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30. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

20.09. - 22.09.2013, Bochum

Dysphagiediagnostik und -therapie im Wandel: Implikationen für das Fachgebiet der Phoniatrie und Pädaudiologie

Hauptvortrag

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  • corresponding author presenting/speaker Heidrun Schröter-Morasch - Entwicklungsgruppe Klinische Neuropsychologie EKN, Städtisches Klinikum München GmbH, Klinikum Bogenhausen, Entwicklungsgruppe Klinische Neuropsychologie EKN, München, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 30. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Bochum, 20.-22.09.2013. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2013. DocHV10

doi: 10.3205/13dgpp62, urn:nbn:de:0183-13dgpp620

Veröffentlicht: 5. September 2013

© 2013 Schröter-Morasch.
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Zusammenfassung

Diagnostik und Therapie der Dysphagie haben sich im Verlauf der letzten 10 Jahre als anerkannter Bestandteil der Akutversorgung und der Rehabilitationsmedizin bei einer Vielzahl von Erkrankungen, insbesondere der Neurologie und der Onkologie, etabliert. Zur Anerkennung der Dysphagie als wesentlichem Faktor des Verlaufs neurologischer Erkrankungen haben die seit 2005 veröffentlichten „Leitlinien der Neurogenen Dysphagien“ wesentlich beigetragen. Sie spiegeln die Verschiebungen des Schwerpunkts in diagnostischer und therapeutischer Hinsicht wider. Diagnostisch werden Methoden mit hoher Sensitivität und Spezifität gefordert. Danach sind ein Teil der Klinischen Untersuchungen nur als Screeningverfahren anzusehen, für ursachenorientierte ausführliche Schluckuntersuchungen gibt es nach wie vor keinen Standard, jedoch Empfehlungen. Unter den instrumentellen Diagnoseverfahren galt die radiologische Diagnostik über Jahrzehnte als „Goldstandard“. Neuere Studien zeigen jedoch, dass die endoskopische Diagnostik in Sensitivität und Spezifität der Erkennung pathologischer Dysphagiesymptome der Videofluoroskopischen Untersuchung gleichwertig und daher in der Basisdiagnostik als überlegen anzusehen ist. Im Bereich der Therapie ist ein Wandel von Methoden unterschiedlicher „Schulen“ zu pathophysiologisch begründeten evidenzbasierten Verfahren zu verzeichnen. Als ein Ergebnis dieser Veränderungen wurde nun erstmals der Nachweis erbracht, dass durch ein verbessertes Dysphagiemanagement nach Schlaganfall die Pneumonierate und damit auch die Sterblichkeitsrate gesenkt werden kann. Im Vortrag werden die positiven Aspekte dieser Entwicklungen für unser Fachgebiet aufgezeigt, aber auch die Herausforderungen durch andere Fachgebiete und nichtärztliche Berufsgruppen erörtert, denen wir uns stellen müssen.


Text

Vor nunmehr 30 Jahren erschien mit dem Buch „Evaluation and Treatment of Swallowing Disorders“ die erste umfassende Publikation von J.A. Logemann zu dem bis dahin nur in Teilbereichen beschriebenen Symptomkomplex „Schluckstörungen“, welcher kein eigenes Krankheitsbild darstellt, sondern stets Folge unterschiedlicher Erkrankungen ist. Seitdem ist eine Fülle an Literatur zu Ätiologie, Physiologie und Pathophysiologie, diagnostischen Verfahren sowie therapeutischer Maßnahmen und deren Evaluation erschienen. Diagnostik und Therapie der Dysphagie haben sich auch in Deutschland im Verlauf der letzten 10 Jahre als anerkannter Bestandteil der Akutversorgung und der Rehabilitationsmedizin bei einer Vielzahl von Erkrankungen, insbesondere der Neurologie und der Onkologie, etabliert. Zur Anerkennung der Dysphagie als wesentlichem Faktor des Verlaufs neurologischer Erkrankungen haben die seit 2005 veröffentlichten „Leitlinien der Neurogenen Dysphagien (ND)“ wesentlich beigetragen [1]. Sie spiegeln die Verschiebungen der Schwerpunkte in diagnostischer und therapeutischer Hinsicht wider.

Diagnostisch werden Methoden mit hoher Sensitivität und Spezifität gefordert. Bezüglich der Klinischen Schluckuntersuchungen erfüllen zwar einige Aspirationsschnelltests die Anforderungen hinsichtlich der Aussagekraft, sie sind dennoch nur als Screeningverfahren einzustufen. Auch für ursachenorientierte ausführliche Schluckuntersuchungen gibt es nach wie vor keinen Standard, jedoch Empfehlungen. Unter den instrumentellen Diagnoseverfahren galt die radiologische Diagnostik über Jahrzehnte als „Goldstandard“. Zahlreiche Studien zeigten jedoch, dass die endoskopische Diagnostik in Sensitivität und Spezifität der Erkennung pathologischer Dysphagiesymptome der Videofluoroskopischen Untersuchung als gleichwertig anzusehen ist. Sie hat daher entsprechenden Eingang in die Leitlinien gefunden und wird nunmehr wegen der relativ leichten Verfügbarkeit, der Mobilität der Untersuchungseinheit und der geringen Beeinträchtigung des Patienten durch die Untersuchung in Akutkliniken sowie neurologischen und geriatrischen Rehabilitationskliniken häufig schon als Routinediagnostik eingesetzt. Da die pathophysiologischen Ursachen jedoch überwiegend nur durch die Videofluoroskopische Untersuchung des Schluckvermögens definierbar sind, werden beide Methoden in den Leilinien als sich ergänzende Untersuchungen dargestellt.

