gms | German Medical Science

30. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

20.09. - 22.09.2013, Bochum

Auslösesituationen psychosomatisch bedingter Stimmstörungen

Vortrag

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 30. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Bochum, 20.-22.09.2013. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2013. DocV25

doi: 10.3205/13dgpp60, urn:nbn:de:0183-13dgpp600

Veröffentlicht: 5. September 2013

© 2013 Deuster et al.
Dieser Artikel ist ein Open Access-Artikel und steht unter den Creative Commons Lizenzbedingungen (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/deed.de). Er darf vervielfältigt, verbreitet und öffentlich zugänglich gemacht werden, vorausgesetzt dass Autor und Quelle genannt werden.


Zusammenfassung

Hintergrund: Die Diagnose einer „psychogenen Stimmstörung“ im Sinne einer dissoziativen Bewegungsstörung (F44.4) wird in der Praxis oft als „Ausschlussdiagnose“ gestellt, obwohl sie konkrete diagnostische Kriterien besitzt. So darf keine körperliche Krankheit die für die Störung charakteristischen Symptome erklären und ein „überzeugender zeitlicher Zusammenhang zwischen den dissoziativen Symptomen und belastenden Ereignissen, Problemen und Bedürfnissen“ muss bestehen (Auslösesituation). Ziel dieser Arbeit war, im klinischen Kontext erhobene biografische Anamnesen auf mögliche Auslösesituationen hin zu untersuchen.

Material und Methoden: Bei 8 Patienten (7w, 1m) mit Verdacht auf psychosomatische Stimmstörungen, die in der phoniatrischen Erstuntersuchung keine Auslösesituation benennen konnten, wurde eine biografische Anamnese von maximal 60 Minuten Dauer erhoben. Bei 4 Patienten bestanden Dysphonien, bei 2 Aphonien und weiteren 2 eine wechselnd dys- und aphone Stimmgebung. Klinik und Befund mussten gegen eine primär organisch- oder fehlbelastungs-bedingte Symptomatik sprechen. Die Beurteilung erfolgte in Anlehnung an die Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik. Sie wurde verschriftlicht und supervidiert.

Ergebnisse: Bei 5 Patienten konnten mit Kenntnis biografischer Besonderheiten Auslösesituationen eruiert werden. Bei 3 Patientinnen gelang dies durch ein einmaliges Gespräch nicht: 2 Patientinnen wiesen eine abgewehrte Konflikt- und Gefühlswahrnehmung (OPD-2) auf und bei einer Patientin war die Symptomatik über 25 Jahren chronifiziert, so dass der Beginn nicht mehr sicher erinnert wurde.

Diskussion: Neben psychischen Traumata i.e.S. sollten Auslösesituationen für psychosomatische Stimmstörungen in der aktuellen Lebenssituation auf dem Hintergrund der Biographie gesucht werden. Zumindest die Verdachtsdiagnose kann der Phoniater auch im Rahmen der Psychosomatischen Grundversorgung erarbeiten.


Text

Einleitung

Die Diagnose einer „psychogenen Stimmstörung“ im Sinne einer dissoziativen Bewegungsstörung (F44.4) wird in der Praxis oft als „Ausschlussdiagnose“ gestellt, obwohl sie konkrete diagnostische Kriterien besitzt. So darf keine körperliche Krankheit die für die Störung charakteristischen Symptome erklären und ein „überzeugender zeitlicher Zusammenhang zwischen den dissoziativen Symptomen und belastenden Ereignissen, Problemen und Bedürfnissen“ muss bestehen (Auslösesituation) [1]. Der Ausschluss einer die (Stimm-)Symptome erklärenden körperlichen Erkrankung ist Alltag in der phoniatrischen Arbeit. Das Eruieren einer Auslösesituation gelingt im phoniatrischen ärztlichen Erstgespräch jedoch nicht regelmäßig [2]. Ziel dieser Arbeit war daher, bei Patienten, bei denen im phoniatrisch-klinischen Erstkontakt der Verdacht auf psychosomatische Stimmstörungen gestellt, eine Auslösesituation jedoch nicht eruiert werden konnte, eine biografische Anamnese zu erheben und auf mögliche Auslösesituationen hin zu untersuchen.

