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21. Wissenschaftliche Jahrestagung der DGPP

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie

10. bis 12.09.2004, Freiburg/Breisgau

Untersuchungen zum Sprachstand vierjähriger Vorschulkinder

Vortrag

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  • author presenting/speaker Roswitha Berger - Philipps Universität Marburg, Phoniatrie und Pädaudiologie, Marburg, Deutschland
  • author Inge Holler-Zittlau - Institut für Heil- und Sonderpädagogik, Giessen, Deutschland
  • Winfried Dux - Hünfeld, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 21. Wissenschaftliche Jahrestagung der DGPP. Freiburg/Breisgau, 10.-12.09.2004. Düsseldorf, Köln: German Medical Science; 2004. Doc04dgppV40

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/meetings/dgpp2004/04dgpp68.shtml

Veröffentlicht: 9. September 2004

© 2004 Berger et al.
Dieser Artikel ist ein Open Access-Artikel und steht unter den Creative Commons Lizenzbedingungen (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/deed.de). Er darf vervielfältigt, verbreitet und öffentlich zugänglich gemacht werden, vorausgesetzt dass Autor und Quelle genannt werden.


Zusammenfassung

Klinische Erfahrungen der letzten Jahre zeigten eine Zunahme der Kinder, die wegen einer auffälligen Sprachentwicklung vorgestellt wurden. Diese Tatsache spiegelt sich unserer Meinung nach auch in den Ergebnissen der PISA-Studie wieder. Zur Klärung der Fragestellung, ob eine Zunahme von sprachgestörten Vorschulkindern vorliegt, war als erstes eine Untersuchung erforderlich, die Aussagen zum aktuellen Sprachstand Vierjähriger ermöglichte. Um eine repräsentative Anzahl gleichaltriger Kinder untersuchen zu können, erfolgte die Überprüfung des Sprachstandes in Zusammenarbeit mit den Sprachheilbeauftragten in 79 Kindergärten in ganz Hessen. Dazu war die Erarbeitung eines Prüfverfahrens erforderlich, das alle Bereiche der Sprachentwicklung erfasste und zeitlich sowohl die Mitarbeit des Kindes als auch eine vertretbare Untersuchungszeit des Prüfers berücksichtigte. Wir entwickelten das Marburger Sprach Screening (MSS), das sich an den Sprachleistungen des normalen Spracherwerbs orientiert. Von Mai 2003 bis Juli 2003 wurden insgesamt 759 Kinder im Alter mit 4,0-4,5 Jahren mit dem MSS untersucht. Dabei wurden 22 Prozent der Kinder mit Deutsch als Muttersprache und 51,2 Prozent aller Kinder mit Deutsch im Zweitspracherwerb als sprachgestört ermittelt. Die weiteren Ergebnisse der einzelnen sprachlichen Leistungen sollen detailliert vorgestellt werden.


Text

Einleitung

Sprache ist das vorrangige Kommunikationsmittel in unserer Gesellschaft. Eigene klinische Beobachtungen der letzten Jahre zeigten eine Zunahme der Kinder, die wegen einer auffälligen Sprachentwicklung vorgestellt wurden. Dies wird auch durch schulärztliche Untersuchungen im Kreis Marburg- Biedenkopf bestätigt. Im Jahre 1999 waren 9.1 % der Schulanfänger als sprachgestört eingestuft worden. Diese Ergebnisse belegen eine unzureichende sprachliche Fähigkeit zu Schulbeginn. Aus dieser Tatsache könnten sich vermehrte Probleme beim Schriftspracherwerb ergeben. Die Ergebnisse in der PISA Studie von 2001 dokumentierten tatsächlich eine abnehmende Lesekompetenz der 15- jährigen Schüler. Die Notwendigkeit einer frühzeitigen Einschätzung der sprachlichen Fähigkeiten aller Kinder ist dringend geboten, um ggf. frühzeitige Therapie oder Förderung einzuleiten [1]. Zur Klärung der Fragestellung, ob die Sprache bei 4 jährigen Kindern altersgemäß entwickelt ist oder ob tatsächlich gravierende Auffälligkeiten vorliegen, wurde eine Untersuchung an einer repräsentativen Anzahl gleichaltriger Kinder vorgenommen und der Sprachentwicklungsstand bewertet.

Material

Damit innerhalb eines kurzen Untersuchungszeitraumes eine große Anzahl gleichaltriger Kinder überprüft werden konnte, erfolgte die Sprachüberprüfung durch 40 Sprachheilbeauftragte in 89 Kindertageseinrichtungen in Hessen. Nach Eingang der Einverständniserklärung durch die Eltern fand die Überprüfung des Sprachstandes in der Kindertagesstätte statt. Für diese Untersuchung wurde ein neues Sprach- Screening Verfahren konzipiert, das sich am Verlauf der ungestörten Sprachentwicklung orientiert [2]. Im Marburger Sprach Screening (MSS) können Aussagen zur Kommunikations- und Sprachfähigkeit, der Artikulationsentwicklung, zur Begriffsentwicklung sowie zur Syntaxentwicklung getroffen werden [3]. Anhand einer Bildvorlage wurden diese Leistungen überprüft. Besondere Beachtung erhielt die Syntaxentwicklung, die als wichtiger Hinweis zur normgerechten Sprachentwicklung gesehen wird. Aus den möglichen richtigen Antworten wurde ein Bewertungsscore ermittelt, der zwischen „unauffällig" und „notwendiger Förderbedarf" differenzierte. Alle an der Untersuchung Beteiligten erhielten eine Unterweisung zur Durchführung.

