gms | German Medical Science

GMS German Medical Science — an Interdisciplinary Journal

Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF)

ISSN 1612-3174

Gesellschaftliche Perspektiven von Risikowahrnehmung und Risikokompetenz

Diskussionspapier Sonderausgabe: Risikokompetenz

Suche in Medline nach

  • corresponding author Michael Koller - Zentrum für Klinische Studien, Universitätsklinikum Regensburg, Deutschland
  • Ulrich Hoffrage - Faculty of Business and Economics, University of Lausanne, Schweiz

GMS Ger Med Sci 2015;13:Doc08

doi: 10.3205/000212, urn:nbn:de:0183-0002129

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/gms/2015-13/000212.shtml

Eingereicht: 2. Dezember 2014
Überarbeitet: 4. Mai 2015
Veröffentlicht: 9. Juli 2015

© 2015 Koller et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Risiken innerhalb der Medizin sind nicht bloß durch objektivierbare Eigenschaften von Therapien fassbar, sondern in erheblichem Maße durch individuelle und gesellschaftliche Werte geprägt. Individuen streben gleichermaßen nach Freiheit und Sicherheit – im medizinischen Kontext wird dem durch partizipative Entscheidungsmodelle einerseits und Verschärfungen der Regularien im Arzneimittelsektor andererseits Rechnung getragen. Die mediale Berichterstattung über Risiken im Gesundheitsbereich findet im Spannungsfeld zwischen Aufklärung und wirtschaftlichen Interessen statt, was insbesondere eine rationale Diskussion über unerwartete Risiken (z.B. in der Naturheilkunde) erschwert. Es gilt daher eine Informationskultur zu schaffen, die es erlaubt, echte von weniger ausgeprägten Risiken zu unterscheiden.

Schlüsselwörter: Entscheidungsfreiheit, Sicherheit, Risikogesellschaft, Entscheidungsprozesse, Risikokommunikation, Risikominimierung, Informationskultur


Individuum und Gesellschaft im Spannungsfeld von Freiheit versus Sicherheit

Ein grundlegendes motivationales Streben des Menschen richtet sich auf den Erhalt der (Entscheidungs-)Freiheit [1]. Vor diesem Hintergrund treffen Bevormundung durch die Gesellschaft oder konkreter Entscheidungsträger meist auf wenig Akzeptanz.

In der Medizin macht sich das Freiheitsmotiv durch den Wunsch der Patienten nach Selbstbestimmung bemerkbar. Das klassische paternalistische Entscheidungsmodell sah den Arzt als allwissenden, gelegentlich auch allmächtigen Agenten („Halbgott in Weiß“), der als Experte die Behandlung und Therapie des Patienten bestimmte [2]. In der Informationsgesellschaft mit ihrer permanenten Verfügbarkeit medizinischen Wissens ist das paternalistische Modell nicht mehr zeitgemäß und wird zunehmend durch die gemeinschaftliche Entscheidungsfindung abgelöst. Shared decision making ist bestimmt durch den Informationsaustausch von Patient und Arzt und führt, darauf aufbauend, zu einer Entscheidung, die von beiden Parteien getragen wird [2].

Die evidenzbasierte Medizin trägt ihren Teil dazu bei, den Arzt als Autorität in Frage zu stellen [3]. Galt im paternalistischen Zeitalter die Expertenmeinung des Arztes als verbindliche medizinische Wahrheit und Richtschnur ärztlichen Handelns, so wird heute der naturwissenschaftliche, durch klinische Studien bestätigte Nachweis (Evidenz) gefordert. Entsprechend dem Oxford-Schema (Tabelle 1 [Tab. 1]) wird der höchste Grad an Evidenz der randomisierten kontrollierten klinischen Studie, oder besser noch, einer Metaanalyse über mehrere hochwertige randomisierte Studien zugeschrieben [3]. An der untersten Stelle der Evidenzleiter, noch unter der Beobachtungsstudie und der Fallserie, findet sich das Expertenwissen. Der inflationär gebrauchte Begriff „Paradigmenwechsel“ hat an dieser Stelle seine volle Berechtigung [4].

Eine besondere, mitunter gefährliche Form des Freiheitsstrebens findet sich im Freizeitbereich. Hier stehen Spaß und Abenteuer im Vordergrund und dieses wird gesteigert, wenn eine (potentiell) gefährliche Situation gemeistert wird. Ganz nach dem Motto: no risk, no fun. In der Psychologie sind derartige Verhaltensweisen als sensation seeking bekannt [5].