Methode

Bei 7 weiblichen (Alter 27 bis 64 Jahre) und einem männlichen (Alter 40 Jahre) Patienten mit Verdacht auf psychosomatische Stimmstörungen, die in der phoniatrischen Erstuntersuchung keine Auslösesituation benennen konnten, wurde eine biografische Anamnese von maximal 60 Minuten Dauer erhoben. Klinik und Befund mussten gegen eine primär organisch- oder fehlbelastungs-bedingte Symptomatik sprechen. Bei 4 Patienten bestanden Dysphonien, bei 2 Aphonien und weiteren 2 eine wechselnd dys- und aphone Stimmgebung, der Symptombeginn war bei 6 Patienten plötzlich und bei 2 Patienten progredient bzw. unklar. 6 Patienten vertraten initial ein an somatischen Faktoren orientiertes Krankheitskonzept, 2 Patienten hatten kein eindeutiges Krankheitskonzept.

Die Beurteilung erfolgte in Anlehnung an die Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik (OPD-2) [2]. Dieses multiaxiale Diagnostiktool besteht aus den auf einem psychodynamischen Verständnis basierenden Achsen „Krankheitserleben und Behandlungsvoraussetzung“, „Beziehung“, „Konflikt“ und „Struktur“ sowie der deskriptiv-phänomenologischen Achse „Psychische und psychosomatische Störungen“. Das Anamnesegespäch wurde verschriftlicht und supervidiert.

Ergebnis

Der Beginn der Symptomatik konnte bei 4 Patienten auf einen konkreten Tag, bei 2 auf einen konkreten Monat und bei einer Patientin auf ein bestimmtes, viele Jahre zurückliegendes Ereignis datiert werden. Bei einer Patientin war die Symptomatik über 25 Jahre chronifiziert und ein Beginn war nicht mehr sicher erinnerlich.

Bei 5 Patienten konnten Auslösesituationen eruiert werden, wobei nur bei einer Patientin ein „objektiv“ schwerer Schicksalsschlag (Tod einer nahen Bezugsperson) bestand. Die übrigen 4 Auslösesituationen waren nur mit Kenntnis biografischer Besonderheiten und individueller Vulnerabilitäten verstehbar, z.B. wiederkehrende Kränkungserlebnisse. Die Dauer der Symptomatik betrug bei diesen Patienten zwischen 15 Wochen und 15 Jahren.

Bei 3 Patientinnen konnte durch ein einmaliges Gespräch keine Auslösesituation bestimmt werden. Hierzu gehörten die Patientin ohne Erinnerung an den Beginn der langjährigen Symptomatik und 2 Patientinnen, die eine abgewehrte Konflikt- und Gefühlswahrnehmung (OPD-2) aufwiesen. Die Symptomatik bestand bei diesen Patientinnen zwischen 16 Wochen und 25 Jahren.

Diskussion

Auslösesituationen für psychosomatische Stimmstörungen waren im untersuchten Kollektiv vorrangig in der aktuellen Lebenssituation vor dem Hintergrund der Biographie zu finden, psychische Traumata im engeren Sinne waren die Ausnahme. Auch bei einer langen Krankheitsdauer konnten noch Auslösesituationen erfragt werden, insofern den Patienten noch der Beginn der Symptomatik erinnerlich war. Eine abgewehrte Konflikt- und Gefühlswahrnehmung erschwerte das Finden von Auslösesituationen im Rahmen eines einzigen Gesprächs.

Obwohl es sich um keine Forschungsinterviews und um eine kleine, nicht-repräsentative Patientengruppe handelte, zeigt diese Vor-Studie, dass auch bei Patienten, die im phoniatrisch-klinischen Erstkontakt – auch vor dem Hintergrund eines somatischen Krankheitskonzepts – spontan typischer Weise keine Auslösesitationen erinnern oder gar präsentieren, eine erweiterte Evaluation entsprechende Informationen liefern kann.

Fazit

Neben psychischen Traumata im engeren Sinne sollten psychische Auslösesituationen für psychosomatische Stimmstörungen in der aktuellen Lebenssituation auf dem Hintergrund der Biographie gesucht werden. Zumindest die Verdachtsdiagnose kann der Phoniater auch im Rahmen der Psychosomatischen Grundversorgung erarbeiten.


Literatur

1.
WHO, Dilling H, Freyberger HJ, Hrsg. Taschenführer zur ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen. 4. Auflage. Bern: Verlag Hans Huber, Hogrefe AG; 2008.
2.
Wendler J, Seidner W, Eysholdt U. Lehrbuch der Phoniatrie und Pädaudiologie. 4. Auflage. Stuttgart: Thieme Verlag; 2005.
3.
Arbeitskreis OPD, Hrsg. Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik OPD-2. 1. Auflage. Bern: Verlag Hans Huber, Hogrefe AG; 2006.