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100 Jahre Phoniatrie in Deutschland
22. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie
24. Kongress der Union Europäischer Phoniater

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

16. bis 18.09.2005, Berlin

Schwerhörigkeit, congenitale Hypothyreose und Struma - Pendred-Syndrom?

Hearing impairment and congenital goitrous hypothyroidism - Pendred syndrome?

Poster

100 Jahre Phoniatrie in Deutschland. 22. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie, 24. Kongress der Union der Europäischen Phoniater. Berlin, 16.-18.09.2005. Düsseldorf, Köln: German Medical Science; 2005. Doc05dgppP09

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/meetings/dgpp2005/05dgpp075.shtml

Veröffentlicht: 15. September 2005

© 2005 Napiontek et al.
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Zusammenfassung

Bei dem gleichzeitigen Auftreten von congenitaler bilateraler Innenohrschwerhörigkeit und Hypothyreose mit Struma wird differentialdiagnostisch an ein Pendred-Syndrom gedacht.

Berichtet wird über ein mittlerweile 19 Monate altes Kleinkind, bei welchem im Rahmen des Neugeborenenscreenings eine Hypothyreose entdeckt wurde. Bei der im Alter von 4 Wochen durchgeführten audiologischen Diagnostik ließen sich TEOAE bei reizlosen Mittelohrverhältnissen nicht messen, in der BERA waren die Potentiale JV ab 50 bzw. 55 dB ableitbar. Im Alter von 4 Monaten ließen sich die Potentiale JV bei 30 bzw. 35 dB ableiten. Bis zum Alter von 18 Monaten ist die Hörschwelle stabil geblieben, so dass eine Hörbahnreifungsverzögerung diskutiert werden muss. Molekulargenetisch wurden 3 Mutationen auf zwei verschiedenen Genen, eine heterozygote Mutation im SLC26A4/PDS-Gen sowie zwei compound heterozygote Mutationen im Thyroidperoxidase-Gen, nachgewiesen. Auf dieser Grundlage werden verschiedene Hypothesen zur Erklärung der komplexen Symptomatik diskutiert.


Text

Einleitung und Fallbeschreibung

Treten angeborene bilaterale Innenohrschwerhörigkeit und Hypothyreose mit Struma gemeinsam auf, so ist differentialdiagnostisch an ein Pendred-Syndrom zu denken.

Berichtet wird über ein mittlerweile 19 Monate altes Kleinkind, bei welchem im Rahmen des Neugeborenenscreenings eine Hypothyreose entdeckt wurde. Der Junge ist das dritte Kind gesunder, nicht miteinander verwandter Eltern, der zwei gesunde Schwestern hat.

Postnatal wurde eine primäre kongenitale Hypothyreose diagnostiziert und sofort nach der Diagnosestellung am 8. Lebenstag mit der Schilddrüsenhormonsubstitution begonnen. Sonographisch bestand eine Struma. Bei der im Alter von 4 Wochen durchgeführten audiologischen Diagnostik ließen sich transitorisch evozierte otoakustische Emissionen (TEOAE) bei reizlosen Mittelohrverhältnissen nicht messen, in der Hirnstammaudiometrie (BERA) waren die Potentiale Jewett V ab 50 bzw. 55 dB ableitbar. Bei der im Alter von 4 Monaten durchgeführten BERA-Kontrolle ließen sich die Potentiale Jewett V bei 30 bzw. 35 dB ableiten. Diese Potentialschwellen bestätigten sich im Alter von 19 Monaten, in der Ablenkaudiometrie lag die Hörschwelle im freien Schallfeld bei 25-35 dB. Diese ist bis zur vorerst letzten Untersuchung im Alter von 19 Monaten stabil geblieben.

Die motorische Entwicklung des Patienten verlief weitgehend unauffällig, im Alter von 18 Monaten befand er sich in der II. Lallphase, mit 19 Monaten wurden erste Einzelwörter gesprochen. Der Verdacht auf einen verzögerten Spracherwerb ist somit nicht auszuschließen.

Methode und Ergebnisse

Nach Einwilligung der Eltern wurden die DNA des Patienten und seiner Eltern untersucht. Dabei wurden die Gene SLC26A4/PDS, GJB2/Connexin 26 und das Thyroidperoxidase (TPO)-Gen von genomischer DNA direkt sequenziert. Es fand sich eine heterozygote Mutation R776C in Exon 21 auf dem SLC26A4/PDS-Gen, welche auch bei der Mutter nachgewiesen wurde. Auf dem väterlichen SLC26A4/PDS-Gen fand sich keine Mutation. Ebenfalls keine Mutation wurde auf dem Connexin 26-Gen detektiert.