Dennoch, und hier beginnt die Sache kompliziert zu werden, erwartet das Individuum Solidarität von anderen. Das Freiheitsstreben und die (dosierte) Suche nach Gefahr wird als privates Gut gesehen und verteidigt – um dann im Falle eines Unfalls oder einer Notlage die Hilfe anderer wie selbstverständlich einzufordern. (Dies gilt übrigens auch in anderen Bereichen: So dürfen Banken spekulieren und Gewinne einstreichen, aber wenn es schief geht, muss der Steuerzahler einspringen.) Die Gesellschaft wiederum sieht sich in der Pflicht, für die Sicherheit ihrer Mitglieder zu sorgen, aber auch das Verhalten der Mitglieder zu steuern und Risiken zu minimieren. Zur Erhöhung der Sicherheit tragen gesellschaftliche Institutionen und Instrumente bei: Rettungswesen, Krankenhäuser, Polizei, und vieles mehr. Zur Finanzierung all dieser Maßnahmen werden Krankenkassenbeiträge und Steuern herangezogen. Beitragszahler sehen sich so im Recht, von diesen gesellschaftlichen Instrumenten zu profitieren.

Damit Schaden gar nicht erst eintritt, hat die Gesellschaft Instrumente der Verhaltenssteuerung entwickelt. Hierzu zählen Gesetze, Verbote und soziale Normen. Wiedemann [8] hat die Entwicklung dieser Instrumente aus historischer Perspektive analysiert. Demnach taucht das Konzept des Risikos in der Zivilisationsgeschichte erst relativ spät auf – ein erster Vorläufer ist das Konzept der Gefahr. „Gefahren sind von außen auferlegt, während Risiken eingegangen werden.“ ([8], S. 45) Um Menschen vor bestimmten, von außen kommenden Gefahren zu schützen, wurden in archaischen Vorzeiten, in denen das Denken und Vorstellen noch bildhaft war und die Natur als belebt gesehen wurde, bestimmte Verhaltensweisen tabuisiert. Derartige Tabus wurden widerspruchslos befolgt. Eine nächste Stufe sieht Wiedemann in der Entwicklung von Religionen mit ihren als göttlich angesehenen Ordnungen. Auflehnung gegen diese Ordnungen ist möglich, wird aber als Sünde geächtet. Somit gehört zum Begriff Sünde notwendigerweise das Konzept der Entscheidungsfreiheit. Sünde bedeutet Absonderung, ein sich Lösen aus Gottes Ordnung und Plan, welches wiederum diverse Strafen nach sich zog, sei es im Diesseits oder im Jenseits. Mit dem Verblassen der Macht religiöser Vorstellungen und dem Aufkommen von Naturwissenschaft und Technik wird schließlich das Ziel eines gottgefälligen Lebens durch Nutzenmaximierung im Diesseits ersetzt. Verhalten wird, so Wiedemann, nicht mehr durch Gebote und Verbote Gottes bestimmt, sondern resultiert aus einem Kalkül, welches durchaus zum Ergebnis haben kann, dass man ein bestimmtes Risiko eingehen sollte – einfach weil der erwartete Nutzen höher ist als der erwartete Schaden.

Im Laufe der Entwicklung ist unser Leben zunehmend sicherer geworden, was insbesondere durch den Anstieg der mittleren Lebenserwartung belegbar ist. Vor Jahrhunderten wurde ein früher Kindstod als gottgegeben gesehen, und man nahm es als Prüfung oder Strafe hin. Mit dem Fortschritt der Medizin jedoch, mit dem Entdecken von Kausalketten, war ein solcher Tod nicht mehr Gottes Wille, sondern ein Versagen des Arztes oder der Hebamme. Maßnahmen waren zu ergreifen, um dergleichen nicht wieder vorkommen zu lassen. Je mehr Kontrolle über maßgebliche Faktoren vorhanden war, desto höher wurde der Anspruch, noch mehr Sicherheit zu bekommen. So wurde das Thema Risiko und Sicherheit allgegenwärtig [9].


