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31. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP) zusammen mit dem 5. Pädakustiker-Symposium der Akademie für Hörgeräte-Akustik

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

18.09. - 21.09.2014, Lübeck

Der frühe expressive Wortschatzumfang von familiär und außerfamiliär betreuten Kindern

Postervortrag

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Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. Akademie für Hörgeräte-Akustik. 31. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP) zusammen mit dem 5. Pädakustiker-Symposium der Akademie für Hörgeräte-Akustik. Lübeck, 18.-21.09.2014. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2014. DocP9

doi: 10.3205/14dgpp34, urn:nbn:de:0183-14dgpp346

Veröffentlicht: 2. September 2014

© 2014 Kiese-Himmel.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Der primäre Spracherwerb hängt nicht nur von angeborenen Mechanismen ab, sondern auch von der Sprachumgebung, in der ein Kind aufwächst. Daher sollte der Effekt der Betreuungsform eines jungen Kindes auf seinen expressiven Wortschatzumfang untersucht werden.

Material und Methoden: Stichprobe: 546 monolingual deutschsprachig aufwachsende, sog. normalgesunde Kinder im Alter von 18–26 Monaten. 116 Kinder (mittl. Alter: 23,0; SD 2,2 Mon.) wurden zu Hause (familiär) betreut; 430 (mittl. Alter: 22,7; SD 2,4 Mon.) waren in regelmäßiger außerfamiliärer Kindergruppenbetreuung mit unterschiedlicher Betreuungsdauer: „hoch“ (>20 Wochenstunden [n=245]) vs. „niedrig“ (≤20 Wochenstunden [n=180]). Untersuchungsinstrument: Elternfragebogen ELAN-R (Bockmann & Kiese-Himmel 2012).

Ergebnisse: Der Wortschatzumfang insgesamt lag bei Kindern mit hoher externer Betreuungsdauer im Durchschnitt bei 164,4 Wörtern. Etwas niedriger, aber nicht statistisch bedeutsam, war er bei familiär betreuten Kindern (158,5 Wörter) und bei Kindern mit niedriger externer Betreuungsdauer (151,3 Wörter). Auch die durchschnittliche Wortzahl in den einzelnen Wortklassen sowie nominalen Sachfeldern unterschied die Gruppen nicht statistisch signifikant. In einer multiplen Kovarianzanalyse hatten einen signifikanten Einfluss auf den Wortschatzumfang: Geschlecht (p<.001), Einzelkindstatus (p<.05), Bildungsabschluss der Mutter (p<.001). 22% der Varianz (Effektgröße ŋ2) im gesamten Wortschatzumfang ging statistisch bedeutsam auf das Geschlecht zurück, 9% auf den Schulabschluss der Mutter und 6% auf den Einzelkindstatus.

Diskussion: Möglicherweise wären die Ergebnisse bei Berücksichtigung der Ausstattungsqualität einer Kita anders ausgefallen.

Fazit: Vielleicht wird die Bedeutung von Einrichtungen der Kindertagesbetreuung für die frühe Wortschatzentwicklung – sofern es sich nicht um Migrantenkinder oder Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern handelt – überschätzt.


Text

Hintergrund

Die frühe Wortschatzentwicklung wird durch biologische Faktoren (z.B. Geschlecht eines Kindes; Alter der Mutter), sozio-familiäre (z.B. Geschwisterstatus) sowie sozio-ökonomische Faktoren (z.B. Bildungsstatus der Mutter) beeinflusst. Im Erwerb des expressiven Lexikons sind Mädchen den Jungen voraus [1]. Erstgeborene wie auch Einzelkinder haben ein schnelleres lexikalisches Wachstum als Geschwisterkinder [2]. Kinder von Müttern mit höherer Bildung verfügen über ein größeres Vokabular als Kinder von weniger gebildeten Müttern [3]. Zum Lebens- und Lernumfeld eines Kindes gehört aber nicht nur das familiäre Umfeld; auch außerfamiliäre Lernkontexte wie Krippe, Krabbelstube und Kindergarten sind wichtig. Die vorliegende Studie untersucht den Einfluss der Betreuungsform auf den expressiven Wortschatzumfang von Kleinkindern.

