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31. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP) zusammen mit dem 5. Pädakustiker-Symposium der Akademie für Hörgeräte-Akustik

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

18.09. - 21.09.2014, Lübeck

Frühe Diagnose, frühe technische Versorgung, frühe Förderung – reicht das wirklich?

Hauptvortrag

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Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. Akademie für Hörgeräte-Akustik. 31. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP) zusammen mit dem 5. Pädakustiker-Symposium der Akademie für Hörgeräte-Akustik. Lübeck, 18.-21.09.2014. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2014. DocHV5

doi: 10.3205/14dgpp20, urn:nbn:de:0183-14dgpp204

Veröffentlicht: 2. September 2014

© 2014 Hintermair.
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Zusammenfassung

Die Fachdisziplinen, die sich mit der Entwicklung und Förderung gehörloser und schwerhöriger (gl/sh) Kinder befassen, befinden sich im 21. Jahrhundert in einer komfortablen Situation: Die Entwicklungsmöglichkeiten gl/sh Kinder sind heute so gut wie nie zuvor in der Geschichte der Hörgeschädigtenpädagogik. Die Gründe hierfür sind die heute durch das Neugeborenen-Hörscreening möglich gewordene frühe Erfassung eines Großteils der Kinder mit einem signifikanten Hörverlust, die sich anschließende ebenfalls frühe technische Versorgung der Kinder mit modernen Hörgeräten oder Cochlea-Implantaten und verknüpft damit eine ebenfalls frühe Förderung der Gesamtentwicklung der Kinder. Dass dadurch allerdings (leider) nicht alle Probleme schon bewältigt sind, die durch einen frühkindlichen Hörverlust entstehen können, zeigen zahlreiche empirische Befunde zur Entwicklung von gl/sh Kindern in Bezug auf deren kognitive, sprachliche, soziale-kognitive und sozial-emotionale Entwicklung. Was bislang noch immer unterschätzt wird, sind die Auswirkungen des „Nicht-so-gut-Hörens“ auf die Entwicklung von Kindern in den verschiedensten Entwicklungsbereichen. Die vorliegenden Befunde zeigen, dass gl/sh Kinder nicht nur Kinder sind, die nicht hören, sondern Kinder, die aufgrund des nicht (so gut) Hörens spezifische Bedürfnisse in Bezug auf Lernen haben! Es gilt – vor allem im Kontext der aktuellen und intensiven Diskussionen im Zusammenhang mit der Inklusion – diese Besonderheiten des Lernens und der Entwicklung gl/sh Kinder in Erfahrung zu bringen, um für sie in der Schule, aber auch insgesamt in der Gesellschaft Bedingungen bereitzustellen, die ihren Entwicklungsbedürfnissen gerecht werden. Der Beitrag unternimmt den Versuch, auf der Basis evidenzbasierter empirischer Befunde Chancen und Herausforderungen der Entwicklungssituation von gl/sh Kindern zu dokumentieren und dafür zu sensibilisieren, um Chancengleichheit herzustellen.


Text

Die Fachdisziplinen, die sich mit der Entwicklung und Förderung hörgeschädigter Kinder befassen, befinden sich im 21. Jahrhundert in einer komfortablen Situation: Die Entwicklungsmöglichkeiten hörgeschädigter Kinder sind heute so gut wie nie zuvor in der Geschichte der Hörgeschädigtenpädagogik [7]. Die Gründe hierfür sind die heute durch das Neugeborenen-Hörscreening möglich gewordene frühe Erfassung eines Großteils der Kinder mit einem signifikanten Hörverlust (>30 dB), die sich anschließende ebenfalls frühe technische Versorgung der Kinder mit modernen Hörgeräten oder Cochlea-Implantaten und verknüpft damit eine ebenfalls frühe Förderung der Gesamtentwicklung der Kinder. Wurden hochgradig hörgeschädigte Kinder früher im Durchschnitt mit ca. 26 Monaten erst erfasst und dann entsprechend nach der Mitte des dritten Lebensjahrs erst von der Frühförderung betreut, sind wir heute in der Lage, allerspätestens im Alter von sechs Monaten (und oft auch schon nach wenigen Wochen) die Familien mit einem hörgeschädigten Kind mit einem familienzentrierten Förderansatz zu begleiten.

Dass dadurch allerdings (leider) nicht alle Probleme schon bewältigt sind, die durch einen frühkindlichen Hörverlust entstehen können, zeigen zahlreiche empirische Befunde, die deutlich machen, dass die Entwicklung hörgeschädigter Kinder offensichtlich besonderen Herausforderungen ausgesetzt ist. So machen Ergebnisse der Kognitionsforschung (vgl. [6]), zur Literalität (vgl. [8]) oder zur sozial-emotionalen Entwicklung (vgl. [1], [3]) – um nur einige wichtige Entwicklungsbereiche zu nennen – sichtbar, dass durch Einschränkungen der auditiven Wahrnehmung und/oder damit im Zusammenhang stehende Entwicklungen zahlreiche Prozesse beeinflusst werden, die für eine effektive interaktive Welterschließung bedeutsam sind und die in der Erziehung und Bildung hörgeschädigter Kinder besondere Beachtung finden müssen. Calderon & Greenberg halten in Bezug auf die hierfür relevanten Prozesse fest, dass „… across all developmental periods, competent functioning is associated with the ability to coordinate affect, cognition, communication, and behavior“ ([1] p. 189). Es ist hinreichend bekannt, dass viele hörgeschädigte Kinder Erfahrungen in ihrer Entwicklung machen (müssen), die diese Integration von Sprache, Kognition und Affekt erschweren [2].