Die Risikogesellschaft

Das Konstrukt Risiko kann geradezu als Kennzeichen der modernen Gesellschaft gelten mit erheblichen Implikationen hinsichtlich Verhalten und Ökonomie. Große Bekanntheit hat die Risikoanalyse von Beck erlangt [10]. Unter dem Begriff „Risiken“ versteht Beck sowohl „naturwissenschaftliche Schadstoffverteilungen“ als auch „soziale Gefährdungslagen“, wie beispielsweise Arbeitslosigkeit ([10], S. 31). Charakteristisch ist dabei, dass die entsprechenden Risiken meist nicht mehr nach Klassengrenzen verteilt sind, sondern tendenziell jeden betreffen können, so wie Radioaktivität nicht zwischen Arm und Reich unterscheidet: „Not ist hierarchisch, Smog ist demokratisch“ ([10], S. 48).

Beck weist darauf hin, dass Risiken immer auch Ergebnis eines gesellschaftlichen Konstruktionsprozesses sind. Als bedrohlich wahrgenommen werden nicht die abstrakten Risiken selber, sondern ihre konkrete Thematisierung durch die Massenmedien. Dies führt dazu, dass „Wirklichkeit [...] nach einem Schematismus von Sicherheit und Gefahr kognitiv strukturiert und wahrgenommen wird“ ([10], S. 48).

Deshalb werden Medieninformationen über Risiken zum wichtigen Mitgestalter dieses Prozesses und je abstrakter die kommunizierte Bedrohung ist, desto höher wird der Kontrollverlust erlebt. Im Sinne einer Abwehrstrategie werden hierbei Risiken überhöht. Dabei kommt es oft zu Abweichungen der Einschätzungen von Experten und Laien [11], weil sie über unterschiedliches Detailwissen verfügen und so der Tendenz zur Überhöhung in unterschiedlichem Maße ausgesetzt sind.


Risiko im politischen Entscheidungsprozess

Freudenburg (1988) ging in diesem Zusammenhang der Frage nach, inwieweit Laien den Experten trauen können [12]. Laien haben in der Regel mit abstrakten Risiken oder neuen Technologien (gentechnisch veränderte Lebensmittel, Nanotechnologie, Fracking) kaum eigene Erfahrungen, und sie haben auch kaum Zugang zu Informationen, die für eine Risikobewertung wichtig wären. Erschwerend kommt hinzu, dass es, gerade bei neuen Technologien, keine Langzeitstudien gibt (und geben kann). Experten verstehen oft mehr von der Materie, aber sie stehen im Ruf, dem Einfluss der Industrie mit ihren kommerziellen Interessen ausgesetzt zu sein. Das Sicherheitsbedürfnis der Bürger scheint von nachrangiger Bedeutung. Wer soll nun entscheiden? Politiker? Können sie zwischen Experten und Laien vermitteln?

Das Vorsorgeprinzip (precautionary principle) sieht vor, im Zweifelsfall eine neue Technologie nicht einzuführen [13]. Die Anwendung dieses Prinzips bei politischen Entscheidungen läuft darauf hinaus, die Beweislast umzukehren: Nicht die Gegner müssen beweisen, dass eine neue Technologie ungefährlich ist, sondern die Befürworter müssen den Beweis der Unschädlichkeit erbringen, idealerweise unter den Augen einer wachen und besorgten Öffentlichkeit.

Technologischer Fortschritt kann nur erzielt werden, wenn Neuland betreten wird, und in diesem lauern Unsicherheiten und Risiken. A priori und ohne Erfahrungswerte lassen sich Nutzen und Risiken in der Regel kaum bestimmen. Heute steigt man in den ICE und amüsiert sich über die Skeptiker, die beim Fahren der ersten Eisenbahn von Nürnberg nach Fürth im Jahre 1835 vor Gesundheitsschäden durch die „hohe“ Geschwindigkeit (von 28 km/h) gewarnt haben. Andererseits lacht heute – nach Tschernobyl und Fukushima – keiner mehr über diejenigen, die vor den Gefahren der zivilen Nutzung der Kernenergie gewarnt haben. Das Problem ist, dass man zumeist erst im Nachhinein schlauer ist, ob eine neue Technologie Fortschritt bedeutet oder ein weiteres Übel ist, welches aus der Büchse der Pandora gekrochen kommt.


