gms | German Medical Science

27. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

17.09. - 19.09.2010, Aachen

Haben Kinder mit AVWS Defizite im phonologischen Arbeitsgedächtnis, und welche Defizite trennen sie von unauffälligen Kindern?

Vortrag

Suche in Medline nach

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 27. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Aachen, 17.-19.09.2010. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2010. Doc10dgppV15

doi: 10.3205/10dgpp23, urn:nbn:de:0183-10dgpp238

Veröffentlicht: 31. August 2010

© 2010 Kiese-Himmel.
Dieser Artikel ist ein Open Access-Artikel und steht unter den Creative Commons Lizenzbedingungen (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/deed.de). Er darf vervielfältigt, verbreitet und öffentlich zugänglich gemacht werden, vorausgesetzt dass Autor und Quelle genannt werden.


Zusammenfassung

Hintergrund: Die spezifische Bedeutung des phonologischen Arbeitsgedächtnisses für Kinder mit AVWS ist nicht geklärt. Ziel der Studie: (1) Ergebnisse in Gedächtnisspannenmaßen von Kindern mit isolierten AVWS bzw. solchen mit AVWS bei Komorbidität zu vergleichen und (2) zu prüfen, welches Maß am besten AVWS-Kinder von unauffälligen Kindern trennt.

Material und Methoden: Retrospektive Auswertung der Psychometrischen Datenbank zur Begleitforschung von AVWS i.d. Krankenversorgung. Behalten wurde über das Nachsprechen 1-silbiger Zahlen, Wörter u. mehrsilbiger Kunstwörter (KW) geprüft. Studienkollektiv: n=48 isolierte AVWS (mittl. Alter: 87,9; SD 12,9 Monate); n=35 SES+AVWS (mittl. Alter: 82,2; SD 13,4); n=16 LRS+AVWS (mittl. Alter: 109,2; SD 18,7); n=10 leicht intelligenzgemindert+AVWS (mittl. Alter: 102,4; SD 12,5); n=13 unauffällige Kinder (Non-AVWS; mittl. Alter: 86,0, SD 16,1). Die mittl. Intelligenzhöhe (T-Wert) der ersten 3 AVWS-Gruppen sowie der Non-AVWS Kinder war von der der intelligenzgeminderten Kinder (T-W 35,4; SD 3,1) statistisch bedeutsam verschieden (p<.0001).

Ergebnisse: In allen Behaltensleistungen unterschieden sich im Durchschnitt Kinder mit SES+AVWS (Zahlenspanne: p=.0009; Wortspanne: p=.0012; KW: p=.05) wie auch solche mit isolierter AVWS (Zahlen: .037; Wörter: p=.0006; KW: p=.05) von Non-AVWS Kindern. Die Ergebnisse (ohne die der intelligenzgeminderten Kinder) gingen in eine schrittweise Diskriminanzanalyse ein. Als statistisch signifikant für die Gruppenzuordnung AVWS vs. Non-AVWS erwiesen sich: Wortspanne (F=14,40; p=<.0002) und Zahlenspanne (F=2,87; p=.09).

Diskussion: Die Ergebnisse der Kinder mit isolierten AVWS belegen, dass phonologische Arbeitsgedächtnisdefizite nicht bloß im Zusammenhang mit primären Störungen wie SES oder LRS auftreten, wenngleich sie dort gehäuft anzutreffen sind. Sie werfen vor allem aber die Frage nach der Validität einer AVWS-Diagnostik auf.


Text

Einleitung und Hintergrund

Probleme in der auditiven Verarbeitung und Wahrnehmung werden oft im Zusammenhang mit anderen Entwicklungsstörungen entdeckt und sind in Populationen wie Sprachentwicklungsstörungen oder Dyslexien überrepräsentiert (z.B. [7]). Keller et al. [5] zeigten, dass auch in einer Stichprobe von Kindern mit nonverbalen Lernstörungen auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen (AVWS) vorkamen, und zwar in 61% der Fälle.

