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100 Jahre Phoniatrie in Deutschland
22. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie
24. Kongress der Union Europäischer Phoniater

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

16. bis 18.09.2005, Berlin

Muskelverspannungen im Phonationstrakt, ausgelöst durch Kiefergelenksstörungen und/oder funktionelle Halswirbelsäulenstörungen

Muscular hypertensions of the vocal tract produced by disorders of the mandibular joint and/or the cervical spine

Vortrag

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  • corresponding author presenting/speaker Manfred Hülse - Univ.HNO-Klinik, Abt. Phoniatrie, Pädaudiologie und Neurootologie, Mannheim, Deutschland
  • author Brigitte Losert-Bruggner - Praxis für ganzheitliche Zahnheilkunde und cranio-mandibuläre Orthopädie, Lampertheim, Deutschland

100 Jahre Phoniatrie in Deutschland. 22. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie, 24. Kongress der Union der Europäischen Phoniater. Berlin, 16.-18.09.2005. Düsseldorf, Köln: German Medical Science; 2005. Doc05dgppV06

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/meetings/dgpp2005/05dgpp004.shtml

Veröffentlicht: 15. September 2005

© 2005 Hülse et al.
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Zusammenfassung

Über die Hälfte aller Erwachsenen leiden unter einer Craniomandibulären Dysfunktion, funktionellen Halswirbelsäulenstörungen. Die HWS-Störungen sind bei Erwachsenen sogar nahezu ubiquitär nachweisbar. Die enge reflektorische Verflechtung beider Krankheitsbilder erklärt die große Vielfalt und Überschneidung beider Erkrankungen. Neben der Schmerzsymptomatik stehen vor allem Muskelverspannungen im Vordergrund. Diese Verspannungen sind im gesamten Körper, von der Kaumuskulatur bis zu den Sprunggelenken, palpabel und durch einfache Teste (z.B. Priener Hüftabduktionstest , leg-turn-in-Test) zu demonstrieren. Um den Einfluss der Kiefergelenke und der HWS auf die Muskulatur im Phonationstrakt nachweisen zu können, wurden mittels Oberflächenelektroden EMG-Ableitungen, seitengetrennt, von den Mm. temporalis (pars ant. et post.), masseter, digastricus, sternocleidomastoideus und trapezius durchgeführt. Durch den Vergleich des Ausgangsbefundes mit dem EMG-Befund nach Lösung der Kopfgelenksblockierung und Behandlung der Kiefergelenke können eindeutig die Auswirkungen dieser HWS- und Kiefergelenksstörungen auf die untersuchten Muskelgruppen nachgewiesen werden.


Text

Einleitung

Die funktionelle Störung der Halswirbelsäule (HWS) ist eine reflektorische Störung des Haltungs- und Bewegungsapparates von Hals und Kopf. Hierbei kann jedes Bewegungssegment betroffen sein. Jedes Wirbelsäulensegment setzt sich aus den knöchernen Strukturen (Knochen, Gelenken, Bändern), den bewegenden Strukturen (Muskeln und Sehnen) und den „steuernden Elementen" (peripheres und zentrales Nervensystem) zusammen. Diese kybernetische Einheit wird als „Arthron" bezeichnet. Eine Störung im Arthron betrifft immer alle Komponenten zugleich: eine Bewegungshemmung im Gelenk hat stets eine Aktivitätsänderung der sensiblen und motorischen Nerven und eine Tonusänderung der Muskulatur zur Folge. Tonusänderungen der segmentalen Muskulatur erfolgen auf der Ebene der spinalen Verknüpfung von Hinterhornkomplex und motorischem Vorderhorn. Besteht ein funktionelles Defizit in einem Arthron, findet sich in diesem Segment bei der manuellen Untersuchung eine Bewegungseinschränkung des Gelenkes (vor allem bei der Untersuchung des „joint play") und ein Muskelhypertonus der zugeordneten Muskeln. Ein solches funktionelles Defizit (sog. „Blockierung") ist in der Regel voll reversibel. Die Manualtherapie ist bei diesem Krankheitsbild die Behandlung der Wahl.