Im Bereich der Therapie werden in den Leitlinien sowohl Empfehlungen nach relevanten Studien zum Management von Trachealkanülen und Sondenernährung als auch zur Therapie dysphagiebegleitender Symptome wie vermehrtem Speichelfluss, Mundtrockenheit und Reflux ausgesprochen. Besonders eingegangen wird auf die Funktionell-orientierte Dysphagietherapie, welche in den Zuständigkeitsbereich speziell ausgebildeter Sprachtherapeuten/ Logopäden fällt. Der Erfolg einer frühzeitigen intensiven Schlucktherapie nach akutem Schlaganfall ist durch eine Studie von Carnaby et al. [2] belegt. Die wichtigsten Studien zur Wirksamkeit verschiedener restituierender, kompensatorischer und adaptiver Therapieverfahren werden bewertet (ausführlicher Überblick bei Bartolome [3]) und belegen den Wandel von Methoden unterschiedlicher „Schulen“ zu pathophysiologisch begründeten evidenzbasierten Verfahren.

Als ein Ergebnis dieser Veränderungen wurde nun erstmals der Nachweis erbracht, dass durch ein verbessertes Dysphagiemanagement nach Schlaganfall die Pneumonierate und damit auch die Sterblichkeitsrate gesenkt werden kann [4]. Abgesehen von dem Effekt für die Patienten dürften diese Zahlen für Verhandlungen mit Kostenträgern von großer Bedeutung sein.

Neben diesen positiven Aspekten gibt es jedoch auch Entwicklungen, welche zu diskutieren sind: In vielen Einrichtungen wird die Videoendoskopische Untersuchung vermehrt durch nicht HNO-ärztlich bzw. phoniatrisch ausgebildete Kollegen durchgeführt. Neuerdings gibt es Bestrebungen, auch Logopäden/Sprachtherapeuten wie in den USA und einigen europäischen Ländern diese Untersuchung durchführen zu lassen. In einer jüngsten Veröffentlichung werden als Voraussetzung für eine selbständige Untersuchung mit dem Flexiblen Naso-Pharyngo-Laryngoskop lediglich ca. 30 Untersuchungen unter Supervision angegeben, ja schon ein Kompaktkurs befähige zur Erkennung der Hauptsymptome einer Dysphagie [5]. Diese erschreckend niedrigen Anforderungen dürften sich in vielfacher Weise in der Qualität von Durchführung und Befundbeurteilung niederschlagen. Weder ausreichende manuelle Fertigkeit noch die Fähigkeit zur Erkennung wesentlicher struktureller und funktioneller Störungen des Pharynx und Larynx dürften gegeben sein, ebenso wie die Erkennung häufiger begleitender Stimmstörungen sowie möglicher durch die Dysphagietherapie bedingter Fehlfunktionen.

Weiterhin erscheint bedenklich, dass die Radiologische Untersuchung im deutschsprachigen Raum nur noch sehr wenig Beachtung findet und nur in vereinzelten Zentren eingesetzt wird. Nach wie vor ist sie die einzige Untersuchung, welche die pathophysiologischen Ursachen einer Dysphagie als Grundlage einer zielgerichteten Therapie erfassen kann. Orale Boluskontrolle, Schluckreflextriggerung, pharyngeale Kontraktion, Kehlkopfhebung und -anteriorbewegung, Öffnung des Oberen Ösophagussphinkters und ösophageale Propulsion sind zuverlässig nur durch eine Videofluoroskopische Untersuchung zu beurteilen, ebenso das intradeglutitive Auftreten und das Ausmaß einer Aspiration. Den unbestreitbaren Vorteilen der endoskopischen Schluckdiagnostik in der Frühphase, d.h. auf Intensivstationen und in operativen Einrichtungen sowie zur Therapieevaluation steht daher nach wie vor die Notwendigkeit der Radiologischen Untersuchung zur Erstellung eines adäquaten Behandlungspfades gegenüber.

Wir sollten daher in unserem Fachbereich sowohl die positiven Entwicklungen nutzen als auch nachteiligen Tendenzen entgegenwirken, indem wir unsere Fachkompetenz stärker einbringen und sowohl mehr Präsenz in der stationären und ambulanten Versorgung zeigen als auch im Forschungsbereich und in der Zusammenarbeit mit den entsprechenden deutschen und internationalen Gesellschaften. Darüber hinaus ist eine Intensivierung der Kooperation mit den HNO-Fachkollegen und insbesondere den Sprachtherapeuten/Logopäden unerlässlich.


Literatur

1.
Prosiegel M, Bartolome G, Biniek R, Fheodoroff K, Schlaegel W, Schröter-Morasch H, Steube D, Witte U, Saltuari U. Neurogene Dysphagien. In: Diener HC, Putzki N, Hrsg. Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Stuttgart: Thieme; 2012. p. 908-19.
2.
Carnaby G, Hankey GJ, Pizzi J. Behavioural intervention for dysphagia in acute stroke: a randomised controlled trial. Lancet Neurol. 2006 Jan;5(1):31-7. DOI: 10.1016/S1474-4422(05)70252-0 Externer Link
3.
Bartolome G. Grundlagen der Funktionellen Dysphagietherapie FDT. In: Bartolome G, Schröter-Morasch H, Hrsg. Schluckstörungen - Diagnostik und Rehabilitation. 4. Aufl. Elsevier; 2010.
4.
Nimptsch U, Mansky T. Trends in acute inpatient stroke care in Germany--an observational study using administrative hospital data from 2005-2010. Dtsch Arztebl Int. 2012 Dec;109(51-52):885-92. DOI: 10.3238/arztebl.2012.0885 Externer Link
5.
Dziewas R, Busse O, Glahn J, et al. FEES auf der Stroke-Unit. Nervenarzt. 2013;84:705-8. DOI: 10.1007/s00115-013-3791-y Externer Link