Risiko im Gleichgewicht

Die Verbesserung von Produkten hinsichtlich Design, Materialeigenschaften und Sicherheit führt dazu, dass neue Produkte gegenüber ihren Vorgängern bevorzugt werden. Diese einfache Beobachtung ist völlig im Einklang mit Lübbes Analyse. Aber was machen Menschen mit der hinzugewonnenen Sicherheit? Oft machen sie diese durch ihr Verhalten wieder zunichte. Genau dies ist die Hauptaussage der Risiko-Homöostase Theorie: Menschen akzeptieren ein bestimmtes Ausmaß an Risiko [14]. Wird durch bestimmte Maßnahmen ein Risiko gesenkt, zum Beispiel durch bessere Bremsen beim Auto oder Helm-Tragen beim Fahrradfahren, so genießen sie nicht die dadurch erzielte höhere Sicherheit, sondern kompensieren derartige Maßnahmen durch schnelleres Fahren. Diese Theorie ist vollkommen kompatibel mit dem oben bereits erwähnten Konzept des Nutzenkalküls. Der Nutzen der erhöhten Sicherheit wird in einen anderen Nutzen – hier früheres Erreichen des Ziels – umgemünzt. Ein derartiges Konterkarieren der Bestrebungen von Ingenieuren, Produkte sicherer zu machen, tritt dann nicht auf, wenn die zusätzlichen Sicherheitsangebote nicht erfahrbar und wahrnehmbar sind. Während bessere Bremsen zu schnellerem Fahren „einladen“, ist dies bei bruchsicheren Windschutzscheiben nicht der Fall [15].

Auch wenn der Begriff „Risiko“ im Deutschen eine eher negative Konnotation hat und in der Alltagsverwendung häufig mit Gefährdung gleichgesetzt wird, kann das Eingehen von Risiken durchaus nützlich sein. Dieser Nutzen kann in Bereichen liegen, an die man zunächst gar nicht denkt: riskante Entscheidungen können einen positiven Beitrag auf das soziale Gemeinwesen haben und zur Ausbildung von Vertrauen beitragen. Beispiele finden sich in Studien aus dem Bereich der experimentellen Sozialpsychologie [16]. Versuchspersonen wurden in einem Experiment vor die Aufgabe gestellt, einer anderen Person ein Buch zu borgen. In einer Versuchsbedingung handelte es sich um ein billiges (geringer Schaden im Falle eines Verlusts, und damit auch geringes Risiko), in der anderen um ein teures Buch (hohes Risiko). Nachdem sie ihre Entscheidung getroffen hatten, sollten sie angeben, ob sie dem Interaktionspartner auch in anderen Situationen Vertrauen entgegen bringen würden. Tatsächlich war es so, dass im Falle von hohem Risiko das Vertrauen stärker ausgeprägt war als im Falle von niedrigem Risiko.

So gesehen ist Risiko ein wichtiger „sozialer Kitt“, der einen Zusammenhalt in der Gruppe schafft. Nur so ist es erklärbar, dass auch in schwierigen, belastenden Situationen Vertrauen zu Ärzten aufgebaut werden kann und so der Fluss der sozialen Interaktion gewahrt bleibt. Allerdings sind dem Grenzen gesetzt. Risiken werden so lange in Kauf genommen und leisten solange einen positiven sozialen Beitrag, solange sie kontrollierbar erscheinen und/oder solange Sicherheitsangebote vorhanden sind [17].


Risikokommunikation in den Medien am Beispiel Naturheilmittel

Ganz generell gehören Medizin und Gesundheitswesen zu den beliebtesten und am meisten beachteten Medienbeiträgen. Der hohe Stellenwert und die zunehmende Sensibilität für das Gut Sicherheit machen Nachrichten über Risiken zu einem guten Geschäft für die Medien – „(only) bad news is good news“. Besonders brisant ist die Mischung aus Medizin und Risiko. Einen hohen Aufmerksamkeitsgrad erlangen negative Medienberichte dann, wenn sie Arzneimittel betreffen, die eigentlich als sicher gelten.

So gesehen nehmen Medienberichte über Naturheilmittel einen besonderen Stellenwert ein. Naturheilmittel haben ein positives Image und gelten als Inbegriff einer sanften Medizin. Auf großes Interesse stoßen daher Meldungen über die Gefährlichkeit dieser als sicher und natürlich geltenden Mittel. In einer jüngst vom Hessischen Rundfunk (Juli, 2013) erstellten Liste finden sich Naturheilmittel unter der Sammelbezeichnung „Baldrian, Johanniskraut & Co.“ auf Platz 6 der gefährlichen Gifte im Haushalt [18] (Tabelle 2 [Tab. 2]).