Lernen bedarf der Fähigkeit, Informationen im Arbeitsgedächtnis zu behalten und zu verarbeiten. Nach dem Mehrkomponenten-Modell des Arbeitsgedächtnisses [3], [2] wird akustisch-sprachliche Information in der phonologischen Schleife kurzzeitig gespeichert. Diese besteht aus dem zerfallsabhängigen (passiven) phonologischen Speicher, der spätestens ab dem 3. Lebensjahr verfügbar ist und einem (aktiven) subvokalen Wiederholungsprozess zur Aufrechterhaltung der zerfallenden Information, der ca. ab einem Alter von 7 bis 8 Jahren spontan genutzt wird. Die spezifische Bedeutung des phonologischen Arbeitsgedächtnisses für Kinder mit AVWS ist nicht geklärt. Ziel der Studie war es, Kinder mit isolierten AVWS bzw. solche mit AVWS bei Komorbidität in verschiedenen phonologischen Arbeitsgedächtnisprüfungen miteinander zu vergleichen und zu prüfen, welches Maß am besten Kinder mit AVWS von unauffälligen Kindern zu trennen vermag.

Material und Methode

Indikator für die funktionale Kapazität des Arbeitsgedächtnisses sind Gedächtnisspannenaufgaben und das unmittelbare Nachsprechen von sog. Kunstwörtern. Aus der psychometrischen Datenbank zur Begleitforschung von AVWS in der Krankenversorgung (UM Göttingen) wurden die Daten der diagnostizierten Kinder zur auditiven Kurzzeitspeicherung von Zahlen, Wörtern (jeweils Einsilber) und mehrsilbigen Kunstwörtern ausgewertet. Die Zahlenspanne war mit dem Subtest „Zahlen Nachsprechen“ aus der K-ABC (Melchers & Preuss, 2001) erhoben worden, die Spanne für reale Wörter mit dem Subtest „Gedächtnisspanne für Wortfolgen“ aus dem SETK 3-5 (Grimm, 2001), und das unmittelbare Behalten für mehrsilbige Kunstwörter mit dem Mottier-Test (Mottier, 1951). Die allgemeine Intelligenzhöhe wurde mit dem figuralen Matrizentest zum logischen Schlussfolgern erfasst (Kriterium unauffällig: T-Wert >39).

Studienkollektiv

122 Kinder waren nach umfassender Diagnostik wie folgt klassifiziert worden (Gruppen mit einer Größe <10 wurden ausgeschlossen):

  • n=10 mit niedriger Allgemeinintelligenz (IQ 70–84). Mittl. Alter: 102,4 (SD 12,5)
  • Monate;
  • n=48 mit isolierten AVWS. Mittl. Alter: 87,9 (SD 12,9) Monate;
  • n=35 mit SES+AVWS. Mittl. Alter: 82,2 (SD 13,4) Monate;
  • n=16 mit LRS+AVWS. Mittl. Alter: 109,2 (SD 18,7) Monate;
  • 13 Kinder waren unauffällig (Non-AVWS). Mittl. Alter: 86,0 (SD 16,1) Monate.

Ergebnisse

In ihrer mittleren Intelligenzhöhe unterschieden sich die drei AVWS-Gruppen sowie die Non-AVWS-Gruppe statistisch bedeutsam (p<.0001) von den intelligenzgemin-derten Kindern.

In der Zahlenspanne lag die mittlere Leistung der klinischen Gruppen im unteren Normbereich, wobei Kinder mit SES+AVWS die niedrigsten Ergebnisse aufwiesen (T-Wert: 40,4; SD 11,0). Zwischen ihnen und der Gruppe Non-AVWS (p=0,0009) sowie der Gruppe Non-AVWS und der Gruppe isolierter AVWS (p=0,0037) waren die Unterschiede signifikant (Bonferroni adjustierter a-Fehler: p=0,0056). Auch in der durchschnittlichen Wortspanne unterschieden sich die Non-AVWS-Gruppe und die Gruppe SES+AVWS (p=0,0012) sowie die Non-AVWS-Gruppe und die Gruppe isolierte AVWS (p=0,0006) voneinander bedeutsam. Im Kunstwortnachsprechen wurde von keiner Gruppe der maximal zu erzielende RW von 30 erreicht. Mit Ausnahme der Non-AVWS-Kinder (RW 18,9) und der Gruppe LRS+AVWS (RW 18,2) wurden im Durchschnitt weniger als die Hälfte der Kunstwörter korrekt reproduziert. Die mittl. Differenz von 7,6 zwischen den Gruppen Non-AVWS und SES+AVWS (95%-Konfidenzintervall: 2,3–13,1) sowie die mittl. Differenz von 6,9 zwischen den Gruppen LRS+AVWS und SES+AVWS (95%-Konfidenzintervall: 1,9–11,9) waren auf dem 0,05-Niveau signifikant (Scheffé Post-hoc-Test nach Varianzanalyse, F=7,48; p<.0001).

