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27. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

17.09. - 19.09.2010, Aachen

Pädaudiologische Diagnostik im ersten Lebensjahr – Hörbefunde und Verläufe bei Neugeborenen und Säuglingen der Jahrgänge 2007–2009

Vortrag

  • corresponding author presenting/speaker Claus-Michael Schmidt - Klinik und Poliklinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Universitätsklinikum Münster, Deutschland
  • Jan Rumstadt - Klinik und Poliklinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Universitätsklinikum Münster, Deutschland
  • Dirk Deuster - Klinik und Poliklinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Universitätsklinikum Münster, Deutschland
  • Ken Rosslau - Klinik und Poliklinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Universitätsklinikum Münster, Deutschland
  • Arne Knief - Klinik und Poliklinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Universitätsklinikum Münster, Deutschland
  • Antoinette am Zehnhoff-Dinnesen - Klinik und Poliklinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Universitätsklinikum Münster, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 27. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Aachen, 17.-19.09.2010. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2010. Doc10dgppV09

doi: 10.3205/10dgpp13, urn:nbn:de:0183-10dgpp138

Veröffentlicht: 31. August 2010

© 2010 Schmidt et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Hördiagnostik im ersten Lebensjahr ist eine Herausforderung. Die Analyse einer großen Kohorte hilft, Besonderheiten zu erkennen und Methoden zu bewerten.

Material und Methoden: 617 Akten (329 m, 288 w) wurden ausgewertet: 246 Kinder mit auffälligem Hörscreening, 389 mit Risikofaktoren (172 Frühgeborene ≤32. SSW).

Ergebnisse: Bei 459 Kindern (74%) wurde mittels AABR-Screening eine Schwerhörigkeit ausgeschlossen, bei 129 (21%) eine frequenzspezifische BERA durchgeführt: 20 (16%) zeigten normale, 109 (84%) erhöhte Schwellen. 89 (82%) erhielten Hörgeräte, 11 (10%) eine Ergusstherapie, 9 wurden kontrolliert. 18% aller Kinder, 24% der Screeningauffälligen, 19% der Risikokinder und 34% der Screeningauffälligen mit Risiken waren schwerhörig. 14 Kinder erhielten eine BERA zur Kontrolle, die bei 3 Kindern normale Schwellen ergab. Bei Erstvorstellung ergab das TEOAE-Screening bei 62% der Ohren Pass (AABR 74%), die Tympanometrie war mit 226 Hz bei 84%, mit 1 kHz bei 72%, die Ohrmikroskopie bei 80% der Ohren regelrecht. Mittelohrpathologien wurden mit zunehmendem Alter häufiger. Zwischen Erstvorstellung und BERA lagen 2007 73, 2009 25 Tage.

Diskussion: Das AABR-Screening zeigte gute Spezifität für Hörstörungen. Screeningauffällige mit Risikofaktoren waren häufig betroffen. Die 226 Hz-Tympanometrie erscheint weniger sensitiv, die 1 kHz-Messung bei geringerer Fallzahl weniger spezifisch. Ein späteres Normalgehör bei anfangs hörgerätepflichtiger BERA war selten. Das Alter bei BERA konnte deutlich reduziert werden.


Text

Hintergrund

Das Follow-up des universellen Neugeborenenhörscreenings (UNHS) hat zu einer vermehrten Inanspruchnahme von pädaudiologischer Diagnostik im ersten Lebensjahr geführt. Die Vorgaben, die Diagnostik innerhalb der ersten drei und die (Hörgeräte-) Versorgung innerhalb der ersten sechs Lebensmonate abzuschließen, sind eine Herausforderung. Schnellstmöglich sollen Schwerhörige erkannt und versorgt und falsch positive als solche identifiziert werden. Einige Befundkonstellationen und Verläufe bereiten besondere Schwierigkeiten. Mit der retrospektiven Betrachtung der Patientenjahrgänge 2007–2009 sollen Ansätze für die Optimierung des Follow-up gewonnen werden.

