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„Hausschwangere“ in der BRD: Einblicke in Oral-History-Interviews
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Veröffentlicht: | 7. Februar 2024 |
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Hintergrund: Bis in die 1970er Jahre hinein wurden an deutschsprachigen Universitätsfrauenkliniken junge, schwangere Frauen gegen Unterkunft und Versorgung zu Lehrzwecken untersucht und behandelt. Dieser Beitrag stellt erstmals Ergebnisse aus Interviews mit medizinischem Personal und ehemaligen „Hausschwangeren“ vor, welches während der Ausbildungszeit diese sogenannten „Hausschwangeren“ miterlebte. Diese Praxis war geprägt durch die Gleichzeitigkeit von Abschottung und willkürlichen Eingriffen in die Privatsphäre der Frauen. Das Personal nahm dabei eine unfreiwillige Rolle der gleichzeitigen Dankbarkeit und Solidarisierung sowie des Profitierens für die Ausbildung ein.
Ziel/Fragestellung: Die Studie zielt darauf ab, erste Einblicke in die Erfahrungen und Standpunkte des medizinischen Personals in der Geburtshilfe und betroffenen „Hausschwangeren“ aus den 1960er und 1970er Jahren zu gewinnen. Es wird danach gefragt, wie sowohl das medizinische Personal als auch die „Hausschwangeren“ selbst mit den Herausforderungen des impliziten Zwangs, der unerwünschten Schwangerschaft, sowie mit der Dualität von gesellschaftlicher Ausgrenzung und einem durch klinikinterne Hierarchie geprägtem Kontext umgegangen sind. Darüber hinaus untersucht die Studie die Dynamiken von Dankbarkeit und Solidarisierung gegenüber den „Hausschwangeren“ und die ersten Formen einer engagierten Gegenwehr gegen die Praxis der nicht-konsensuellen Untersuchungen.
Methodik: Es wurden Oral History Interviews mit medizinischem Personal sowie ehemaligen „Hausschwangeren“ geführt. Die Interviews wurden auf Tonband aufgezeichnet und transkribiert. Gezielt ausgewählte Interviewstellen wurden mittels content analysis analysiert, um die Bandbreite der Perspektiven und Erfahrungen sowie übergreifende Muster und Themen aus den Aussagen der Befragten zu identifizieren und zu interpretieren.
Ergebnisse: Die anhand der Forschungsfragen erzielten Codes bestehen aus der Arbeitssituation der „Hausschwangeren“ im Klinikalltag, sowie deren Erleben der körperlichen Untersuchungen. Zudem ist ein zentrales Ergebnis die Erfahrung des Kontakts in Bezug auf das Klinikpersonal als ausgrenzend und hierarchisch, sowie die strukturell ähnliche Situation der oft religiösen, ärmeren Verhältnisse, aus denen die „Hausschwangeren“ in die Klinik kamen.
Relevanz: Diese Studie trägt dazu bei, die historische Perspektive auf die Ausbildungspraxis von Studierenden der Gynäkologie und Geburtshilfe, Hebammen und Krankenschwestern zu erweitern und die komplexe Hierarchie, die Interaktionen zwischen medizinischem Personal untereinander und zwischen medizinischem Personal und Patient*innen charakterisiert war, besser einordnen zu können. Dies ist insbesondere im Kontext des aktuellen Themas der „Gewalt in der geburtshilflichen Versorgung“ relevant, da viele der Fragen und ethischen Dilemmas bis heute in der Geburtshilfe präsent sind und wir erstmals die historischen Vorläufer im Lehrkontext untersuchen.
Schlussfolgerung: Die Studie zeigt, dass „Hausschwangere“ in einer als gewaltsam beschreibbaren Untersuchungs- und Lebenssituation in den Universitätsfrauenkliniken zu Lehrzwecken missbraucht wurden. Aus der Geschichte der Interaktionen zwischen Hausschwangeren und Lernenden des Hebammenwesens und der ärztlichen Geburtshilfe können Informationen über die familiär-gesellschaftliche Situation des Zwangs, die Gleichzeitigkeit von Entblößung und Abschottung, sowie das häufig fehlende Einverständnis zu Untersuchungen abgeleitet werden.
Ethik und Interessenkonflikte: Für das Projekt liegt ein positives Ethikvotum der Ethikkommission der Charité vor. Bislang wird das Projekt nicht durch Drittmittel gefördert. Das Projekt wird zurzeit durch das Institut für Hebammenwissenschaften und das Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin an der Charité finanziert. Es liegen keine Interessenkonflikte vor.