Auf dem TPO-Gen bestanden compound heterozygote Mutationen, zum einen die väterlicherseits heterozygot vererbte neue Nonsense-Mutation Q235X auf Exon 7, andererseits eine Missense-Mutation auf Exon 9 (Y453D), die ebenfalls bei der Mutter heterozygot nachgewiesen werden konnte.

Diskussion

Angeborene bilaterale Innenohrschwerhörigkeit und Hypothyreose mit Struma lassen differentialdiagnostisch an ein Pendred-Syndrom denken. Alle drei Symptome lagen bei dem von uns beschriebenen Jungen unmittelbar nach der Geburt vor. Bei dem jungen Alter des Kindes wurde ein Jod-Depletionstest, der die Jodverwertungsstörung beweisen könnte, nicht durchgeführt. Ebenfalls verzichteten wir auf eine Kernspintomographie des Innenohrs zum Nachweis eines erweiteren Aquaeductus vestibularis (EVA), der bei fast allen Patienten mit Pendred-Syndrom besteht [1]. Die Schwerhörigkeit der Patienten mit Pendred-Syndrom ist zumeist hochgradig, jedoch finden sich in dem von uns betreuten, teils pädiatrischen Patientenkollektiv mit dieser Erkrankung auch Patienten mit zunächst geringgradiger Schwerhörigkeit, die sich erst im Verlauf verschlechtert [2]. Kein Fall ist uns jedoch bekannt, bei welchem sich eine anfangs bestehende Schwerhörigkeit normalisierte, wie es z. B. bei einer Hörbahnreifungsverzögerung im frühen Kindesalter vorkommen kann.

In der molekulargenetischen Untersuchung wurden drei Mutationen auf zwei verschiedenen Genen, eine heterozygote Mutation im SLC26A4/PDS-Gen sowie zwei compound heterozygote Mutationen im TPO-Gen, nachgewiesen.

Das Pendred-Syndrom wird immer verursacht durch eine Mutation auf beiden Allelen und nicht wie hier nachgewiesen durch eine singuläre heterozygote Mutation. Allerdings wurde die von uns entdeckte Mutation auf dem SLC26A4/PDS-Gen erst kürzlich bei zwei Geschwistern mit einer nicht-syndromalen Schwerhörigkeit mit EVA nachgewiesen. Sie könnte somit die Hörstörung, aber nicht die Hypothyreose des Patienten erklären. Verantwortlich hierfür sind vermutlich die beiden heterozygoten Mutationen im TPO-Gen, von denen eine bereits bei Patienten mit Hypothyreose beschrieben wurde [3]. Hinsichtlich der Schwerhörigkeit ist ebenfalls zu bedenken, dass auch die Mutter unseres Patienten die heterozygote Mutation im SLC26A4/PDS-Gen aufweist, aber normalhörend ist. Nicht bekannt ist, ob auch sie in früher Kindheit eine Hörbahnreifungsverzögerung aufwies. Außerdem ist bislang nicht bekannt, ob sich bei Kindern mit einer Hörbahnreifungsverzögerung eine genetische Ursache finden lässt. Hier sind weitere Untersuchungen zu dem seltenen Phänomen der Hörbahnreifungsverzögerung notwendig.

Diskutiert werden muss, ob nicht die Hypothyreose selbst die Hörstörung verursacht hat und im Rahmen der Substitution mit Thyroxin eine Remission eintreten konnte. Zudem müssen weitere Untersuchungen zeigen, ob und wie sich das Pendrin und die Thyroidperoxidase gegenseitig beeinflussen, da beide eine wesentliche Rolle im intrathyroidalen Jodstoffwechsel spielen.


Literatur

1.
Phelps PD, Coffey RA, Trembath RC, Luxon LM, Grossman AB, Britton KE, Kendall-Taylor P, Graham JM, Cadge BC, Stephens SG, Pembrey ME, Reardon W. Radiological malformations of the ear in Pendred syndrome. Clin Radiol 1998; 53:268-2
2.
Napiontek U, Borck G, Muller-Forell W, Pfarr N, Bohnert A, Keilmann A, Pohlenz J. Intrafamilial variability of the deafness and goiter phenotype in Pendred syndrome caused by a T416P mutation in the SLC26A4 gene. J Clin Endocrinol Metab 2004; 89:5347-5351
3.
Bikker H, Vulsma T, Baas F, de Vijlder JJ. Identification of five novel inactivating mutations in the human thyroid peroxidase gene by denaturing gradient gel electro-phoresis. Hum Mutat 1995; 6:9-16