Die Rangordnung innerhalb dieser Liste wurde wahrscheinlich nicht unmaßgeblich durch vielfältige Meldungen in den Medien zu Gesundheitsgefahren von Naturheilmitteln mitbeeinflusst. So wird Johanniskraut, das nachweislich leichte bis mittelschwere Depressionen lindert [19], in Verbindung zur mangelnden Wirksamkeit von Kontrazeptiva gebracht [20]. Kava-Kava-Präparate haben sich in der Praxis und in Studien als angstlösende Medikamente bewährt [21], [22]. Im Jahre 2002 wurde Kava-Kava in Deutschland jedoch die Zulassung durch das Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) entzogen, nachdem Fälle von Leberversagen aufgetreten sind, die in Zusammenhang mit der Einnahme dieser Präparate gesehen wurden. Nachfolgende Studien und Analysen haben diesen Zusammenhang in Zweifel gezogen, konnten aber eine Revision des Verbots nicht erwirken [23]. Aktuell stehen Vitaminpräparate stark unter Beschuss [24]. Nicht nur, dass Vitaminen die Wirksamkeit abgesprochen wird. Der Konsum von hochdosierten Multivitaminpräparaten gerät in Verdacht, gesundheitsschädigende Wirkungen zu haben und sogar Krebs auszulösen [25].

Auch wenn der Auftrag der Medien von zentraler Rolle für eine aufgeklärte Gesellschaft ist, wird gerade in diesem Bereich die Tendenz zu Pauschalurteilen besonders deutlich. Derartige Pauschalurteile sind durch folgendes Muster gekennzeichnet:

  • Es wird nicht berichtet, dass die Datenlage unklar ist.
  • Es wird nicht dargestellt, dass unterschiedliche Zubereitungen unterschiedliche Wirkungen haben: Teezubereitungen aus dem Discounter sind nicht zu vergleichen mit Spezialextrakten der pharmazeutischen Industrie, auch wenn der Ausgangsstoff der gleiche sein mag.
  • Es wird nicht dargestellt, wie sich das Risikoprofil von Naturheilmitteln im Vergleich zu schulmedizinischen Präparaten verhält.
  • Das Problem der Überdosierung und unkontrollierten Einnahme über einen langen Zeitraum wird nicht thematisiert.
  • Einflüsse der Grunderkrankung des Patienten und die Konfundierung mit der Einnahme anderer Präparate (Polymedikation) werden nicht beachtet.

Zweifelsohne ist eine derart pauschalisierende Berichterstattung nicht hilfreich, um mögliche Risiken von Naturheilmitteln rational beurteilen zu können.

Die Zweischneidigkeit des Themas Risiko und Sicherheit und die damit verbundene Darstellung von Naturheilmitteln in der Öffentlichkeit kommt insbesondere bei der Homöopathie zum Vorschein. Homöopathie wird von ihren Gegnern als unwirksam betrachtet, da sie keine Risiken enthält. In England hat sich eine Bewegung herausgebildet, die unter dem Motto „There’s nothing in it“ Aktionen veranstaltet [26]. In bester britischer Tradition – man beachte die Parallele zur Atheist Bus Campaign „There probably is no God. Now stop worrying and enjoy your life [27], [28] – schlucken Aktivisten in der Öffentlichkeit, bevorzugt vor Apotheken, massenweise homöopathische Mittel ohne tot umzufallen. Das Ausbleiben unerwünschter Wirkungen wird als Beweis für die Unwirksamkeit der Mittel gewertet.

Den Vertretern der Homöopathie kann man sicherlich den Vorwurf machen, dass sie über weite Strecken valide Nachweise für die Wirksamkeit ihrer Therapieverfahren schuldig geblieben sind. Dennoch führen oben genannte Aktivisten eine Grundregel der Evidenzbasierten Medizin ad absurdum: „Absence of evidence is not evidence of absence[3]. Mit anderen Worten, das Ausbleiben schwerer Nebenwirkungen oder Todesfälle ist kein Beweis für die generelle Unwirksamkeit einer Präparategruppe oder die Unrichtigkeit einer Denkschule. Würden dieselben Aktivsten sich auch vor einer Drogerie aufstellen, sich dort stundenlang die Haare waschen und nach Ausbleiben gravierender Schäden glauben, damit die Unwirksamkeit von Shampoos nachgewiesen zu haben? In jedem Fall ist die Kontroverse um die Homöopathie ein Schulbeispiel dafür, wie sehr das Konzept „Risiko“ die Gemüter bewegt und dabei auch die Fähigkeit, logisch zu denken, außer Kraft setzen kann.


