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GMS Onkologische Rehabilitation und Sozialmedizin

Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und medizinische Onkologie e. V. (DGHO)

ISSN 2194-2919

Soziale Konsequenzen einer Tumorerkrankung – eine unerwartete Problematik für Angehörige

Social consequences of a tumor disease – an unexpected problem for relatives

Originalarbeit

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  • corresponding author Ulf Seifart - Klinik Sonnenblick, Marburg, Deutschland
  • Hanna Bohnenkamp - Hessische Krebsgesellschaft, Frankfurt, Deutschland
  • Christian Jackisch - Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe, Sana Klinikum Offenbach, Deutschland

GMS Onkol Rehabil Sozialmed 2016;5:Doc01

doi: 10.3205/ors000023, urn:nbn:de:0183-ors0000239

Veröffentlicht: 12. April 2016

© 2016 Seifart et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Finanzielle und soziale Konsequenzen einer Krebserkrankung bzw. deren Therapie sind ein häufiges und relevantes Problem für Langzeitkrebsüberlebende. Inwieweit eine solche Entwicklung auch Angehörige trifft ist aber vollkommen unklar und bis dato auch nicht untersucht.

In der vorliegenden Untersuchung wurden 27 Angehörige, die in einem Zeitraum von 5 Monaten die Beratungsstellen der hessischen Krebsgesellschaften aufsuchten, konsekutiv befragt.

Von den Befragten gaben 33% an, dass sie bedingt durch die Tumorerkrankung ihres Angehörigen den zeitlichen Umfang ihrer beruflichen Tätigkeit auf Kosten ihres Einkommens veränderten.

Während das Sozialsystem der Bundesrepublik Deutschland erkrankten Patienten in diesen Situationen über das Sozialgesetzbuch IX eine Fülle an Hilfestellungen anbietet, besteht für Angehörige keine Versorgungsstruktur.

Aus diesem Grunde sollten unserer Meinung nach bei jeder sozialmedizinischen Beratung von Tumorpatienten, wenn möglich, auch die Angehörigen befragt werden oder, wenn dies nicht möglich ist, deren Situation mit berücksichtigt werden.

Abstract

On one hand financial distress is a problem in long-term cancer survivors. On the other hand little is known about theses consequences regarding their family member or relatives.

Aim of this study was to look for the incidence of financial distress for family members or relatives due to the cancer diagnosis in the family.

27 relatives, who presented themselves in facilities of the „Hessische Krebsgesellschaft“, were analyzed by questionnaire consecutively.

Regarding our data one third of the relatives who were interviewed reduced their working time and therefore their salary

Therefore we think in case of a talk about the financial situation of a cancer patient relatives should be included.


Einleitung

Finanzielle und soziale Konsequenzen sind ein zunehmendes Problem für Langzeitüberlebende Krebspatienten [1], [2], [3], [4], [5].

Völlig unklar ist, inwieweit Angehörige von Krebspatienten ebenfalls von solchen Fragestellungen betroffen sind.

Die vorliegende Untersuchung ist unserem Wissen nach die erste, die finanzielle Konsequenzen bei Angehörigen von Tumorpatienten erfasst hat.


Material und Methoden

Über einen Zeitraum von 5 Monaten wurden 27 Angehörige (5 Männer, 22 Frauen), die als Ratsuchende die Beratungsstellen der hessischen Krebsgesellschaft aufsuchten, konsekutiv mittels Fragebogen (Anhang 1 [Anh. 1]) zu ihrer sozialen Situation befragt. Das mediane Alter betrug 46 Jahre mit einem Range von 27–66 Jahren.

Erfasst wurden folgende Items: Geschlecht, Alter, Diagnose, Zeitpunkt der Diagnose, Schulabschluss, Ausbildungsabschluss, Erwerbsstatus, berufliche Tätigkeit, Arbeitsunfähigkeit und deren Dauer, Veränderung des Arbeitgebers, Veränderung des Stundenumfanges der Tätigkeit, Kündigung sowie die Beantragung einer Erwerbsminderungsrente, fernerhin Belastungsfaktoren am Arbeitsplatz, Schichtarbeit, Konflikte am Arbeitsplatz, Schwere der Arbeit sowie Zufriedenheit am Arbeitsplatz.


Resultate

Alle angesprochenen Personen füllten den Ihnen angebotenen Fragebogen aus. Insgesamt konnten somit 27 Angehörige in die Analyse aufgenommen werden.

Den Zeitpunkt der Tumordiagnose im Verhältnis zum Befragungszeitpunkt der jeweiligen Angehörigen zeigt Abbildung 1 [Abb. 1].

Die Schulbildung der befragten Personen weist Abbildung 2 [Abb. 2] aus.

