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GMS Zeitschrift zur Förderung der Qualitätssicherung in medizinischen Laboratorien

Gesellschaft zur Förderung der Qualitätssicherung in medizinischen Laboratorien e. V. (INSTAND e. V.)

ISSN 1869-4241

Europäische Verordnung über In-vitro-Diagnostika (IVDR) – Hinweis der Sektion „In-vitro-Diagnostik (IVD)“ der Ad-hoc-Kommission „Bewertung von Medizinprodukten“ der AWMF an alle Ärzte, die Labordiagnostik betreiben

European In-vitro Diagnostics Regulation (IVDR) – Statement from the “In-vitro Diagnostics (IVD)” Section of the AWMF Ad Hoc Commission “Evaluation of Medical Devices” to all physicians performing laboratory diagnostics

Kurzbericht

GMS Z Forder Qualitatssich Med Lab 2020;11:Doc03

doi: 10.3205/lab000038, urn:nbn:de:0183-lab0000381

Veröffentlicht: 2. September 2020

© 2020 Blödt et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Die rechtlichen Grundlagen für die Verwendung von Labordiagnostika haben sich durch die Europäische Verordnung über In-vitro-Diagnostika (EU) 2017/746 („IVDR“) fundamental geändert. Bis zum vollen Inkrafttreten dieses Regelwerkes im Mai 2022 bleibt der gesamten Labordiagnostik in Deutschland nur noch eine kurze Übergangsphase für die Anpassung ihrer Prozesse. Betroffen sind hiervon insbesondere Labore, die zum Teil oder überwiegend Tests aus Eigenherstellung anwenden; hier müssen wesentliche neue Anforderungen eingehalten werden. Da die Implementierung der IVDR einer Verbesserung der Patientensicherheit verpflichtet ist, ist eine Verlängerung der Übergangsphase durch die Politik – trotz der Covid-19-Krise – nicht wahrscheinlich. Labore müssen sich zum einen auf eine verstärkte behördliche Überwachung von Tests aus Eigenherstellung vorbereiten; zum anderen ist zu befürchten, dass einzelne Diagnostika-Hersteller im Hinblick auf Wettbewerbsrechtsverstöße gegen Labore vorgehen werden, die Tests aus Eigenentwicklung verwenden, obwohl ein vergleichbarer kommerzieller Test verfügbar ist. Zu den problematischen Konsequenzen für die Patientenversorgung kann auch zählen, dass bislang kommerziell verfügbare, aber umsatzschwache Nischentests von den Herstellern aufgrund der erheblich steigenden Dokumentationsanforderungen vom Markt genommen werden. Auch wenn die Anpassung nationaler Verordnungen und Umsetzungsregelungen noch nicht abgeschlossen ist, wird jedem medizinischen Labor dringend angeraten, sich mit den Neuerungen, die die IVDR bringt, schon jetzt auseinanderzusetzen.

Schlüsselwörter: IVDR, Europäische Verordnung über In-vitro-Diagnostika, Europäische Union

Abstract

The legal basis for the use of laboratory diagnostics has been fundamentally changed by the European In-vitro Diagnostics Regulation (EU) 2017/746 (“IVDR”). Until this set of regulations comes into full force in May 2022, the entire laboratory diagnostics industry in Germany will only have a short transitional phase to adapt its processes. This affects laboratories that partly or predominantly use in-house tests; here, substantial new requirements must be met. Since the implementation of IVDR is committed to improving patient safety, a prolongation of the transition period by politicians – despite the COVID-19 crisis – is not likely. On the one hand, laboratories need to prepare for increased regulatory supervision of in-house tests. On the other hand, with respect to infringements of competition law, there is a risk that individual diagnostic manufacturers will take action against laboratories using in-house tests, even though a comparable commercial test is available. One of the problematic consequences for patient care can also be that tests covering rare diseases, so called “niche tests”, that were previously commercially available but have low sales, could be withdrawn from the market by manufacturers due to the considerably increasing documentation requirements. Even though the adaptation of national regulations and implementation rules is not yet finished, every medical laboratory is strongly advised to already start dealing with the innovations brought by the IVDR.

Keywords: IVDR, European In-vitro Diagnostics Regulation, European Union


Hintergrund

Die neue gesetzliche Gesamtsituation stellt die unterschiedlichen medizinischen Fachdisziplinen, zu deren Arbeitsspektrum überwiegend oder zum Teil die Labordiagnostik zählt, im Wesentlichen vor gleiche Herausforderungen. Im Sinne einer Task Force hat sich daher innerhalb der AWMF eine Sektion formiert, die die Interessen der Ärzteschaft bei der Umsetzung der Europäischen Verordnung über In-vitro-Diagnostika (IVDR) vertreten soll und bei der Umsetzung unterstützen möchte (Sektion „In-vitro-Diagnostik (IVD)“ innerhalb der Ad-hoc-Kommission „Bewertung von Medizinprodukten“).