Gesellschaftliche Mechanismen zur Risikominimierung im Bereich Arzneimittel

Die Regularien zur medizinischen Forschung und zu Arzneimittelstudien haben sich, beginnend mit der Gründung der amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) 1938 und über die Verabschiedung der Deklaration des Weltärztebundes 1964, über viele Jahrzehnte entwickelt. Erst 1996 wurde mit ICH-GCP (International Conference on Harmonization – Good Clinical Practice) ein international verbindliches Regelwerk verabschiedet [29]. ICH-GCP dient der Erreichung von zwei Zielen: Patientensicherheit und Datenqualität. Folgenschwere und tragische Ereignisse bei der Entwicklung und Testung von Therapieverfahren (Stichwort Contergan) sollen so verhindert werden.

Diese konzeptuelle Vorgabe wurde über die EU Richtlinie 2001/20/EG im Jahre 2004 in Deutschland durch die 12. AMG-Novelle samt GCP-Verordnung in nationales Recht überführt. Dies hat zu einer erheblichen Verschärfung der Beantragung und Durchführung von klinischen Arzneimittelstudien geführt. Mittlerweile ist es unabdingbar, dass Prüfer und Studienpersonal studienspezifische Kurse besuchen müssen. Ebenso fühlen sich Studienzentren in der Pflicht, Qualitätsstandards einzuhalten und entsprechende Zertifizierungen zu erwirken. Parallel dazu steigt das Angebot an Schulungen und Dienstleistungsangebote zu Zertifizierungen. Die Spirale von Angebot und Nachfrage hat eine Eigendynamik entwickelt und wird durch ständige Novellen der Regularien zuverlässig in Gang gehalten.

Interessanterweise ist bei all dem die Grundidee von ICH-GCP, nämlich Patientensicherheit und Datenqualität, aus dem Blickfeld geraten. Es ist nie der schlüssige Nachweis erbracht worden – noch wird er eingefordert –, dass eine ständige Verschärfung der Regelungen tatsächlich die Sicherheit erhöht. Aus der Perspektive der Emotionspsychologie kann man sogar die gegenteilige Hypothese aufstellen: Ein Zuviel an Regularien erzeugt ein Bedrohungspotential. Dies führt zu „tunnel vision[30], verhindert Wichtiges von Unwichtigem zu trennen und führt zu mehr Fehlern. Die Argumentationskette ist in sich schlüssig. Sie bedarf aber ebenso der Widerlegung wie die Annahme, strengere Regularien erzeugen mehr Sicherheit, einer Bestätigung bedarf. Unbestritten ist hingegen, dass das Mehr an Vorschriften die Kosten für klinische Studien deutlich nach oben geschraubt hat [31].

Erste Korrekturen hinsichtlich einer De-Eskalierung von Regularien sind erkennbar. So soll in der ADAMON-Studie erstmals empirisch geklärt werden, welchen Stellenwert ein risikoadaptiertes Monitoring auf die Qualität von klinischen Studien hat [32]. Neue EU-Richtlinien, deren Umsetzung für 2016 vorgesehen ist, zielen darauf hin, die Zulassung von klinischen Studien bei Ethikkommissionen und Behörden zu vereinfachen, insbesondere bei multinationalen Arzneimittelstudien [33]. Allerdings bleibt abzuwarten, ob diese und ähnliche Initiativen wirklich nachhaltige Verbesserungen nach sich ziehen.