In einer schrittweisen Diskriminanzanalyse erwiesen sich 2 Maße für die Gruppenzuordnung AVWS vs. Non-AVWS als statistisch signifikant: die Wort- (F=14,40; p=<0,0002) sowie die Zahlenspanne (F=2,87; p=0,09). Beide Maße sind Indikatoren für den subvokalen Wiederholungsprozess. 77% der Kinder mit AVWS-Symptomatik und 77% der unauffälligen Kinder wurden durch diese Diskriminanzmaße richtig klassifiziert (Fehlklassifikationsrate: 23%).

Diskussion

Von 122 Kindern hatten 48 (39%) isolierte AVWS, der Rest eine AVWS bei Komorbidität. Das heißt, dass bei einem Kind mit AVWS-Verdacht eher an eine komorbide als an eine isolierte Entwicklungsproblematik zu denken ist. Vorliegende Ergebnisse werfen die Frage nach der Validität einer AVWS-Diagnostik auf, die Anforderungen an das phonologische Arbeitsgedächtnis stellt. Es ist nicht auszuschließen, dass das Entscheidungskriterium für die Diagnose „AVWS“ (2 SD vom Mittelwert in mindestens 2 auditiven Symptombereichen gem. Konsensus-Statement der DGPP [6]) auf Grund einer reduzierten phonologischen Arbeitsgedächtnisleistung bei Kindern unbrauchbar wird, weil letztendlich Defizite erhoben werden, die de facto gar nicht reine AVWS-Symptome sind (und fälschlicherweise mit F80.20 nach ICD-10 als AVWS kodiert werden). Zum Beispiel beziehen die ASHA [1] wie auch die British Society of Audiology [4] die kognitive Dimension des Hörgedächtnisses nicht in die Bewertungsgrundlage für AVWS ein. Daher stellt sich die Frage, ob in Deutschland das „phonologische Arbeitsgedächtnis“ als ein Kriterium in der diagnostischen Evaluation von AVWS zu belassen ist.


Literatur

1.
American Speech-Language-Hearing Association (ASHA). (Central) Auditory Processing Disorders. Technical Report. 2005. Available from: http://www.asha.org/docs/html/tr2005-00043.html (last accessed: June 7th 2010) Externer Link
2.
Baddeley A. The episodic buffer: a new component of working memory? Trends Cogn Sci. 2000;4:417-23. DOI: 10.1016/S1364-6613(00)01538-2 Externer Link
3.
Baddeley AD, Hitch G. Working memory. In: Bower G (ed). The psychology of learning and motivation. New York: Academic Press; 1974. vol 8, pp 47-90.
4.
British Society of Audiology. Interim Position Statement on APD - March 2007. 2007. Available from: http://www.thebsa.org.uk/apd/BSA_APD_Position_statement_Final_Draft_Feb_2007.doc (last accessed: June 7th 2010) Externer Link
5.
Keller WD, Tillery KL, McFadden SL. Auditory processing disorder in children diagnosed with nonverbal learning disability. Am J Audiol. 2006;15:108-13. DOI: 10.1044/1059-0889(2006/014) Externer Link
6.
Nickisch A, Gross M, Schönweiler R, Uttenweiler V, Am Zehnhoff-Dinnesen A, et al. Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen. Konsensus-Statement der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. HNO. 2007;55:61-72.
7.
Sharma M, Purdy SC, Kelly AS. Comorbidity of auditory processing, language, and reading disorders. J Speech Lang Hear Res. 2009;52:706-22. DOI: 10.1044/1092-4388(2008/07-0226) Externer Link