Material und Methoden

Studienkollektiv: Das Studienkollektiv umfasste 546 Kinder im Alter von 18 bis 26 Monaten mit alterstypischer Entwicklung, die für die empirische Erprobung des Elternfragebogens zur Wortschatzentwicklung im frühen Kindesalter (ELAN-R; [4]) bundesweit von Oktober 2010–Juni 2011 in 14 deutschen Bundesländern in dörflichen, klein-, mittel- und großstädtischen Einzugsgebieten rekrutiert worden waren. Von ihnen wurden

  • 116 Kinder (21%) im mittl. Alter von 23,0 (SD 2,2) Monaten (46% Jungen; 54% Mädchen) zu Hause betreut, hierunter 45% Einzelkinder. 56% der Mütter waren nicht berufstätig; ihr Bildungsabschluss war tendenziell niedriger.
  • 430 Kinder (79%) im mittl. Alter von 22,7 (SD 2,4) Monaten (50% Jungen; 50% Mädchen) waren in einer regelmäßigen außerfamiliären Kindergruppenbetreuung. Für 245 Kinder (mittl. Alter: 22,6 [SD 2,5] Monate; 48% Jungen; 52% Mädchen; 43% Einzelkinder) betrug der institutionelle zeitliche Betreuungsumfang mehr als 20 Wochenstunden, war also eher „hoch“. Für 180 Kinder (mittl. Alter: 22,8 [SD 2,2] Monate; 53% Jungen; 47% Mädchen; 60% Einzelkinder) war der wöchentliche Betreuungsumfang eher „niedrig“ (≤20 Stunden).

Vergleichbar waren beide Untergruppen hinsichtlich ihres Durchschnittsalters (p=.720), der mittleren Besuchsdauer der Betreuungseinrichtung (p=.327) und des Geschlechts (p=.326); sie unterschieden sich hinsichtlich des Geschwisterstatus (Chi2 11,00; df =1; p=.001) und des höchsten Bildungsabschlusses ihrer Mutter (Chi2 27,03; df=5; p=.000). 51% der Mütter von Kindern mit hoher wöchentlicher Betreuung hatten einen Fach- bzw. Hochschulabschluss und waren in 83% aller Fälle berufstätig (vs. 31% der Mütter von Kindern mit niedriger außerfamiliärer Betreuung und 59 % Berufstätigkeit).

Untersuchungsinstrument: ELAN-R mit einer alterstypischen Wortschatz-Checkliste von 319 Wörtern aus verschiedenen Wortklassen (205 Nomen; 34 Verben; 8 Hilfs- u. Modalverben; 23 Adjektive; 16 Adverbien, Konjunktionen u. Präpositionen; 15 Pronomen u. Artikel; 6 Wörter zu Zahlen u. Mengen; 3 Fragewörter) sowie einer Kategorie „Interjektionen, Antwortpartikel, soziale Routinen“ mit 9 Wörtern. Der Nomenwortschatz ist in 10 Sachfelder untergliedert.

Ergebnisse

Nach Elternangaben war der gesamte Wortschatzumfang bei Kindern mit hoher außerfamiliärer Kindergruppenbetreuung im Durchschnitt etwas größer (164,4 Wörter) als bei familiär betreuten Kindern (158,5 Wörter) und bei Kindern mit niedriger außerfamiliärer Kindergruppenbetreuung (151,3 Wörter). Eine statistische Testung der lexikalischen Mittelwertunterschiede (MANOVA) fiel insignifikant aus. Ähnlich war das Ergebnis bzgl. der einzelnen Wortklassen. Für „Interjektionen, Antwortpartikel, soziale Routinen“; „Zahlen u. Mengen“ sowie „Adverbien, Konjunktionen u. Präpositionen“ wurde für familiär betreute Kinder sowie solchen mit hoher außerfamiliärer Betreuung im Durchschnitt ein gleich großes Lexikon angegeben. Auch hinsichtlich des durchschnittlichen Wortschatzumfangs in den einzelnen nominalen Sachfeldern war die mittlere Größe des expressiven Lexikons ähnlich. Institutionell betreute Kinder mit wöchentlich hoher Besuchsdauer hatten im arithmetischen Mittel den größten Wortschatzumfang, ausgenommen das Sachfeld „Leute“, in dem familiär betreute Kinder ein durchschnittlich gleich großes Schätzurteil erhielten. Alle lexikalischen Gruppendifferenzen waren klein und statistisch insignifikant.