Konsequenzen und Diskussionsbedarf

Hinter den Schlagworten „Sicherheit und Risiko im Gesundheitswesen“ verbirgt sich ein äußerst heikles Thema. Aus diesen Ausführungen sollte deutlich geworden sein, dass es sich bei Sicherheit und Risiko um Konzepte handelt, die nicht notwendigerweise und ausschließlich die Eigenschaften von Therapien charakterisieren, sondern eben auch entscheidend von der Gesellschaft geprägt und vermittelt sind. Um die Diskussion auf eine rationale Ebene zu stellen, sind zusammenfassend zwei Feststellungen notwendig:

1.
Im Gesundheitswesen treffen sowohl soziale als auch wirtschaftliche Interessen aufeinander, die oft von unterschiedlichen Zielsetzungen geleitet sind.
2.
Ein ähnlich gelagertes Spannungsverhältnis findet sich im Bereich der Medien: Zum gesellschaftlich so bedeutsamen aufklärerischen Motiv gesellen sich wirtschaftliche Aspekte, die durch flache, vereinfachende und Risiko-affine Berichterstattung bedient werden.

Es gilt, eine Informationskultur zu schaffen, die es Individuen erlaubt, diese Interessenlage zu durchschauen und echte Risiken von weniger ausgeprägten Risiken zu unterscheiden. Auf diese Forderung wird in einem eigenen Aufsatz [34] gesondert eingegangen.


Anmerkungen

Danksagung

Wir danken Dipl.-Psych. Kirsten Schaefer für konstruktive Hinweise.

Interessenkonflikte

Die Autoren erklären, dass sie keine Interessenkonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


