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100 Jahre Phoniatrie in Deutschland
22. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie
24. Kongress der Union Europäischer Phoniater

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

16. bis 18.09.2005, Berlin

Zur Notwendigkeit eines spezifischen Trainings der phonologischen Bewusstheit bei Risikokindern

Is a specific training of the phonological awareness necessary in children at risk?

Vortrag

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  • corresponding author presenting/speaker Annerose Keilmann - Universitätsklinik für HNO und Kommunikationsstörungen, Mainz, Deutschland
  • author Monika Wintermeyer - Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a. M., FB 4 – Erziehungswissenschaften, Frankfurt a. M., Deutschland

100 Jahre Phoniatrie in Deutschland. 22. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie, 24. Kongress der Union der Europäischen Phoniater. Berlin, 16.-18.09.2005. Düsseldorf, Köln: German Medical Science; 2005. Doc05dgppV58

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/meetings/dgpp2005/05dgpp031.shtml

Veröffentlicht: 15. September 2005

© 2005 Keilmann et al.
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Zusammenfassung

Die phonologische Bewusstheit gilt als einer der wesentlichen Prädiktoren für den späteren Lese- und Schreiberwerb.

In einer Gruppe von 131 Kindern, die entweder am Würzburger Trainingsprogramm oder einem alternativen Wahrnehmungstraining teilgenommen hatten, untersuchten wir die Lese- und Schreibleistungen bei den Kindern, die im Bielefelder Screening oder in der Untersuchung nach IDIS als Risikokinder eingestuft worden waren.

Kinder, die nach dem Bielefelder Screening als Risikokinder eingestuft worden waren, schnitten im Lesetest tendenziell, in der Rechtschreibprüfung signifikant schlechter ab als der Rest der Gruppe, ohne dass ein spezifischer Trainingseffekt nachweisbar war. Auch mit den 3 Untertests von IDIS ließen sich zuverlässig Risikokinder für den Schriftspracherwerb diagnostizieren, die Schwierigkeiten dieser Kinder ließen sich aber weder mit dem phonologischen noch mit dem Wahrnehmungstraining beheben.

Unsere Studie lässt keine Aussage darüber zu, ob die Risikokinder ohne jegliches Training noch schlechter abgeschnitten hätten. Das alleinige Training der phonologischen Bewusstheit reicht jedoch offenbar zur Gewährleistung eines ungestörten Schriftspracherwerbs nicht aus und zeigte keinen bedeutsam besseren Effekt als ein unspezifisches Training der Wahrnehmung.


Text

Einleitung

Die phonologische Bewusstheit gilt als einer der wesentlichen Prädiktoren für den späteren Lese- und Schreiberwerb. Studien konnten auch für deutsche Programme zur Förderung der phonologischen Bewusstheit vor dem Lese-Schreiberwerb zeigen, dass trainierte Kinder besser lesen und schreiben lernten als nicht trainierte [10]. In den bisher publizierten Studien wurden die trainierten Kinder aber nur wenig voruntersucht und ein unspezifischer Effekt des Trainings konnte nicht ausgeschlossen werden.

Methode

Wir begleiteten die Einführung eines vorschulischen Trainingsprogramms in Wiesbadener Kindertageseinrichtungen. 218 Kinder nahmen daran teil. Eine ausführliche Voruntersuchung umfasst die Anamnese, z. B. nach zurückliegenden Hörstörungen oder Sprachauffälligkeiten, die ärztliche Untersuchung, eine ausführliche logopädische Sprachdiagnostik, eine Überprüfung der visuellen Wahrnehmung, Hörprüfungen, aber auch das Bielefelder Screening [3] zur Erkennung von Risikokindern für den Lese-Rechtschreiberwerb und mehrere Untertests aus IDIS [11], die in HASE [1] zur Erkennung von Risikokindern im Rahmen der Einschulungsuntersuchung eingesetzt werden. Im letzten Kindergartenjahr nahmen die Kinder entweder am Würzburger Trainingsprogramm [4] oder am Wahrnehmungstraining nach Mertens [7] teil. Wir setzten dazu die Version des Würzburger Programms ein, die damals verfügbar war. Inzwischen haben die Autoren ein weiteres Programm entwickelt (Hören Lauschen Lernen 2; [8]), in dem auch Buchstaben eingeführt werden. Für das Wahrnehmungsprogramm legten wir den Zeitplan so fest, dass beide Programme mit dem gleichen Zeitaufwand betrieben wurden. Vor Beginn des Trainings wurden die Kindertageseinrichtungen den beiden Programmen zurandomisiert. Bei 131 der trainierten Kinder konnten wir die Lese- und Schreibleistungen [4], [6] am Ende des ersten Schuljahres untersuchen. Wir verglichen jeweils die Kinder, die aufgrund ihrer sprachlichen Fähigkeiten, ihrer Hörleistung oder der Ergebnisse des Bielefelder Screenings [3] oder von IDIS als Risikokinder angesehen werden mussten, mit den übrigen Kindern und zusätzlich den Effekt der beiden Programme.

Ergebnisse

Die 8 Kinder, bei denen die Logopädin eine schwere Sprachentwicklungsstörung diagnostiziert hatte, blieben in ihren Leistungen noch deutlicher hinter dem Gruppenmittel zurück als die 25, bei denen eine mittelschwere Sprachentwicklungsstörung vorlag. Dies traf für Lesen und Schreiben gleichermaßen zu und blieb von der Art des Trainings unbeeinflusst.

