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30. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

20.09. - 22.09.2013, Bochum

Rolle und Spannungsfeld des IQWiG in der Evidenzbasiertheit medizinischer Prozeduren

Festvortrag

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  • corresponding author presenting/speaker Stefan Lange - Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, Köln, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 30. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Bochum, 20.-22.09.2013. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2013. DocHV1

doi: 10.3205/13dgpp01, urn:nbn:de:0183-13dgpp013

Veröffentlicht: 5. September 2013

© 2013 Lange.
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Gliederung

Zusammenfassung

Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) hat gemäß dem Sozialgesetzbuch V Empfehlungen an den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) zur Beschlussfassung für Richtlinien zur Aufnahme oder auch zum Ausschluss von Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zu richten. Bei diesen Empfehlungen hat das Institut zu gewährleisten, „dass die Bewertung des medizinischen Nutzens nach den international anerkannten Standards der evidenzbasierten Medizin … erfolgt“. Evidenzbasierte Medizin (EbM) ist hierbei selbstverständlich nicht im Sinne der individuellen Arzt-Patienten-Beziehung zu verstehen, sondern als so genannte Evidence-based Health Care, also die evidenzbasierte Steuerung des Gesundheitswesens auf einer Systemebene. Das bedeutet, dass nicht auf einer individuellen (Patienten- oder – allgemeiner – Versicherten-)Ebene verschiedene Optionen für eine angemessene Intervention besprochen und ausgewählt werden, sondern erst die Grundlagen für solche Wahlmöglichkeiten geschaffen werden. Dabei werden nicht nur Wahlmöglichkeiten gegebenenfalls erweitert, sondern diese können auch beschnitten werden. Die Nicht-Aufnahme in den oder gar der Ausschluss von Leistungen aus dem Leistungskatalog der GKV wird in diesem Zusammenhang häufig weniger als Schutz der Versicherten vor nicht ausreichend geprüften medizinischen Methoden als vielmehr als Ausdruck eines rein mechanistischen Systems oder gar einer Rationierung (fehl-)verstanden. Dieses Missverständnis ist ständige Herausforderung für die Öffentlichkeitsarbeit von Institutionen wie dem G-BA oder das IQWiG.


Text

Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) ist seit dem Jahr 2004 Teil des Systems der Selbstverwaltung in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Seine Aufgaben und seine institutionelle Verankerung sind im Wesentlichen in den Paragrafen 139a-c des Sozialgesetzbuches V (SGB V) formuliert. Wesentliche Anforderungen an das IQWiG sind seine fachliche Unabhängigkeit und seine Wissenschaftlichkeit (§ 139a Abs. 1 SGB V), die durch geeignete Strukturen unterstützt werden.

Das IQWiG hat als wesentliche Aufgabe Empfehlungen an den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) zur Beschlussfassung für Richtlinien zur Aufnahme oder auch zum Ausschluss von Leistungen der GKV zu richten. Bei diesen Empfehlungen hat das Institut zu gewährleisten, „dass die Bewertung des medizinischen Nutzens nach den international anerkannten Standards der evidenzbasierten Medizin … erfolgt“ (§ 139a Abs. 4 SGB V). Darüber hinaus hat es „in regelmäßigen Abständen über die Arbeitsprozesse und -ergebnisse einschließlich der Grundlagen für die Entscheidungsfindung öffentlich zu berichten“.

Der Begriff der evidenzbasierten Medizin (EbM) hat vor mehr als einem Jahrzehnt Einzug in das SGB V gehalten, zunächst im Zusammenhang mit evidenzbasierten Leitlinien als Grundlagen für die Ausgestaltung von Disease-Management-Programmen, zuletzt aber auch zunehmend im Zusammenhang mit unmittelbaren Nutzenbewertungen und damit dem Nutzenbegriff per se. So wird auch in dem durch das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) neugeschaffenen § 35a des SGB V klargestellt, dass die Bewertung des Zusatznutzens von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen auf der Grundlage der internationalen Standards der evidenzbasierten Medizin zu erfolgen hat. In der zum AMNOG zugehörigen Rechtsverordnung wird das noch deutlicher und darüber hinaus der Nutzen eines Arzneimittels definiert als ein patientenrelevanter therapeutischer Effekt (§ 2 Abs. 3 AM-NutzenV). Dem Begriff des „Effekts“ ist aber wiederum die kausale Bedeutung immanent, d.h. der empirische Kausalitätsnachweis, aus dem bestimmte Anforderungen an die zugrunde zu legenden wissenschaftlichen Studien (= Evidenz) erwachsen.

