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GMS Mitteilungen aus der AWMF

Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF)

ISSN 1860-4269

Cave bei vorzeitiger Entlassung gegen ärztlichen Rat: Mehr Haftung - weniger Geld

Mitteilung

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GMS Mitt AWMF 2015;12:Doc11

doi: 10.3205/awmf000310, urn:nbn:de:0183-awmf0003104

Eingereicht: 11. Dezember 2015
Veröffentlicht: 14. Dezember 2015

© 2015 Martenstein et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Gliederung

Zusammenfassung

Gerade vor den Weihnachtsfeiertagen oder Wochenenden häufen sich die Fälle, in denen Patienten vorzeitig die stationäre Behandlung abbrechen und entlassen werden möchten. Der verantwortliche (Chef-)arzt sitzt dann zwischen den Stühlen: Einerseits ist die weitere Behandlung medizinisch erforderlich und sinnvoll, andererseits muss er den Willen des Patienten – auch den unvernünftigen – beachten und darf den Patienten nicht gegen seinen Willen festhalten und behandeln. Der Patient kann aber eine selbstbestimmte Entscheidung nur dann treffen, wenn ihm die Folgen einer vorzeitigen Entlassung deutlich vor Augen geführt worden sind. Wie konkret die Aufklärung in diesem Fall zu erfolgen hat, hat das Oberlandesgericht Köln mit Urteil vom 06.06.2012 – 5 U 28/10 – klargestellt. Auch auf die Abrechnung als vollstationäre Leistung kann die vorzeitige Entlassung des Patienten Auswirkungen haben. Der nachstehende Beitrag gibt einen Überblick darüber, was bei einer vorzeitigen Entlassung gegen ärztlichen Rat zu beachten ist.


Text

1. Der Fall: Entlassung trotz Lebensgefahr

Der im Behandlungszeitpunkt 23 Jahre alte Patient litt an einer angeborenen Herzerkrankung mit der Folge von Herzmuskelschwäche und schweren Herzrhythmusstörungen. Seit Jahren wurde er deswegen wiederholt stationär und ambulant behandelt, unter anderem waren ihm bereits ein Defibrillator eingesetzt und der Betablocker Bisoprolol dauerhaft verordnet worden. Nachdem er erneut mit Herzrhythmusstörungen in die Klinik eingeliefert worden war, setzten die behandelnden Ärzte sofort den Betablocker ab und verabreichten stattdessen das Antiarrhythmikum Amiodaron.


Bereits einen Tag später verließ der Patient das Krankenhaus wieder. Laut Eintrag in der Krankenakte geschah dies auf dessen eigenen Wunsch, verbunden mit der dringenden ärztlichen Ermahnung, sich bei Zunahme der Rhythmusstörungen sofort wieder vorzustellen.


Zwei Tage später traten beim Patienten zu Hause schwere Herzrhythmusstörungen auf; auch die Reanimationsmaßnahmen des Notarztes konnten eine hypoxische Hirnschädigung mit Tetraparese nicht verhindern.

Der Patient, der seither im Wachkoma liegt, erhob Klage gegen das Krankenhaus unter anderem mit der Begründung, er sei vor seiner verfrühten Entlassung nicht hinreichend über die damit einhergehenden Risiken aufgeklärt worden.


Der gerichtlich bestellte Sachverständige gab an, die Einstellung der neuen Medikation hätte zumindest eine Woche stationär überwacht und kontrolliert werden müssen.

Das Oberlandesgericht (OLG) sprach dem Patienten ein Schmerzensgeld in Höhe von 200.000,- Euro zu mit der Begründung, bei ordnungsgemäßer Aufklärung hätte der Patient aller Voraussicht nach das Krankenhaus nicht vorzeitig verlassen. Den schlichten Hinweis, dass etwaig auftretende Herzrhythmusstörungen trotz Defibrillator zum Versterben führen könnten, hielt das OLG nicht für ausreichend. Hierin spiegle sich allein das ohnehin allgemeine, aufgrund seiner Erkrankung bestehende Risiko des Patienten wieder. Der Arzt hätte darüber hinaus auf die besondere, durch ein gesteigertes Risiko des Auftretens von Herzrhythmusstörungen gekennzeichnete Gefahrenlage wegen der Neueinstellung der Medikation hinweisen müssen. Der Arzt habe aber lediglich erklärt, er wisse nicht, was bei der Ummedikation passieren könne.