Abbildung 3 [Abb. 3] stellt die berufliche Ausbildung innerhalb des Kollektivs dar.

Der überwiegende Anteil der befragten Personen war als Angestellter/Angestellte beschäftigt (Abbildung 4 [Abb. 4]).

Die Befragten wiesen Arbeitsunfähigkeitszeiten aufgrund der Tumorerkrankung der Angehörigen bzw. eigener psychischer Belastungen von 6,4 Monaten auf (Abbildung 5 [Abb. 5]), wobei der Range 1–18 Monate betrug.

33% der befragten Personen gaben an, dass sie als Folge der Tumorerkrankung ihres Angehörigen den zeitlichen Umfang ihrer beruflichen Tätigkeit zu Lasten ihres Einkommens reduzierten (Abbildung 6 [Abb. 6]).


Diskussion

Während soziale und finanzielle Konsequenzen einer Tumorerkrankung für onkologische Patienten eine erhebliche Belastung der Lebensqualität darstellen [6] und möglicherweise neben den Einschränkungen der Lebensqualität auch Einfluss auf die Prognose der Erkrankung haben könnte [5], [7], [8], ist vollkommen unklar, ob eine ähnliche Bedrohung mit den entsprechenden Konsequenzen nicht auch für Angehörige existiert.

Die vorliegende Untersuchung ist unserer Kenntnis nach die erste, die diese Thematik untersucht hat, so dass eine kritische Diskussion mit bereits vorliegender Evidenz nicht möglich ist.

Nach den hier vorliegenden Daten ist aber anzunehmen, dass etwa ein Drittel der Angehörigen von finanziellen Konsequenzen einer Tumorerkrankung eines Angehörigen bedroht ist. Einschränkend sollte festgestellt werden, dass in unserer Untersuchung der Anteil der Frauen überproportional hoch war (22 vs. 5) und zu vermuten steht, dass Frauen den zeitlichen Umfang ihrer Tätigkeit eher zu Gunsten eines Angehörigen reduzieren als Männer (aufgrund der kleinen Population haben wir diese Analyse nicht durchgeführt). Zudem sei kritisch festgestellt, dass der Anteil von Angestellten in dieser Studie (19 von 26) besonders hoch war. In dieser beruflichen Situation sind die Möglichkeiten einer zeitlichen Umstrukturierung einer beruflichen Tätigkeit sicher einfacher als für Arbeiter oder Personen in verantwortlichen oder selbstständigen Positionen.

Dennoch bleibt festzuhalten, dass Angehörige in dieser Untersuchung in einem für die Autoren überraschend hohen Anteil bereit oder gezwungen waren den zeitlichen Umfang ihrer Tätigkeit zu reduzieren und damit finanzielle Verluste in Kauf nahmen. Die Belastung der Angehörigen durch die Tumorerkrankung in der Familie zeigt sich auch an der überraschend langen Krankschreibung der Angehörigen (im Mittel 6,4 Monate). Ein Effekt der in der Literatur bisher nicht beschrieben wurde und sicher auch gesellschaftliche Bedeutung hat.

Während das Sozialsystem der Bundesrepublik Deutschland erkrankten Patienten in diesen Situationen über das Sozialgesetzbuch IX eine Fülle an Hilfestellungen anbietet, besteht für Angehörige keine Versorgungsstruktur.

Aus diesem Grunde sollte unserer Meinung nach bei jeder sozialmedizinischen Beratung von Tumorpatienten, wenn möglich, auch die Angehörigen befragt werden oder, wenn dies nicht möglich ist, deren Situation mit berücksichtigt werden.


Anmerkungen

Interessenkonflikte

Die Autoren erklären, dass sie keine Interessenkonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


Literatur

1.
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2.
de Boer AG, Taskila T, Ojajärvi A, van Dijk FJ, Verbeek JH. Cancer survivors and unemployment: a meta-analysis and meta-regression. JAMA. 2009 Feb;301(7):753-62. DOI: 10.1001/jama.2009.187 Externer Link
3.
Mehnert A. Employment and work-related issues in cancer survivors. Crit Rev Oncol Hematol. 2011 Feb;77(2):109-30. DOI: 10.1016/j.critrevonc.2010.01.004 Externer Link
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Jansen L, Eberle A, Emrich K, Gondos A, Holleczek B, Kajüter H, Maier W, Nennecke A, Pritzkuleit R, Brenner H; GEKID Cancer Survival Working Group. Socioeconomic deprivation and cancer survival in Germany: an ecological analysis in 200 districts in Germany. Int J Cancer. 2014 Jun;134(12):2951-60. DOI: 10.1002/ijc.28624  Externer Link
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