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55. Kongress für Allgemeinmedizin und Familienmedizin

Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM)

Lübeck, 16. - 18.09.2021

Was erzählen Hausärzt*innen über ihre Patient*innen, wenn Sie ihnen KEINE Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bei psychischen und somatoformen Beschwerden ausstellen?

Meeting Abstract

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  • presenting/speaker Bettina Gaertner - Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Medizinische Fakultät, Institut für Allgemeinmedizin, Magdeburg, Deutschland
  • Markus Herrmann - Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Medizinische Fakultät, Institut für Allgemeinmedizin, Magdeburg, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin. 55. Kongress für Allgemeinmedizin und Familienmedizin. Lübeck, 16.-18.09.2021. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2021. DocV-20-05

doi: 10.3205/21degam113, urn:nbn:de:0183-21degam1132

Veröffentlicht: 17. September 2021

© 2021 Gaertner et al.
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Gliederung

Text

Hintergrund: Mit der Attestierung von Arbeitsunfähigkeit (AU) wird Patient*innen ein sozialrechtlicher Status zugeschrieben, der vor sozialen und gesundheitlichen Folgen im Krankheitsfall absichern soll. Nicht alle Patient*innen, die psychische und somatoforme Beschwerden präsentieren und deswegen den Wunsch nach einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorbringen, bekommen dieses Attest. Hausärzt*innen stehen vor der Aufgabe, Beschwerden und Bedürfnisse zu beurteilen. Jedoch sind sie auch gefordert, Missbrauch zu erkennen und Folgeschäden von "Krankschreibung" wie Vermeidungsverhalten und Dekonditionierung von ihren Patient*innen abzuwenden.

Fragestellung: Aus welchen Gründen entscheiden sich Hausärzt*innen bei Patient*innen mit psychischen und somatoformen Beschwerden keine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung auszustellen?

Methoden: Im Rahmen des DFG-geförderten qualitativen Forschungsprojekts "Zwischen Fall- und Systembezug – Professionelles Selbstverständnis und Handlungslogiken von Hausärzt*innen bei der Attestierung von Arbeitsunfähigkeit aufgrund psychischer Beeinträchtigung" wurden im Zeitraum von 2015–2017 mit 28 Hausärzt*innen und 8 ÄIW leitfadengestützte Interviews geführt. Die Auswertung der Daten erfolgte im Forschungsstil der Reflexiv-Grounded-Theory nach Breuer unter Verwendung der Software MaxQDA.

Ergebnisse: Die von den interviewten Hausärzt*innen berichteten Entscheidungen, Patientenwünsche, nach einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zurückzuweisen, deuten auf folgende Einflussfaktoren hin: patientenseitige Anspruchshaltung, Symptomaggravierung, Medikalisierung sozialer Probleme, dysfunktionaler Umgang mit Gesundheit und Krankheit, indirekte Attestierungsaufträge von Vorgesetzten und Arbeitsagentur. Arztseitig leitend ist ein autoritatives professionelles Selbstverständnis. Interaktionell weist die Verweigerung einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung auf eine ungefestigte Arzt-Patient-Beziehung hin, die durch Meinungsverschiedenheiten zusätzlich belastet wird.

Diskussion: Die Attestierung von AU stellt eine Intervention dar, die sozialrechtliche Konsequenzen hat und den Status von Patient*innen als passager arbeitsunfähig ermöglicht. Arbeitsunfähigkeit nicht zu attestieren oder deutlich zu begrenzen, kann helfen, Missbrauch zu verhindern und Folgeschäden durch Dekonditionierung und Vermeidungsverhalten sowie iatrogener Chronifizierung abwenden. Andererseits besteht das Risiko, realen Bedürfnissen von Patient*innen nicht gerecht zu werden. Darüber hinaus kann die Verweigerung einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erheblichem Vertrauensverlust führen.

Take Home Message für die Praxis: Sorgfältige Identifizierung und Reflexion patienten- und drittseitiger Wünsche nach Attestierung von Arbeitsfähigkeit kann dazu beitragen Patient*innen stärker in die Verantwortung für die eigene Gesundheit einzubinden und Chronifizierungsfolgen zu vermeiden.