2. Besonderheiten bei der therapeutischen Sicherungsaufklärung

Bei der sog. Sicherungsaufklärung – auch therapeutische Aufklärung genannt –, die der Gesetzgeber in § 630 c BGB des Patientenrechtegesetzes implementiert hat, ist der behandelnde Arzt verpflichtet, dem Patienten im Verlauf der Behandlung alle nach der Therapie zu ergreifenden Maßnahmen zu erläutern. Die Sicherungsaufklärung stellt keine Aufklärung im eigentlichen Sinne dar, sondern eine vertragliche Nebenpflicht (§ 630 c BGB spricht von Informationspflichten) des Arztes zur Beratung und Information des Patienten. Im Gegensatz zur Risikoaufklärung, die vor Beginn der Behandlung zu erfolgen hat und die Einwilligung in den geplanten Eingriff betrifft, soll die Sicherungsaufklärung den Patienten durch Warn- und Schutzhinweise über sein eigenes therapiegerechtes Verhalten informieren, um den Therapieerfolg zu sichern.

Dazu gehört z.B. der Hinweis, dass nach einer Sedierung die Fahrtüchtigkeit eingeschränkt sein kann oder dass eine bestimmte Diät oder Medikation einzuhalten ist, Wiedervorstellungen zu Nachkontrollen wahrzunehmen sind oder sich nach der Entlassung aus der stationären Versorgung eine Rehabilitationsbehandlung anzuschließen hat. Aber auch, wenn eine seltene Erkrankung vorliegt, zu deren Behandlung kaum gesicherte Erkenntnisse existieren und die Wirkweise bei einer Ummedikation nicht gewiss ist, muss der Patient über die Notwendigkeit und Dringlichkeit einer stationären Überwachung vollständig unterrichtet und auf die mit der Medikation einhergehende Risiken hingewiesen werden. In einem solchen Fall muss dem Patienten zu verstehen gegeben werden, dass die gesundheitliche Entwicklung zurzeit nicht abgeschätzt werden kann und es erneut zu (erheblichen) Gesundheitsbeeinträchtigungen kommen kann. Keinesfalls dürfen Risiken bagatellisiert werden. Auch die im Ernstfall kurzfristige Erreichbarkeit eines Notarztes darf nicht vorschnell dazu führen, bestehende Risiken zu verschweigen.

Die Pflicht zur Sicherungsaufklärung besteht während der gesamten Behandlungsdauer und ist damit Teil der Behandlung. Daher wird eine Verletzung dieser Pflicht auch nicht als Aufklärungs-, sondern als Behandlungsfehler gewertet. Dies hat zur Folge, dass - anders als bei der Risikoaufklärung - der Patient für eine etwaige fehlerhafte Sicherungsaufklärung beweispflichtig ist. Allerdings gelten auch hier die beim Behandlungsfehler bekannten Beweiserleichterungen, etwa bei Vorliegen eines groben Behandlungsfehlers.