Der Nutzenbegriff und die daraus abgeleiteten Anforderungen an einen Nutzennachweis können als nähere Ausgestaltung des Wirtschaftlichkeitsgebotes und der im entsprechenden § 12 des SGB V formulierten unbestimmten Rechtsbegriffe Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit verstanden werden. Damit soll die „Evidenzbasierung“ nicht nur die Allgemeinheit vor unangemessenen Risiken schützen (denn auch den Zulassungsanforderungen für einen Wirksamkeitsnachweis liegt der Kausalitätsgedanke zugrunde), sondern auch die Finanzierbarkeit des Systems der GKV sicherstellen. Die Anforderungen an einen Kausalitätsnachweis sind hoch: Es muss – so weit als möglich – sichergestellt werden, dass beobachtete Veränderungen nach Anwendung einer medizinischen Intervention eben allein auf diese Intervention und nicht (zumindest in Gänze) auf andere Einflüsse (z.B. so genannte Störgrößen, engl.: Confounder, Kontextfaktoren [z.B. Zuwendung] oder auch den natürlichen Verlauf einer Erkrankung) zurückgeführt werden können.

Der Begriff der EbM kann auf einer solchen Ebene selbstverständlich nicht im Sinne der individuellen Arzt-Patienten-Beziehung verstanden werden, sondern eher als so genannte Evidence-based Health Care, also als Evidenzbasierte Steuerung des Gesundheitswesens. Das bedeutet, dass nicht auf einer individuellen (Patienten- oder – allgemeiner – Versicherten-)Ebene verschiedene Optionen für eine angemessene Intervention besprochen und ausgewählt werden, sondern erst die Grundlagen für solche Wahlmöglichkeiten geschaffen werden. Dabei kann die Bewertung der Evidenz nicht nur dazu führen, dass Wahlmöglichkeiten gegebenenfalls erweitert werden (durch die Aufnahme als Leistung im Rahmen der GKV), sondern diese können auch beschnitten werden (durch den Ausschluss).

Ein besonderes Problem in Deutschland ergibt sich dadurch, dass der Zugang von medizinischen Leistungen (außerhalb von Arzneimitteln) der GKV in den unterschiedlichen Sektoren unterschiedlich geregelt ist. Während im ambulanten Bereich alles verboten ist, so lange es nicht (durch den G-BA) ausdrücklich erlaubt wird (so genannter Erlaubnisvorbehalt), ist es im stationären Sektor (und zukünftig auch im Rahmen der ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung [§ 116b SGB V]) genau umgekehrt: Alles ist erlaubt, so lange es nicht verboten wird (Verbotsvorbehalt). Diese unterschiedlichen Zugangswege führen zwangsläufig zu Friktionen, wenn Leistungen im stationären Sektor bereits (weit) verbreitet sind, aber die (Evidenz-)Anforderungen für eine Aufnahme in den ambulanten Bereich nicht erfüllt sind. Prominentes Beispiel dafür ist die Positronenemissionstomografie (PET) in zahlreichen Indikationen. Durch das im Januar 2012 in Kraft getretene Versorgungsstrukturgesetz wurden die Spannungen einerseits noch verstärkt, indem die Anforderungen für einen Ausschluss von Leistungen im stationären Bereich (und zukünftig auch gemäß § 116b SGB V, s.o.) erhöht wurden. Andererseits wurden aber auch (zusätzliche) Möglichkeiten geschaffen, identifizierte Evidenzlücken durch Studien in der GKV zu schließen (§ 137e SGB V, Erprobung von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden).

Weiterhin muss konstatiert werden, dass die Nutzenbewertung von medizinischen Methoden zahlreiche Interessen berühren. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass insbesondere negative Bewertungen häufig auf Kritik und Unverständnis stoßen. Von Anwendern einer Methode wird dabei häufig die (positive) eigene Erfahrung angeführt, ein Argument allerdings, dass zwangsläufig mit den Anforderungen an (bzw. dem Fehlen von) aussagekräftige(n) vergleichende(n) klinische(n) Studien in einem Spannungsgefüge steht. Unerfreulich und nicht sachgerecht ist es, wenn die auf einer Negativ-Bewertung und -Empfehlung basierende Nicht-Aufnahme oder gar der Ausschluss einer Leistung weniger als Schutz der Versicherten vor nicht ausreichend geprüften medizinischen Methoden als vielmehr als Ausdruck eines rein bürokratisch-mechanistischen Systems oder gar einer Rationierung (fehl-)verstanden werden. Solche Missverständnisse sind jedoch für Institutionen wie den G-BA oder das IQWiG gleichermaßen Alltagserfahrung und Herausforderung, den Akteuren im Gesundheitswesen, insbesondere der Fach- und Laienöffentlichkeit, die eigene Arbeit transparent und verständlich zu erläutern.