Kinder, bei denen aufgrund einer diagnostizierten Schallleitungsschwerhörigkeit oder berichteten Perioden von vorausgegangener Schwerhörigkeit von einem erhöhten Risiko für eine auditive Wahrnehmungsstörung ausgegangen werden musste, blieben nur nach dem allgemeinen Wahrnehmungstraining auffällig. Sowohl beim Lesen als auch beim Schreiben erreichten die spezifisch trainierten Kinder die Norm und bessere Leistungen als die Vergleichsgruppe, beim Untertest HSPO der Hamburger Schreibprobe [6] war dieser Unterschied signifikant.

Kinder, die nach dem Bielefelder Screening als Risikokinder eingestuft worden waren, schnitten im Lesetest tendenziell, in der Rechtschreibprüfung signifikant schlechter ab als der Rest der Gruppe, ohne dass ein spezifischer Trainingseffekt nachweisbar war.

Auch mit den 3 Untertests von IDIS ließen sich zuverlässig Risikokinder für den Schriftspracherwerb diagnostizieren, die Schwierigkeiten dieser Kinder ließen sich aber weder mit dem phonologischen noch mit dem Wahrnehmungstraining beheben.

Diskussion

Unsere Studie lässt keine Aussage darüber zu, ob die Risikokinder ohne jegliches Training noch schlechter abgeschnitten hätten. Das alleinige Training der phonologischen Bewusstheit reicht jedoch offenbar zur Gewährleistung eines ungestörten Schriftspracherwerbs nicht aus und zeigte keinen bedeutsam besseren Effekt als ein unspezifisches Training der Wahrnehmung.

In unserer Studie bestätigte sich, dass eine Sprachentwicklungsstörung ein bedeutender Risikofaktor für die Entwicklung von Lese-Rechtschreibschwächen ist. Ein spezifischer Effekt des spezialisierten Trainings ließ sich für die ganze Gruppe der sprachauffälligen Kinder nicht nachweisen. Vergleichbare Leistungen boten die Kinder, die nach IDIS oder im Bielefelder Screening als Risikokinder eingeschätzt wurden. Allerdings zeigte sich auch in unserer Studie eine erhebliche Streuung der Ergebnisse in der Gruppe der trainierten Kinder, besonders beim Lesen. Ähnliches hatten auch Schneider et al. [9] beschrieben. Möglicherweise gibt es in der Risikogruppe Kinder, die sich trotz Training nicht verbessern können, sich als „trainingsresistent" erweisen.

Lediglich bei den Kindern, die aufgrund ihrer Geschichte oder aktueller Befund ein erhöhtes Risiko für eine auditive Wahrnehmungsstörung aufwiesen, ergab sich ein spezifischer Effekt des Trainings.

Nach unseren Ergebnissen bleibt also die Überlegenheit einer spezifischen Förderung der phonologischen Bewusstheit im Hinblick auf eine Steigerung der späteren Lese- und Schreibfertigkeit bei Kindern mit speziellen Risikofaktoren fraglich, allerdings ist die phonologische Bewusstheit nur einer von mehreren Prädiktoren für den Schriftspracherwerb. Castles und Coltheart schlossen aus ihrer Metaanalyse, dass der Beweis für einen ursächlichen Zusammenhang zwischen den Leistungen in der phonologischen Bewusstheit und dem Erfolg beim Lesen- und Schreibenlernen noch ausstehe [2].


Literatur

1.
Brunner M, Schöler H (2001/02). HASE - Heidelberger Auditives Screening in der Einschulungsuntersuchung. Westra, Wertingen
2.
Castles A, Coltheart M (2004) Is there a causal link from phonological awareness to success in learning to read? Cognition 91:77-111
3.
Jansen H, Mannhaupt G, Marx H, Skowronek H (1999) Bielefelder Screening zur Früherkennung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten (BISC) Göttingen: Hogrefe
4.
Küspert P, Schneider W (1998) Würzburger Leise Leseprobe, Göttingen, Hogrefe
5.
Küspert P, Schneider W (2000) Hören, lauschen, lernen. Sprachspiele für Kinder im Vorschulalter. 2. Auflage. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht
6.
May P (1998) Hamburger Schreib-Probe (HSP1+) 5. Auflage. Verlag für pädagogische medien, Hamburg
7.
Mertens K (1988) Lernprogramm zur Wahrnehmungsförderung. Verlag modernes lernen, Dortmund
8.
Plume E; Schneider W (2004) Hören, lauschen, lernen 2 Set. Spiele mit Buchstaben und Lauten für Kinder im Vorschulalter. Würzburger Buchstaben-Laut-Training. Vandenhoeck + Ruprecht, Göttingen
9.
Schneider W, Ennemoser M, Roth E, Küspert P (1999) Kindergarten prevention of dyslexia: does training in phonological awareness work for everybody? J Learning Disabilities 32: 429-436
10.
Schneider W, Küspert P, Roth E, Visé M (1997) Short- and long-term effects of training phonological awareness in kindergarten: evidence from two German studies. J exp Child Psychol 66: 311-340
11.
Schöler H (1999) IDIS - Inventar diagnostischer Informationen bei Sprachentwicklungsauffälligkeiten. Heidelberg, Edition S im Universitätsverlag Winter