Ergebnisse

Insgesamt konnten 768 von 904 Kindern untersucht werden, die in der Zeit vom 01.12.98-31.05.99 geboren wurden und damit im gleichen Prüfalter waren. 85 % aller Eltern gaben damit ihre Zustimmung zur Sprach-Überprüfung. Der Anteil der Jungen überwog mit 55.6%. 21 % aller Kinder haben Deutsch als Zweitsprache.

78% aller Kinder mit deutscher Muttersprache wiesen unauffällige Ergebnisse in der Sprachentwicklung auf. Nur 45 Kinder, das entspricht 4,2 %, zeigten eine abgeschlossene primäre Sprachentwicklung. Bei den Kindern mit Migrationshintergrund waren dagegen nur 49% unauffällig [Abb. 1].

Die grammatikalischen Leistungen der Kinder mit deutscher Muttersprache unterschieden sich erheblich von den Kindern mit Deutsch in der Zweitsprache. 75 % aller Kinder mit deutscher Muttersprache waren in der Lage, Pluralformen zu bilden, über 90 % konnten die 3. Person Singular, Nebensätze mit Konjunktionen und Grundkonstruktionen der Partizips bilden. Kinder mit Deutsch im Zweitspracherwerb waren zu 36 % in der Lage, Pluralformen richtig zu gebrauchen, 80 % bildeten die 3. Person Singular und die Partizipform richtig [Abb. 2].

Die Untersuchung ließ auch Aussagen zur Einschätzung der sprachlichen Fähigkeiten durch die eigenen Eltern und der Erzieher zu. In 29 % der Fälle stimmten die Einschätzungen zur Sprachentwicklung sowohl der Eltern als auch der Erzieher nicht überein.

Diskussion

Die Überprüfung deckte mit über 28 % einen großen Anteil sprachentwicklungs-auffälliger Kinder im Alter von 4,0-4,5 Jahren auf. Bei Kindern mit Deutsch im Zweitspracherwerb sind fast 50 % mit nicht altersgemäßer Sprachentwicklung. Damit bestätigen die Untersuchungsergebnisse die klinischen Beobachtungen der letzten Jahre und Ergebnisse anderer Autoren. In diesem Alter sollte die primäre Sprachentwicklung abgeschlossen sein, um die notwendigen Voraussetzungen für einen ungestörten Schriftspracherwerb zu ermöglichen.

Die Untersuchung machte außerdem deutlich, dass Eltern die Sprachentwicklung ihrer Kinder als sehr wichtig einschätzen, denn über 80% aller Eltern stimmten der Überprüfung zu.

Wir konnten auch nachweisen, dass Eltern und Erzieher die sprachlichen Leistungen der Kinder nicht immer richtig einschätzten. Oftmals täuschten Auffälligkeiten im Spiel- und Sozialverhalten der Kinder über die eigentlichen sprachlichen Kompetenzen hinweg und führten dann zu Fehleinschätzungen. Auch Eltern bewerteten die sprachlichen Fähigkeiten nicht richtig. In einigen Fällen werden fast altersphysiologische Befunde als auffällig gewertet oder auch umgekehrt.

Fazit der Untersuchung ist, dass alle in die Entwicklung von Kindern eingebundenen Personen, wie Eltern, Erzieher und auch Ärzte verstärkt auf sprachliche Leistungen achten müssen. Es ist erforderlich, dass Kenntnisse über die normale Sprachentwicklung erworben werden und dass Sprachdiagnostik zu einem früheren Zeitpunkt als bisher erfolgt. Dazu sollten die Kompetenzen der Fach-Ärzte auf diesem Gebiet einbezogen werden. Sprachförderung muss einen höheren Stellenwert erhalten, dies betrifft sowohl das häusliche Umfeld als auch die Kindertagesstätten.


Literatur

1.
Berger R.; Friedrich G.: Zur Früherkennung sprachentwicklungsgestörter Kinder- ein methodischer Ansatz. In Sprache Stimme Gehör, 1994;18. 68-72
2.
Clahsen H.: Spracherwerb in der Kindheit. Eine Untersuchung zur Entwicklung der Syntax bei Kleinkindern. Tübinger Beiträge zur Linguistik 1982
3.
Holler- Zittlau I; Dux W.; Berger R.: Marburger Sprach- Screening für 4-6 jährige Kinder (MSS) Ein Sprachprüfverfahren für Kindergarten und Schule, Persen Verlag GmbH, Horneburg/Niederelbe 2003 ISBN 3 89358 997 X