3. Abrechnung bei „abgebrochener“ stationärer Behandlung

Bei der vorzeitigen Entlassung des Patienten gegen ärztlichen Rat stellt sich auch die Frage der richtigen Abrechnung. Befand sich der Patient keine 24 Stunden im Krankenhaus, war lange umstritten, ob in diesem Fall überhaupt eine vollstationäre Behandlung abrechenbar war. Eine vollstationäre Behandlung ist dann gegeben, wenn sie sich nach dem Behandlungsplan zeitlich über mindestens einen Tag und eine Nacht erstreckt. Allerdings lässt sich der bisherigen Rechtsprechung eine starre Mindestaufenthaltsdauer von 24 Stunden nicht entnehmen. Vielmehr ist für den Vergütungsanspruch immer der Behandlungsplan des Arztes bzw. die geplante Aufenthaltsdauer entscheidend (BSG, Urteil vom 19.09.2013 - B 3 KR 34/12 R -). Daher entfällt eine stationäre Behandlung mit entsprechendem Vergütungsanspruch nicht dadurch - oder wird gar zu einer ambulant abrechenbaren Leistung -, dass der Patient, der eigentlich nach Durchführung einer Behandlungsmaßnahme über Nacht verbleiben sollte, gegen den ärztlichen Rat auf eigenes Betreiben das Krankenhaus noch am selben Tag bzw. vor Ablauf der 24 Stunden verlassen hat. In einem solchen Fall handelt es sich um eine "abgebrochene" stationäre Behandlung, die den mit der Aufnahme des Versicherten entstandenen pauschalen Vergütungsanspruch für die vollstationäre Behandlung (DRG) nicht deshalb entfallen lässt, weil nicht alle geplanten ärztlichen Maßnahmen durchgeführt worden sind oder der Versicherte nicht 24 Stunden im Krankenhaus verblieben ist. Entscheidend für die Abrechnung der DRG als stationäre Leistung ist daher immer die Einschätzung des behandelnden (Chef-) Arztes, der zu Beginn der Behandlung festlegt, ob eine stationäre Versorgung erforderlich ist oder nicht.

Führt die vorzeitige Entlassung des Patienten aus der unstreitig notwendigen stationären Behandlung aber dazu, dass die untere Grenzverweildauer unterschritten wird, muss das Krankenhaus die entsprechenden Vergütungsabschläge hinnehmen. Hier macht es keinen Unterschied, aus welchem Grund die untere Grenzverweildauer nicht überschritten wird. Auf die Einschätzung des behandelnden Arztes, wie lange der Patient voraussichtlich stationär behandelt werden muss, kommt es daher auch nicht an, da insoweit keine starren Vorgaben hinsichtlich der „richtigen“ Verweildauer im jeweiligen Krankheitsfall bestehen.

4. Fazit

Die Entscheidung des OLG Köln verdeutlicht, dass nicht nur die Risikoaufklärung vor der Behandlung hohen Anforderungen genügen muss, sondern auch die Sicherungsaufklärung im Anschluss an die Behandlung stets zuverlässig und umfänglich erfolgen muss, um Haftungsrisiken zu vermeiden. Im Falle der vorzeitigen Entlassung aus der stationären Behandlung auf eigenen Wunsch des Patienten gegen ärztlichen Rat muss daher stets berücksichtigt werden, dass der Patient eine eigenverantwortliche Entscheidung nur dann treffen kann, wenn ihm die Tragweite seiner Entscheidung bewusst ist. Er ist daher umfassend und schonungslos über die im konkreten Einzelfall mit einer verfrühten Entlassung einhergehenden Risiken zu informieren.


Wünscht der Patient in Kenntnis der Risiken seine Entlassung, sollte dies sowie die wesentlichen Einzelheiten des Aufklärungsgesprächs unbedingt in der Krankenakte dokumentiert werden. Um einem Haftungsrisiko auch vor Gericht standhalten zu können, ist entscheidend, dass die Sicherungsaufklärung detailliert dokumentiert wird und durch eine Gegenzeichnung durch den Patienten zusätzlich vor späteren Ansprüchen abgesichert wird.

Die vorzeitige Entlassung des Patienten auf eigenen Wunsch hat zudem in einigen Fällen die wirtschaftlich unerwünschte Folge, dass mit der frühzeitigen ungeplanten Entlassung die untere Grenzverweildauer unterschritten wird und daher nicht unerhebliche Vergütungsabschläge hinzunehmen sind. Letztlich erhöht sich damit bei der Entlassung auf eigenen Wunsch des Patienten das Haftungsrisiko für den behandelnden Arzt; gleichzeitig verringert sich in einigen Fällen die wirtschaftliche Rentabilität des Behandlungsfalles für den jeweiligen Krankenhausträger.