In dieser Sektion sind derzeit 13 medizinische Fachgesellschaften vertreten. Noch nicht vertretene Fachgesellschaften sind ausdrücklich zur Mitarbeit eingeladen.


Einige Fakten zur IVDR

Seit Mai 2017 wird das Inverkehrbringen und die Anwendung von Medizinprodukten auf EU-Ebene durch eine Verordnung neu geregelt. Hierbei werden In-vitro-Diagnostika [1] separat von Medizinprodukten [2], die direkt am Menschen Anwendung finden, behandelt („IVDR“ versus „MDR“).

Die IVDR stellt seit Mai 2017 direkt gültiges Recht dar; nationale Gesetze müssen angepasst werden. Die bisher gültige IVD-Direktive [3], in Deutschland umgesetzt im Medizinproduktegesetz (MPG), wird durch die IVDR abgelöst. Für die volle Umsetzung der IVDR ist eine Übergangsfrist bis Mai 2022 vorgesehen.

Für das Inverkehrbringen von IVD ergeben sich grundsätzlich neue Abläufe. Bislang unterschieden sich die Prozesse des Inverkehrbringens von IVD grundlegend von denen, die bei anderen Medizinprodukten bzw. Arzneimitteln Anwendung fanden.

Bislang wurden nur wenige Diagnostika, sogenannte Produkte nach Anhang II, Liste A und Liste B [1] (z.B. Hochrisiko-IVD zur Testung auf Infektionsmarker wie HIV) sowie In-vitro-Diagnostika zur Eigenanwendung durch Patienten in unterschiedlichem Ausmaß einer unabhängigen Überprüfung durch eine Benannte Stelle unterzogen. Alle anderen Produkte unterliegen einer Selbst-Deklaration durch die Hersteller (CE-Kennzeichnung ohne Einbindung einer Benannten Stelle). Nach IVDR bedarf der Großteil aller IVD zukünftig zum Inverkehrbringen einer Zertifizierung bzw. einer Konformitätsbewertung durch Benannte Stellen. Diese wiederum sind in der Regel akkreditiert und werden durch die Zentralstelle der Länder für Gesundheitsschutz bei Arzneimitteln und Medizinprodukte (ZLG) behördlich überwacht.

Die Kapazitäten der Benannten Stellen zur Konformitätsbewertung sind EU-weit gegenwärtig unzureichend. Derzeit sind nur fünf von vormals 60 Benannten Stellen nach IVDR benannt. Aufgrund begrenzter Ressourcen bei allen beteiligten Parteien (Europäische Kommission, Benannte Stellen, nationale Behörden, Industrie) erscheint fraglich, ob die vollständige Umsetzung der IVDR bis Mai 2022 realisiert werden kann. Da die IVDR eine Verbesserung der Patientensicherheit zum Ziel hat, ist ein offizielles Moratorium aus politischer Perspektive jedoch kaum vorstellbar.

Der Gesetzgebungsprozess im Zusammenhang mit der gültigen IVDR ist nicht abgeschlossen. Sogenannte Implementing acts und wesentliche Guidances (zum Beispiel hinsichtlich der Gestaltung von Leistungsbewertungsberichten) sind noch nicht verfügbar; dadurch kann sich die Industrie den anstehenden Aufgaben noch nicht umfassend widmen. Auch besteht in vielen Aspekten grundlegende Unsicherheit über die zu erwartende Auslegungspraxis. In Deutschland werden das Medizinproduktegesetz und weitere Verordnungen wie z.B. die Medizinproduktesicherheitsplanverordnung gegenwärtig durch neue Gesetze und Verordnungen ersetzt.

Zur Konformitätsbewertung haben die Hersteller weitaus umfangreichere Dokumente vorzulegen, als dies bislang notwendig war. Dazu gehört insbesondere eine wissenschaftlich fundierte Darstellung des klinischen Nutzens eines Produkts. Die Überwachung von bereits auf den Markt gebrachten In-vitro-Diagnostika wird differenzierter und umfangreicher geregelt.

Es besteht kein Bestandschutz; auch lange etablierte und bewährte Test müssen bis Mai 2022 ein Konformitätsbewertungsverfahren durchlaufen, wenn sie weiter vermarktet werden sollen. Für die IVD-Industrie bringt die IVDR damit einen hohen Bedarf an gut qualifiziertem Personal und damit Kosten mit sich – sowohl einmalig für die Bereitstellung der notwendigen Dokumente für etablierte Tests als auch fortgesetzt für die Produktüberwachung. Es muss davon ausgegangen werden, dass diese Kosten letztlich an die Versicherten weitergegeben werden.


