Gesamtscore von 0–15 meist keine Behinderung (n=53) empfinden und Werte von 16 bis 35 einer leichten Behinderung (n=41) entsprechen. Patienten, die ihre Behinderung mittelgradig (n=20) einschätzten, lagen meist zwischen 36 und 56, solche mit Werten über 57 erlebten sich stark behindert (n=6) (siehe Abbildung 1 [Abb. 1]).

Die Hauptkomponentenanalyse ergab eine einfaktorielle Lösung. Nachdem Items mit niedriger Trennschärfe ausgeschlossen wurden, umfasst der AHI noch 13 Fragen.

Diskussion und Fazit

Mit dem AHI konnte die subjektiv bestehende Beeinträchtigung durch die Sprechstörung erfasst werden. Die Ausprägung ist abhängig von der Tumorlokalisation, dem Tumorstadium d.h. der AHI steigt mit der behandelten Tumorgröße und der Therapieform (Laserchirurgie < alleinige Radiochemotherapie = ohne Therapie < kombinierte Therapien (Radiatio bzw. Radiochemotherapie mit chirurgischem Eingriff) < konventionelle Chirurgie). Einfluss hat sowohl das Alter, da Jüngere einen höheren AHI angaben, als auch die Lokalisation einer neurologischen Erkrankung. Eine Läsion des linken Cerebellums führt zu einer größeren Betroffenheit durch die Sprechstörung und scheint die Artikulation deutlich mehr zu verschlechtern als Läsionen an anderen Stellen. Der AHI hat sich als reliabel und vom Patienten akzeptiert erwiesen. Er kann zur Indikationsstellung für die Therapie der Aussprachestörung durch eine Logopädin und zur Kontrolle des Therapieergebnisses dienen.

Die verkürzte Version sollte auf ihre klinische Eignung geprüft werden. Im Vergleich zum für Patienten mit Dysarthrien von Schmich et al. [3] erstellten „Fragebogen zur kommunikativen Beeinträchtigung bei Dysarthrie“ ist der AHI ein zeitökonomisches, auch wiederholt einsetzbares, selbständig vom Patienten nutzbares Instrument, das auch für andere Sprechstörungen z.B. nach Tumorerkrankungen, angeborenen Fehlbildungen, nach Verletzungen oder im Rahmen einer zahnärztlichen Behandlung verwendet werden kann.


Literatur

1.
Ziegler W, Vogel M. Dysarthrie – verstehen, untersuchen, behandeln. Stuttgart: Thieme; 2010.
2.
Jacobson BH, Johnson A, Grywalski C, Silbergleit A, Jacobson G, Benninger MS, Newman CW. The Voice Handicap Index (VHI): Development and Validation. Am J Speech Lang Pathol. 1997 Aug; 6(3):66-70.
3.
Schmich J, Prosche J, Vogel M. Alltags- und kommunikationsbezogene Dysarthriediagnostik: Ein Fragebogen zur Selbsteinschätzung. Sprache Stimme Gehör. 2010; 34(2): 73-9. DOI: 10.1055/s-0030-1253383 Externer Link