Die Kopfgelenke (zwischen Okziput und Atlas, Atlas und Axis sowie funktionell auch C2/3) nehmen nicht nur wegen ihrer pathophysiologischen Bedeutung für das vielfältige Beschwerdebild im Kopf-Bereich eine Sonderstellung ein sondern auch, weil es nahezu keine Blockierung im Bereich der Wirbelsäule ohne eine Blockierung im Kopfgelenksbereich gibt. Eine Blockierung im Bereich der HWS und insbesondere in der oberen HWS ist beim Erwachsenen nahezu ubiquitär zu beobachten, wobei es sich aber oft um „stumme" Blockierungen handelt, die noch keine subjektive Beschwerdesymptomatik verursacht.

Die Vorstellungen über das Wirbelsäulen-Arthron sind auch auf die Kiefergelenke übertragbar. Während eine Blockierung im Wirbelsäulenbereich in dem Versorgungsbereich der zugehörigen Spinalnerven eine segmentale Störung erkennen läßt, führt eine Kiefergelenksstörung, eine „craniomandibuläre Dysfunktion („CMD") zu einer Störung im Trigeminusbereich: es entwickelt sich ein Hypertonus im Bereich der Kaumuskulatur. (Ein typisches Krankheitsbild ist das „Zähneknirschen").

In den letzten Jahren werden zunehmend die sehr engen neurophysiologischen und reflektorischen Verbindungen zwischen den Kopfgelenken und den Kiefergelenken erkannt. Das Kiefergelenk wird sensibel vom N. mandibularis versorgt, erhält aber auch Fasern aus den Ganglien C2-C5. Besonders dicht ist die sensible Versorgung im Bereich der bilaminären Zone. Afferente Fasern des Trigeminus haben Verbindungen mit bzw. gleiche Projektionsorte in dem Nucleus spinalis trigemini. Afferenzen aus den Segmenten C2-C4 vermischen sich mit Fasern des Nucleus spinalis N. trigemini. Es wird hier von einer cervico-trigeminalen Konvergenz gesprochen.

Dies bedeutet, dass Kiefer- und Kopfgelenke nicht mehr isoliert betrachtet werden dürfen sondern nahezu als Einheit, zumindest im pathophysiologischen Bereich, angesehen werden müssen. Bestätigt wird dies in der täglichen phoniatrischen Praxis, wenn bei Stimmstörungen(meist hyperfunktionell) oder bei orofazialen Dysfunktionen Muskelverspannungen im Bereich der vom Trigeminus versorgten Kaumuskulatur aber auch im Bereich der Mm. Sternocleidomastoideus und Trapezius (beide vom N. accessorius versorgt) sowie der Nacken- und der prälaryngealen Muskulatur (von den Zervikalnerven versorgt) tastbar sind.

Methode

Untersucht wurde bei Patienten mit einer funktionellen Kopfgelenksstörung (fKGSt) und einer CMD elektromyographisch, Seiten getrennt der Ruhetonus der Mm. Temporalis pars anterior et pars posterior, Masseter, Digastricus, Trapezius und Sternocleidomastoideus. Nach Erhebung des Ausgangsbefundes wurde die funktionelle Kopfgelenksstörung bei liegenden Elektroden manualtherapeutisch behandelt. Nach der Manualtherapie wurde die elektromyographische Kontrolle durchgeführt. Anschließend wurde zahnärztlicherseits die Kaumuskulatur (im Bereich des M. Masseter) mit der niederfrequenten TENS-Therapie weiterbehandelt, um eine maximale Entspannung der Muskulatur zu erzielen.

Ergebnisse

Bei der funktionellen Kopfgelenksstörung und der CMD ist elektromyographisch der stark erhöhte Muskeltonus zu erkennen. In Abbildung 1 [Abb. 1] zeigen alle untersuchten Muskeln, bis auf die Mm Digastrici, eine deutlich erhöhte Spontanaktivität. Das EMG dokumentiert, dass Muskelverspannungen im Trigeminusbereich - Kaumuskulatur - , im Versorgungsgebiet des N. Accessorius - Mm sternocleidomastoideus und Trapezius - und der Spinalnerven - Nacken und prälaryngeale Muskulatur - nicht isoliert betrachtet werden dürfen sondern vielmehr zu einer nosologischen Einheit gehören. Deutlich wird diese Einheit, wenn allein durch manualtherapeutische Lösung des funktionellen Defizites im Kopfgelenksbereich die muskuläre Verspannung der Kaumuskulatur und der vom N. accessorius versorgten Halsmuskulatur signifikant verbessert wird. Elektromyographisch wird ein Einfluss der Kopfgelenksregion auf die Kaumuskulatur und auch auf die vom N. accessorius innervierte Halsmuskulatur objektiviert. Auf der anderen Seite wird auch die Nacken- und Halsmuskulatur in ihrem Ruhetonus positiv beeinflusst, wenn allein eine niederfrequente TENS-Therapie im Masseterbereich durchgeführt wird (Tabelle 1 [Tab. 1]).