Patienten und Methoden

Patientenakten von 617 Neugeborenen und Säuglingen der Jahrgänge 2007–2009, die in unserer Klink zur pädaudiologischen Diagnostik vorstellig waren, wurden retrospektiv ausgewertet. Hierbei erfassten wir Geburts- und Untersuchungsdaten, Geschlecht, Anlass der Vorstellung, Risikofaktoren, Untersucher (Arzt und Audiologieassistent), Ergebnisse der BERA- und OAE-Screeningmessungen, Tympanometrie bei 226 und 1000 Hz, Freifeldaudiometrie, Resultate von durchgeführten diagnostischen Hirnstammaudiometrien. Im Falle einer Hörstörung wurden Grad, Lokalisation und Art der Therapie erfasst. Das Patientenkollektiv ist eine Mischgruppe aus Screeningauffälligen des UNHS Westfalen-Lippe, Risiko-Neugeborenen des Universitätsklinikums Münster (UKM) sowie aus allen anderen 2007 bis 2009 geborenen und bis zum 30.4.2010 vorstelligen Neugeborenen und Säuglingen, die bei Erstvorstellung das erste Lebensjahr noch nicht vollendet hatten.

Ergebnisse

246 Kinder waren im UNHS auffällig gewesen, 300 Kinder kamen primär aufgrund von Risikofaktoren, 27 aufgrund eines Elternverdachts und 44 aus anderen Gründen. Häufigster Risikofaktor (Mehrfachnennungen) war die Frühgeburt bis zur 32. SSW (n=164), gefolgt von Mehrlingsgeburten (n=72), Syndromverdacht (n=51), kranofazialen Dysmorphien (n=50) und familiärer Hörstörung (n=43). Bei 459 Kindern (74,4%) wurde mittels Screening-Hirnstammaudiometrie (BERA) bei 35 dB eine relevante Schwerhörigkeit ausgeschlossen. Bei 129 (20,9%) Kindern wurde eine diagnostische Schwellen-BERA durchgeführt, 23 davon im Spontanschlaf, 97 im Melatonin-induzierten Schlaf und 9 in Intubationsnarkose. 89 der 101 BERA-Kinder, die einen auffälligen Screening-Befund gezeigt hatten, waren hörgerätepflichtig schwerhörig (88,1%, insgesamt 14,4% aller 617 Kinder). Nur 9 der 67 Kinder (13,4%) mit initial kontrollbedürftigem UNHS, bei denen aufgrund der bei unserem Follow-up auffälligen Screening-BERA eine diagnostische BERA veranlasst worden war, waren normalhörig, 56 zeigten eine mindestens geringgradige Schwerhörigkeit. Von insgesamt 246 vorgestellten UNHS-Auffälligen waren 58 (23,6%) schwerhörig, von den 300 primär aufgrund von Risikofaktoren vorstelligen 42 (14,0%). Bei den Kindern, die sowohl mindestens einen Risikofaktor erfüllten als auch ein auffälliges Screening zeigten, waren 33,8% (25 von 74 Kindern) schwerhörig, im Gegensatz dazu waren es bei allen 617 Kindern nur 109 (17,7%).

16 Kinder (2,6%) waren noch in Abklärung. Davon hatten drei in der Freifeldaudiometrie mehrfach altersgerechte Hörreaktionen und einen unauffälligen Mittelohrstatus gezeigt, ohne dass eine Objektivierung (TEOAE oder Screening-BERA) gelungen war. Fünf Patienten erschienen trotz mehrfacher Aufforderung nicht zum Screening, bei einem Kind sollte zunächst eine Mittelohrsanierung im Rahmen einer Spaltenoperation erfolgen. Bei 13 Kindern waren Nachkontrollen andernorts durchgeführt worden.

