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27. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

17.09. - 19.09.2010, Aachen

Funktionelle (psychogene) Hörstörung im Kindesalter – Kolibri oder unterschätztes Phänomen?

Vortrag

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Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 27. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Aachen, 17.-19.09.2010. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2010. Doc10dgppV08

doi: 10.3205/10dgpp11, urn:nbn:de:0183-10dgpp117

Veröffentlicht: 31. August 2010

© 2010 Läßig et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Die Diagnose einer funktionellen (psychogenen) Hörstörung im Kindesalter ergibt sich meist, wenn sich verschiedene audiologische Befunde widersprechen.

Material und Methoden: Unter 1008 Kindern, die im Zeitraum von 12/02 bis 04/10 wegen einer Hörstörung stationär behandelt wurden, konnten 21 mit einer funktionellen Hörstörung identifiziert und ihre psychischen und audiologischen Befunde analysiert werden.

Ergebnisse: Das Geschlechterverhältnis Mädchen vs. Jungen betrug 12 vs. 9 (57% vs. 43%) im Alter von 7,05 bis 15,06 Jahren, wobei das Durchschnittsalter bei 10,04 Jahren lag (Median: 10,09 Jahre). Der durchschnittliche IQ-Wert lag bei 103 (Range: 78–125). Einseitige funktionelle Hörstörung traten nur bei 5 Kindern auf (23,8%). 9,5% der Kinder wiesen eine psychogene Verschlechterung einer länger bestehenden, hörsystemversorgten Schwerhörigkeit auf. Die durchschnittliche stationäre Verweildauer betrug 4 Tage.

Diskussion: Funktionelle Hörstörungen sind keine Seltenheit. Im Zeitraum von 12/02 bis 02/10 stellten wir 21 mal diese Diagnose. Allein in den letzten 14 Monaten waren 10 Kinder betroffen. 3 Kinder, bei denen sich eindeutig eine Normakusis ergab, waren zuvor langjährig mit Hörsystemen versorgt und hatten diese gut akzeptiert. Trotz regelrechter Befunde in der objektiven Audiometrie liegt bei Kindern mit einer funktionellen Hörstörung eine Beeinträchtigung der Wahrnehmung auditiver Informationen vor, die der Therapie von phoniatrisch-pädaudiologischer und kinderpsychiatrischer Seite bedarf.


Text

Einleitung

Die Diagnose einer funktionellen (psychogenen) Hörstörung im Kindesalter ergibt sich meist, wenn sich verschiedene audiologische Befunde widersprechen [4], [5], [8]. Nach Schätzungen liegt der Anteil der funktionellen Hörstörung bei 2 bis 7% der Hörverluste im Kindesalter, aber vermutlich wird diese Diagnose zu selten gestellt [2], [6]. In unserem klinischen Alltag nimmt die Bedeutung der Somatisierungen im Kindesalter in den letzten Jahren zu.

Material und Methoden

Unter 1029 Kindern, die im Zeitraum von 12/02 bis 06/10 wegen einer Hörstörung stationär behandelt wurden, konnten 24 (45 Ohren) mit einer funktionellen Hörstörung identifiziert und ihre psychischen und audiologischen Befunde retrospektiv analysiert werden. Ebenso wie Kothe et al. [5] und Saravanappa et al. [7] führten wir zur Diagnostik eine ausführliche Anamnese, die Erhebung des HNO-Status und pädaudiologische Untersuchungen sowie im weiteren Verlauf eine psychologische oder kinderpsychiatrische Vorstellung durch. Alle Patienten absolvierten getrenntohrige Reintonaudiogramme, Tympanogramme und getrenntohrige Sprachaudiogramme (altersabhängig Göttinger Kindertest II oder Freiburger Sprachtest) mit Testung im Störgeräusch (Signal Noise Ratio: + 5 dB) und ggf. Richtungshören. Abhängig von den so erhaltenen Befunden wurden auch überschwellige Hörtests wie der dichotische Diskriminationstest nach Uttenweiler oder Feldmann, sowie objektive Verfahren wie die Messung der otoakustischen Emissionen mittels TEOAE, DPOAE, ggf. der Stapediusreflex-Test, sowie zur Hörschwellenbestimmung eine BERA (Click- und/oder Notched Noise-) oder CERA im Schlaf oder ggf. Wachzustand durchgeführt. Bei allen Kindern wurde eine pädaudiologische Kontrolle nach ca. 3 Monaten und weitere kinderpsychologische Therapie angeraten.