Diskussion

Bei der CMD ist fast regelmäßig eine Retrallage (Rückverlagerung) des Unterkiefers zu beobachten. Diese Störung kann zahnärztlicherseits als Folge einer okklusonalen Störung beobachtet werden. In den letzten Jahren wird zunehmend erkannt, dass auch die Muskelverspannungen bei einer fKGSt eine solche pathologische Retrallage des Unterkiefers verursachen können. Für den Zahnarzt bedeutet dies, dass eine Aufbissschiene zur Behandlung der CMD nur dann erfolgreich angepasst werden kann, wenn die HWS zuvor manualtherapeutisch behandelt wurde. Umgekehrt kann der Manualtherapeut nur dann einen anhaltenden Therapieerfolg bei der HWS-Behandlung erzielen, wenn die CMD erfolgreich therapiert wird.

Dass die Kenntnisse der Funktionsstörungen bei einer fKGSt und bei einer CMD für den Phoniater und auch für den Logopäden enorm wichtig sind, wird aus den untersuchten Muskelgruppen deutlich: die prälaryngeale Muskulatur hat einen starken Einfluss auf die Stimmbandspannung aber auch auf den supraglottischen Bereich. Die Kaumuskulatur und die Muskulatur im Mundbodenbereich, im Hypo-, Meso- und Nasopharynxbereich modullieren den gesamten Resonanzraum. Es ist leicht nachvollziehbar, dass allein eine fKGSt und eine CMD die Stimmbandspannung und damit Tonhöhe und Stimmstärke und darüber hinaus auch durch Veränderungen im Resonanzraum den Stimmklang beeinflussen. Diese Stimmveränderungen können einen erheblichen Krankheitswert erreichen. Bei Sprechberufen fällt eine ausgeprägte Belastungsdysphonie auf. In Einzelfällen wurde auch eine so ausgeprägte Stimmstörung beobachtet, dass eine Arbeitsunfähigkeit bestand. Die alleinige logopädische Behandlung, selbst während einer Stimmheilkur hatte eine Stimmverbesserung nicht erzielen können. Erst nach der kausalen Therapie - die Manualtherapie der fKGSt und die Zahnfachärztliche Behandlung der CMD - wurde eine zufrieden stellende Stimmverbesserung erreicht. (In der eigenen phoniatrischen Praxis kann auf mehrere solcher Patienten verwiesen werden, die wegen einer Dysphonie trotz einer länger als ein Jahr andauernden logopädischen Behandlung nicht arbeiten konnten und die nach der Manualtherapie innerhalb weniger Wochen - ohne erneute logopädische Behandlung - wieder arbeitsfähig wurden.)

Im Regelfall jedoch muss bei einer hyperfunktionellen Dysphonie davon ausgegangen werden, dass eine nahezu ubiquitär bestehende funktionelle Störung der HWS die Symptomatik der Dysphonie verstärkt oder erst klinisch bemerkbar macht. Spätestens, wenn die Therapieerfolge einer logopädischen Behandlung bei einer funktionellen Dysphonie nicht befriedigend sind, muss an eine zervikale Komponente und an eine CMD gedacht werden.

Diese Zusammenhänge müssen besonders auch bei der Stimme von Sängern und Schauspielern beachtet werden. Aufgrund der Ausbildung ist bei ausgebildeten Sängern und Schauspielern eine falsche Stimmtechnik eher unwahrscheinlich. Wenn sich die Stimme bei diesen Berufsgruppen akut verschlechtert und kein Infekt erkennbar ist, muss an eine fKGSt und eine CMD gedacht werden.


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