Was bislang somit noch immer unterschätzt wird, sind die Auswirkungen des „Nicht-so-gut-Hörens“ auf die Entwicklung von hörgeschädigten Kindern. Die vorliegenden Befunde bestärken in der Auffassung, dass hörgeschädigte Kinder nicht nur Kinder sind, die nicht hören, sondern Kinder, die aufgrund des nicht (so gut) Hörens spezifische Bedürfnisse in Bezug auf das Lernen haben! Es gilt – vor allem im Kontext der aktuellen und intensiven Diskussionen im Zusammenhang mit der Inklusion – diese Besonderheiten des Lernens und der Entwicklung hörgeschädigter Kinder in Erfahrung zu bringen, um für sie in der Schule, aber auch insgesamt in der Gesellschaft Bedingungen bereitzustellen, die ihren Entwicklungsbedürfnissen gerecht werden.

Um hörgeschädigte Kinder angemessen in ihrer Entwicklung fördern zu können braucht es also Wissen, wie diese Kinder lernen. Dazu gehört Wissen, wie Kinder, die nicht oder nicht gut hören, eigentlich „ticken“, d.h. wie ihre Wahrnehmung der Welt ist und was sie benötigen, damit ihre Bedürfnisse angemessen befriedigt werden können. Dazu bedarf es zweierlei: Einmal fundiertes Wissen darüber, wie Lernen grundsätzlich von statten geht und zum anderen ebenso fundiertes Wissen darüber, wie Lernen im Kontext von Gehörlosigkeit oder Schwerhörigkeit geschieht. Wenn man hörgeschädigte Kinder effektiv fördern oder unterrichten will, braucht es dieses Wissen, damit pädagogische Interventionen anschlussfähig sein bzw. werden können an die Lernvoraussetzungen der Kinder und dass die entsprechenden Bedingungen, die sie für eine gute Entwicklung brauchen, zur Verfügung gestellt werden können [5], [4].

Angesichts des heute verfügbaren Wissens darüber, wie komplex Lernprozesse bei Kindern sind, erstaunt es etwas, wenn man einen Blick in die Geschichte der Hörgeschädigtenpädagogik wirft, und dabei feststellen muss, dass hier in der Vergangenheit oft recht simple Antworten auf äußerst komplexe Fragen gegeben wurden. So war die Arbeit an den Schulen für Hörgeschädigte lange Zeit von der Kontroverse „Lautsprache versus Gebärdensprache in der Unterrichtung der Schüler“ bestimmt. Wie wir heute wissen, ist diese Frage nicht das wesentliche Thema der Hörgeschädigtenpädagogik, sondern die wirklich wichtigen Fragen der Erziehung und Bildung hörgeschädigter Kinder sind viel grundlegender: Es sind Fragen nach: Wie lernen hörgeschädigte Kinder überhaupt, worin unterscheiden sie sich im Lernen vom Lernen hörender Kinder und was brauchen sie, um sich mit ihren Potenzialen in vergleichbarer (nicht: gleicher!) Weise zu entwickeln wie hörende Kinder auch?

Das sind die Herausforderungen, vor denen alle Menschen (Fachleute verschiedenster Disziplinen wie Eltern) stehen, die mit der Förderung, Erziehung und Bildung hörgeschädigter Kinder befasst sind. Diese Herausforderungen sind durch die aktuellen Inklusionsbemühungen allerorts nicht weniger, sondern eher noch bedeutsamer geworden!


Literatur

1.
Calderon R, Greenberg M. Social and emotional development of deaf children: Family, school, and program effects. In: Marschark M, Spencer PE, eds. Oxford handbook of deaf studies, language, and education. Volume 1. Second edition. Oxford, NY: Oxford University Press; 2011. p. 188-99.
2.
Greenberg MT, Kusché CA. Preventive intervention for school-age deaf children: the PATHS curriculum. J Deaf Stud Deaf Educ. 1998 Winter;3(1):49-63. DOI: 10.1093/oxfordjournals.deafed.a014340 Externer Link
3.
Hintermair M. Psychosocial development in deaf and hard-of-hearing children in the 21st century: Opportunities and challenges. In: Marschark M, Tang G, Knoors H, eds. Bilingualism and bilingual deaf education. Oxford, NY: Oxford University Press; 2014. p. 152-86.
4.
Hintermair M, Knoors H, Marschark M. Gehörlose und schwerhörige Kinder unterrichten. Psychologische und entwicklungspsychologische Grundlagen. Heidelberg: Median; 2014 (in Vorbereitung).
5.
Hintermair M, Knoors H, Marschark M. Was wir über Lernprozesse gehörloser und schwerhöriger Kinder wissen: Überlegungen auf der Grundlage evidenzbasierter Forschungsergebnisse. HörgeschädigtenPädagogik. 2014;68(1):6-16.
6.
Marschark M, Wauters L. Cognitive functioning in deaf adults and children. In: Marschark M, Spencer PE, eds. Oxford handbook of deaf studies, language, and education. Volume 1. Second edition. Oxford, NY: Oxford University Press; 2011. p. 486-99.
7.
Spencer PE, Marschark M. Evidence-based practice in education deaf and hard-of-hearing students. Oxford, NY: Oxford University Press; 2010.
8.
Trezek BJ, Wang Y, Paul PV. Processes and components of reading. In: Marschark M, Spencer PE, eds. Oxford handbook of deaf studies, language, and education. Volume 1. Second edition. Oxford, NY: Oxford University Press; 2011. p. 99-114.