Ergebnisse

Das Geschlechterverhältnis Mädchen vs. Jungen betrug 15 vs. 9 (62,5% vs. 37,5%) im Alter von 7,05 bis 17,02 Jahren, wobei das Durchschnittsalter bei 11,04 Jahren lag (Median: 10,09 Jahre). Der durchschnittliche IQ-Wert lag bei 103 (Range: 78–125). Der Anteil der funktionellen Hörstörungen nahm in den letzten 2 Jahren im Verhältnis zu den stationär behandelten Hörstörungen exponentiell zu von im Durchschnitt 0,5–2% zu 7,6% (siehe Abbildung 1 [Abb. 1]). Einseitige funktionelle Hörstörung traten nur bei 6 Kindern auf (25%). 55,5% der betroffenen Ohren zeigten einen funktionellen Hörverlust von ≥70%, 24,4% einen Hörverlust zwischen 50–69%, 20,1% einen Hörverlust von ≤49% (Verteilung siehe Abbildung 2 [Abb. 2]). Zwei Kinder (8,3%) wiesen eine psychogene Verschlechterung einer länger bestehenden, hörsystemversorgten Schwerhörigkeit auf. 3 Kinder (12,5%), bei denen sich eindeutig eine Normakusis ergab, waren zuvor langjährig mit Hörsystemen versorgt und hatten diese gut akzeptiert, obwohl sie dadurch teilweise einen enormen Leidensdruck aufwiesen. Die durchschnittliche stationäre Verweildauer betrug 4 Tage. In allen Fällen konnte durch „Hochaudiometrieren“ eine Normalisierung in der subjektiven Audiometrie erreicht werden. Ursachen bzw. Auslöser für die Hörstörungen waren u.a. schulische Probleme, Trennung der Eltern oder Fürsorge in einer Jugendhilfeeinrichtung, psychische Erkrankungen oder Hörstörungen in der Familie, Tod eines Familienmitgliedes etc. Vier Kinder befanden sich seit längerem in kinderpsychiatrischer Behandlung, zwei davon auch medikamentös wegen eines ADHS.

Diskussion

Funktionelle Hörstörungen sind keine Seltenheit. Im Zeitraum von 12/02 bis 06/10 stellten wir 24 mal diese Diagnose mit anschließender stationärer Behandlung. Allein in den letzten 16 Monaten waren 13 Kinder betroffen. Trotz regelrechter Befunde in der objektiven Audiometrie liegt bei Kindern mit einer funktionellen Hörstörung eine Beeinträchtigung der Wahrnehmung auditiver Informationen vor, die der Therapie von phoniatrisch-pädaudiologischer und kinderpsychiatrischer Seite bedarf [3]. Ban und Jin [1] fanden unter 277 Patienten mit plötzlichem Hörverlust aufgrund einer Diskrepanz zwischen Reintonaudiometrie und BERA 7 Patienten mit einer funktionellen Hörstörung, die durch einen Psychiater bestätigt wurde. Während in der gesamten Gruppe ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis und ein Durchschnittsalter von 47,6 Jahren vorlagen, überwogen bei den funktionellen Hörstörungen die weiblichen Patienten und Teenager. Pracy et al. [6] berichteten über 6 Mädchen und 4 Jungen mit einem mittleren Alter von 11,09 Jahren, bei denen sie die funktionelle Hörstörung nur durch subjektive Tests diagnostizierten und „hochaudiometrierten“. Eine kinderpsychologische Vorstellung hielten sie für nicht nötig. In der Pädaudiologie sollten funktionelle Hörstörungen immer auch mit in Betracht gezogen werden.


Literatur

1.
Ban JH, Jin SM. A clinical analysis of psychogenic sudden deafness. Otolaryngol Head Neck Surg. 2006;134(6):970-4. DOI: 10.1016/j.otohns.2005.11.045 Externer Link
2.
Boehme G. Nichtorganische (funktionelle) Hörstörungen im Kindesalter. Laryngol Rhinol Otol (Stuttg). 1984;63(3):147-50. DOI: 10.1055/s-2007-1008264 Externer Link
3.
Bowdler DA, Rogers J. The management of pseudohypacusis in school-age children. Clin Otolaryngol Allied Sci. 1989;14(3):211-5. DOI: 10.1111/j.1365-2273.1989.tb00363.x Externer Link
4.
Feldmann H. Das Bild der psychogenen Hörstörung heute. Laryngorhinootologie. 1989;68(5):249-58. DOI: 10.1055/s-2007-998329 Externer Link
5.
Kothe C, Fleischer S, Breitfuss A, Hess M. Diagnostik von psychogenen Hörstörungen im Kindesalter. HNO. 2003;51(11):915-20.
6.
Pracy JP. Childhood pseudohypacusis. Int J Pediatr Otorhinolaryngol. 1996;37(2):143-9. DOI: 10.1016/0165-5876(96)01397-3 Externer Link
7.
Saravanappa N. Diagnostic tools in pseudohypacusis in children. Int J Pediatr Otorhinolaryngol. 2005;69(9):1235-8. DOI: 10.1016/j.ijporl.2005.03.039 Externer Link
8.
Zorowka PG. Psychogene Hörstörungen im Kindes- und Jugendalter. HNO. 1992;40(10):386-91.