61,8% (683 von 1105 Ohren) zeigten bei Erstuntersuchung unauffällige TEOAE, 54,6% (167 von 306 Ohren) bei der ersten Kontrolluntersuchung. Der Anteil pathologischer Mittelohrbefunde nahm zu: Bei Erstvorstellung fanden sich 79,9% unauffällige Trommelfellbefunde in der Ohrmikroskopie (978 von 1224 Ohren). Bei der ersten Folgeuntersuchung wurden 65,2% (313 von 480 Ohren), bei der zweiten Folgeuntersuchung nur noch 49,4% der Trommelfelle (83 von 168 Ohren) als unauffällig beurteilt. Der Anteil unauffälliger Tympanogramme bei 220 Hz sank von 83,6% bei der Erstuntersuchung über 66,6% bei der ersten auf 48,3% bei der zweiten Kontrolle. Die 226 Hz-Tympanometrie zeigt eine Sensitivität von 0,56 bei einer Spezifität von 0,92 (1031 Ohren), die 1000 Hz-Version eine Sensitivität von 0,6 bei einer Spezifität von 0,81 (453 Ohren), wobei die Ohrmikroskopie als Referenzuntersuchung galt.

Das mittlere Alter bei Erstvorstellung verringerte sich zwischen 2007 und 2009 von 102 Tage auf 94 Tage, die Zeitspanne von der Erstvorstellung bis zur diagnostischen Schwellen-BERA von 73 auf 25 Tage. Insbesondere bei kraniofazialen Fehlbildungen und Mehrfachbehinderungen zeigten sich lange diagnostische Verläufe, die das Durchschnittsalter bei Untersuchung stark beeinflussen können (siehe auch Abbildung 1 [Abb. 1]).

Es zeigten sich Einzelfälle von Hörbahnreifung: Bei 14 der 129 Kinder, die eine diagnostische BERA erhalten hatten, wurde im weiteren Verlauf eine zweite Schwellen-BERA durchgeführt, die bei drei Kindern (2,3%) normale Schwellen ergab. Diese Kinder waren zwischenzeitlich entwicklungsbegleitend mit Hörgeräten versorgt worden.

Schlussfolgerungen

Mittels Screening-BERA ließ sich bei 74,4% der Kinder im ersten Lebensjahr eine relevante Schwerhörigkeit ausschließen. Von den in der Screening-BERA auffälligen und mittels diagnostischer Schwellen-BERA untersuchten Kindern waren 88,1% hörgerätepflichtig. Mit der Screening-BERA steht ein diagnostisches Instrument hoher Spezifität zur Verfügung. Die Auffälligenquote der TEOAE-Messungen war sehr hoch, TEOAE haben daher eher ergänzenden Stellenwert. Bei längerem diagnostischem Verlauf bereitet die Zunahme pathologischer Mittelohrbefunde Probleme. Vor allem bei kraniofazialen Fehlbildungen und mehrfachbehinderten Kindern ist die Einhaltung der Zeitvorgaben eine Herausforderung. Die entwicklungsbegleitende Hörgeräteversorgung, auch zum Ausgleich passagerer Schallleitungsstörungen, kann ein Lösungsansatz sein. Fälle von Hörbahnreifung bis zur Normalhörigkeit waren mit <3% seltener als erwartet. Die retrospektive Aufarbeitung eigener Behandlungsabläufe ist ein wichtiges Instrument zur Qualitätskontrolle und Prozessoptimierung, so konnte die Zeitspanne von Erstvorstellung bis zur Schwellen-BERA deutlich reduziert werden.


Literatur

1.
Gross M. Universelles Hörscreening bei Neugeborenen – Empfehlungen zu Organisation und Durchführung des universellen Neugeborenen-Screenings auf angeborene Hörstörungen in Deutschland. Laryngorhinootologie. 2005;84(11):801-8. DOI: 10.1055/s-2005-870513 Externer Link
2.
Bundesministerium für Gesundheit. Bekanntmachung [1733 A] eines Beschlusses des Gemeinsamen Bundesausschusses über eine Änderung der Kinder-Richtlinien: Einführung eines Neugeborenen-Hörscreenings. 2008. Available from: http://www.g-ba.de/downloads/39-261-681/2008-06-19-Kinder-H%C3%B6rscreening_BAnz.pdf Externer Link
3.
Phoniatrisch-pädaudiologischer Konsensus zu einem universellen Neugeborenen-Hörscreening in Deutschland 2.0.1. Available from: http://www.dgpp.de/Profi/Sources/DGPP-Konsensus%20zum%20UNHS%20in% 20Deutschland%202.0.1%20-%20Stand%2030.1.2010.pdf Externer Link