Mögliche Folgen

Es ist zu befürchten, dass die IVD-Industrie sich mit den kostenintensiven regulatorischen Prozessen auf umsatzstarke Produkte konzentrieren wird, während Nischen-Tests für eher seltene Erkrankungen aus Kostengründen vom Markt genommen werden. Damit besteht die Gefahr von Unterversorgungssituationen.

Die IVDR sieht ein neues, eindeutiges Kennzeichnungs- und Datenbank-System (für jedes einzelne IVD-Produkt) vor (unique device identification, UDI), das sich im Aufbau befindet.

Potenziell wird für neuartige Labortests die Durchführung von prospektiven klinischen Studien notwendig, ggf. unter Beteiligung von unabhängigen Studienfirmen. Das ist für die Labordiagnostik völliges Neuland.

Von Labors selbst entwickelte Untersuchungsverfahren (Laboratory Developed Tests, LDTs) werden in der IVDR adressiert – auch wenn sie nicht auf den Markt gebracht werden. Bisher sind diese Tests auf EU-Ebene durch die IVDD nicht adressiert worden.

LDTs dürfen nur noch verwendet werden, wenn schlüssig begründet werden kann, dass für das jeweilige Indikationsfeld kein gleichwertiger kommerzieller Test verfügbar ist. Es besteht kein Bestandschutz. Es ist eine behördliche Überwachung im Bereich LDT vorgesehen. In vielen innovativen Bereichen der Diagnostik haben LDTs heute eine große Bedeutung, insbesondere in der Molekularpathologie, der Genetik und der Virologie.

Software zur Bearbeitung von Laborresultaten fällt ggf. unter die IVDR. Das kann selbst für Excel-Rechenblätter gelten.

Hinsichtlich der LDTs bestehen derzeit noch viele Unklarheiten, z.B. über die Anforderungen an Erprobungen/Validierung vor einer Einführung (IVDR, Anhang I, Auslegung [1]). Auch der Begriff „nicht-industrieller Maßstab“ ist noch nicht spezifiziert. Nur entsprechende Tests sind von einem vollständigen Konformitätsbewertungsverfahren einschließlich der ggf. erforderlichen Einbindung einer Benannten Stelle und einer CE-Kennzeichnung ausgeschlossen.

Es besteht die Befürchtung, dass die IVDR bei unsachgemäßer Auslegung Innovation in der Labordiagnostik gefährdet,
A) auf industrieller Ebene, da durch die deutlich gesteigerten regulatorischen Anforderungen die unternehmerischen Entscheidungen hinsichtlich der Einführung neuer Produkte restriktiver ausfallen dürften;
B) hinsichtlich LDTs, die für die prä-industrielle Innovation insbesondere im Bereich Genetik, Infektiologie und Arzneimittelanalytik essenziell sind.

Eine wesentliche Unwägbarkeit bei der Anwendung von LDTs ist, dass ein solcher Test – nach aufwendiger eigener Entwicklung – kommerziell verfügbar wird und der LDT ggf. nicht mehr eingesetzt werden darf.

Die Umsetzung der komplexen Vorgaben auf den verschiedenen Ebenen erfordert ohne Zweifel medizinisch-ärztlichen und regulatorischen Sachverstand. Dieser sollte koordiniert durch die Ärzteschaft – international wie national – erfolgen.


Fazit

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Implementierung der IVDR die Chance einer besseren Kontrolle der Diagnostika-Industrie bietet und Mindeststandards für selbstentwickelte Tests festlegt. Risiken in der Umsetzung können Versorgungsengpässe bei Nischentests darstellen, sowie Innovationshindernisse sowohl auf Seiten der Industrie als auch im Bereich von medizinischen Labors, die innovative Tests selbst entwickeln.


Anmerkungen

Interessenkonflikte

Die Autoren erklären, dass sie keine Interessenkonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


Literatur

1.
Verordnung (EU) 2017/746 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2017 über In-vitro-Diagnostika und zur Aufhebung der Richtlinie 98/79/EG und des Beschlusses 2010/227/EU der Kommission. Amtsblatt der Europäischen Union. 2017 Mai 05;L 117:176–332. Verfügbar unter: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32017R0746&from=EN Externer Link
2.
Verordnung (EU) 2017/745 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2017 über Medizinprodukte, zur Änderung der Richtlinie 2001/83/EG, der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 und der Verordnung (EG) Nr. 1223/2009 und zur Aufhebung der Richtlinien 90/385/EWG und 93/42/EWG des Rates. Amtsblatt der Europäischen Union. 2017 Mai 05;L 117:1–175. Verfügbar unter: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32017R0745&from=EN Externer Link
3.
Richtlinie 98/79/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. Oktober 1998 über In-vitro-Diagnostika. Amtsblatt der Europäischen Gemeinschafen. 1998 Dec 07;L 331/1:1-37. Verfügbar unter: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:31998L0079&from=EN Externer Link