Anschließend wurde eine multivariate Kovarianz-Analyse mit den Kovariaten Geschlecht, Einzelkindstatus, Bildungsabschluss sowie Berufstätigkeit der Mutter gerechnet. Die Gruppengrößen waren ungleich, d.h. es handelte sich um ein sog. „unbalanced design“, was bei der Analyse der Gleichheit der Kovarianzmatrizen berücksichtigt wurde. Pillai’s Spur-Test war signifikant für Geschlecht (p<.001), Einzelkindstatus (p<.05), Bildungsabschluss der Mutter (p<.001) und belegte damit einen relevanten Einfluss dieser Variablen auf den angegebenen Wortschatzumfang. Das multivariate Wirkungsausmaß, die erklärte Varianz (partielles Eta-Quadrat η2), war unterschiedlich groß. Am deutlichsten war der Einfluss des Geschlechts mit ca. 22% erklärter Varianz (großer Effekt). Die Schulbildung der Mutter erklärte ca. 9% und der Einzelkindstatus ca. 6% der lexikalischen Variation (mittlere Effekte). Die Berufstätigkeit der Mutter hatte faktisch keinen Einfluss (5%; n.s.).

Diskussion

Die frühe Wortschatzentwicklung soll von Menge und Qualität des Sprachinputs, mit der ein junges Kind konfrontiert ist, bestimmt werden, doch als bedeutendster Einflussfaktor für die Größe des frühen expressiven Lexikons erwies sich eine biologische Variable, das Geschlecht. Zwar war im quantitativ-lexikalischen Vergleich von familiär und außerfamiliär betreuten Kindern ein deskriptiver Unterschied in deren mittleren Wortschatzumfängen sichtbar, er schlug sich aber nicht statistisch bedeutsam nieder. Vielleicht wären die Ergebnisse bei Berücksichtigung der (Ausstattungs-)Qualität einer Kita anders ausgefallen.

Fazit

Möglicherweise wird die Bedeutung von Einrichtungen der Kindertagesbetreuung für die frühe Wortschatzentwicklung – sofern es sich nicht um Migrantenkinder oder Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern handelt – überschätzt oder die der familiären Lernwelt wird unterschätzt. Eine Replikation der Studie ist wichtig, da ggf. wesentliche Erkenntnisse für frühe förderpädagogische Konzepte im bildungspolitischen Kontext resultieren.


Literatur

1.
Stolt S, Haataja L, Lapinleimu H, Lehtonen L. Early lexical development of Finnish children: A longitudinal study. First Lang. 2008;28(3):259-79. DOI: 10.1177/0142723708091051 Externer Link
2.
Goldfield BA, Reznick JS. Early lexical acquisition: rate, content, and the vocabulary spurt. J Child Lang. 1990; 17(1):171-83. DOI: 10.1017/S0305000900013167 Externer Link
3.
Schults A, Tulviste T, Konstabel K. Early vocabulary and gestures in Estonian children. J Child Lang. 2012; 39(3):664-86. DOI: 10.1017/S0305000911000225 Externer Link
4.
Bockmann AK, Kiese-Himmel C. Eltern Antworten-Revision (ELAN-R) – Elternfragebogen zur Wortschatzentwicklung im frühen Kindesalter. Göttingen: Beltz; 2012.