Literatur

1.
Brehm JW. A theory of psychological reactance. Michigan: Academic Press; 1966.
2.
Elwyn G, Frosch D, Thomson R, Joseph-Williams N, Lloyd A, Kinnersley P, Cording E, Tomson D, Dodd C, Rollnick S, Edwards A, Barry M. Shared decision making: a model for clinical practice. J Gen Intern Med. 2012 Oct;27(10):1361-7. DOI: 10.1007/s11606-012-2077-6 Externer Link
3.
Antes G, Bassler D, Forster J, editors. Evidenz-basierte Medizin (EbM): Praxis-Handbuch für Verständnis und Anwendung der EbM. 1. ed. Stuttgart: Thieme; 2003.
4.
Kuhn TS. Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. 2. ed. Frankfurt am Main: Suhrkamp; 1976.
5.
Zuckerman M. Behavior and Biology: Research on Sensation Seeking and Reactions to the Media. In: Donohew L, Sypher HE, Higgins ET, editors. Communication, social cognition, and affect – Communication. Hillsdale: Erlbaum; 1988.
6.
Wiedeman PM. Taboo, sin, risk: Changes in the social perception of hazards. In: Becker U, editor. Risk is a construct: Perceptions of risk perception. München: Knesebeck; 1993. p. 41-63.
7.
Lübbe H. Security. Risk perception in the civilization process. In: Becker U, editor. Risk is a construct: Perceptions of risk perception. München: Knesebeck; 1993. p. 23-39.
8.
Wiedeman PM. Tabu, Sünde, Risiko: Veränderungen der gesellschaftlichen Wahrnehmungen von Gefährdungen. In: Becker U, Hrsg. Risiko ist ein Konstrukt: Wahrnehmungen zur Risikowahrnehmung. Vol 2. München: Knesebeck; 1993. p. 43-67.
9.
Lübbe H. Sicherheit. Risikowahrnehmung im Zivilisationsprozeß. In: Becker U, Hrsg. Risiko ist ein Konstrukt: Wahrnehmungen zur Risikowahrnehmung. Vol 2. München: Knesebeck; 1993. p. 23-41.
10.
Beck U. Risikogesellschaft: Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp; 1986.
11.
Slovic P. Perception of risk. Science. 1987 Apr;236(4799):280-5. DOI: 10.1126/science.3563507 Externer Link
12.
Freudenburg WR. Perceived risk, real risk: social science and the art of probabilistic risk assessment. Science. 1988 Oct;242(4875):44-9. DOI: 10.1126/science.3175635 Externer Link
13.
Gollier C, Jullien B, Treich N. Scientific progress and irreversibility: an economic interpretation of the 'Precautionary Principle'. J Pub Economics. 2000;75(2):229-53. DOI: 10.1016/S0047-2727(99)00052-3. Externer Link
14.
Wilde GJ. Risk homeostasis theory: an overview. Inj Prev. 1998 Jun;4(2):89-91. DOI: 10.1136/ip.4.2.89 Externer Link
15.
Hedlund J. Risky business: safety regulations, risks compensation, and individual behavior. Inj Prev. 2000 Jun;6(2):82-90. DOI: 10.1136/ip.6.2.82 Externer Link
16.
Koller M. Risk as a determinant of trust. Basic Appl Social Psychol. 1988;9(4):265-76. DOI: 10.1207/s15324834basp0904_2 Externer Link
17.
Koller M. Sozialpsychologie des Vertrauens: Ein Überblick über theoretische Ansätze. Psycholog Beiträge. 1992;34:98-112.
18.
Hillmann R. Gefährliche Gifte: Eine Aufklärung ohne Verhältnismäßigkeit. Interview mit Rüdiger Hillmann. Naturamed. 2013;28(4):33.
19.
Sarris J. St. John's wort for the treatment of psychiatric disorders. Psychiatr Clin North Am. 2013 Mar;36(1):65-72. DOI: 10.1016/j.psc.2013.01.004 Externer Link
20.
Zabłocka-Słowińska K, Jawna K, Grajeta H, Biernat J. Interactions between preparations containing female sex hormones and dietary supplements. Adv Clin Exp Med. 2014 Jul-Aug;23(4):657-63. DOI: 10.17219/acem/37248 Externer Link
21.
Pittler MH, Ernst E. Kava extract for treating anxiety. Cochrane Database Syst Rev. 2003;(1):CD003383. DOI: 10.1002/14651858.CD003383 Externer Link
22.
Malsch U, Kieser M. Efficacy of kava-kava in the treatment of non-psychotic anxiety, following pretreatment with benzodiazepines. Psychopharmacology (Berl). 2001 Sep;157(3):277-83. DOI: 10.1007/s002130100792 Externer Link
23.
Teschke R. Hepatotoxizität durch Kava-Kava – Risikofaktoren und Prävention. Dtsch Ärztebl. 2002;99(50):A-3411.
24.
Spiegel.de [Internet]. Gesundheitsrisiken: Wissenschaftler raten von Vitaminpillen ab. Available from: http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/gesundheitsrisiken-wissenschaftler-raten-von-vitaminpillen-ab-a-809208.html [cited 2014 October 8] Externer Link
25.
Guallar E, Stranges S, Mulrow C, Appel LJ, Miller ER 3rd. Enough is enough: Stop wasting money on vitamin and mineral supplements. Ann Intern Med. 2013 Dec;159(12):850-1. DOI: 10.7326/0003-4819-159-12-201312170-00011 Externer Link
26.
1023.org [Internet]. Homeopathy: there's nothing in it. Available from: http://www.1023.org.uk/ [cited 2014 October 8] Externer Link
27.
Theguardian.com [Internet]. All aboard the atheist bus campaign. Available from: http://www.theguardian.com/commentisfree/2008/oct/21/religion-advertising [cited 2014 October 8] Externer Link
28.
Dawkins R. The God delusion. Boston: Houghton Mifflin; 2006.
29.
Ich.org [Internet]. The International Conference on Harmonisation of Technical Requirements for Registration of Pharmaceuticals for Human Use (ICH). Available from: http://www.ich.org [cited 2014 October 8] Externer Link
30.
Easterbrook JA. The effect of emotion on cue utilization and the organization of behavior. Psychol Rev. 1959 May;66(3):183-201. DOI: 10.1037/h0047707 Externer Link
31.
Collier R. Rapidly rising clinical trial costs worry researchers. CMAJ. 2009 Feb;180(3):277-8. DOI: 10.1503/cmaj.082041 Externer Link
32.
Brosteanu O, Houben P, Ihrig K, Ohmann C, Paulus U, Pfistner B, Schwarz G, Strenge-Hesse A, Zettelmeyer U. Risk analysis and risk adapted on-site monitoring in noncommercial clinical trials. Clin Trials. 2009 Dec;6(6):585-96. DOI: 10.1177/1740774509347398 Externer Link
33.
Aerzteblatt.de [Internet]. EU-Verordnung über klinische Prüfungen: Kompromiss verabschiedet. Available from: http://www.aerzteblatt.de/nachrichten/57341/EU-Verordnung-ueber-klinische-Pruefungen-Kompromiss-verabschiedet [cited 2014 October 8] Externer Link
34.
Hoffrage U, Koller M. Chances and risks in medical risk communication. GMS Ger Med Sci. 2015;13:Doc07. DOI: 10.3205/000211 Externer Link