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64. Tagung der Vereinigung Norddeutscher Augenärzte

23. - 24.05.2014, Rostock/Warnemünde

Die Halbwertszeit des Wissens in Medizin, Natur- und Geisteswissenschaften

Meeting Abstract

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  • Wolfgang Bernard - Rostock

Vereinigung Norddeutscher Augenärzte. 64. Tagung der Vereinigung Norddeutscher Augenärzte. Rostock-Warnemünde, 23.-24.05.2014. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2014. Doc14vnda35

doi: 10.3205/14vnda35, urn:nbn:de:0183-14vnda358

Published: May 20, 2014

© 2014 Bernard.
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Im populären, aber teilweise durchaus auch im wissenschaftlichen Gebrauch wird derzeit der Aspekt betont, dass Wissen angeblich permanent und in stetig wachsendem Tempo entwertet und durch neues ersetzt werde. Solche Aussagen sind schon unter der Fragestellung problematisch, was denn jeweils als „Wissen“ zu verstehen ist. Hier gibt es zum einen erhebliche Differenzen zwischen verschiedenen Disziplinen und Erkenntnisbereichen, zum anderen sind selbst innerhalb ein und derselben Disziplin wichtige Differenzierungen zu machen. So wird wohl kaum jemand heute nach einem chirurgischen Handbuch von 1950 operieren wollen, aber ein Ratgeber aus demselben Jahr dazu, wie man einem schwerkranken Patienten eine ungute Diagnose taktvoll mitteilen kann, wäre möglicherweise nicht im selben Sinn als überholt anzusehen. Aus diesem Grund stehen in vielen geisteswissenschaftlichen Bibliotheken Werke aus vergangenen Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten nicht immer nur aus wissenschaftsgeschichtlichen Gründen, sondern es ist hier durchaus möglich, dass ein „altes“ Buch z.B. eine bessere Shakespeareinterpretation bietet als ein neues.

Ferner ist beim Obsoletwerden von Wissen immer genau zu unterschieden, ob wirklich in den meisten Fällen das „alte Wissen“ in seiner Gesamtheit obsolet wird oder ob nicht in den meisten Fällen erhebliche Teile bisherigen Wissens erhalten bleiben und wie die Verhältnisse zwischen Neuem und Gleichbleibendem in unterschiedlichen Disziplinen und bei unterschiedlichen Fragestellungen sind.

Der Kurzvortrag fragt deshalb noch einmal nach dem Begriff des Wissens und seiner Funktion in verschiedenen Wissenschaftsbereichen und der daraus resultierenden Stabilität oder Instabilität von Wissen.

Besondere Vorsicht, dies zeigt die Analyse, ist dort am Platze, wo die völlige Überholtheit des Alten nicht aufgrund einer neutralen wissenschaftlichen Perspektive, sondern aufgrund eines Interesses am Verkauf neuer Produkte behauptet wird. Hier wird häufig mit einem eher konfusen Modernitätsbegriff gearbeitet, im Sinne von „Sie werden doch als verantwortungsbewusster Mediziner Ihre Patienten nicht mit veralteten Geräten, Therapien, Methoden usw. behandeln wollen!“, es wird dann auf wissenschaftliche Literatur verwiesen, die die Vorzüge der neuen Methode herausstreicht. Es gibt aber viele Beispiele aus den vergangenen Jahrzehnten dafür, dass die Vorteile z.B. neuer, teurerer Medikamente zunächst überschätzt wurden oder bestimmte Nebenwirkungen erst mit Verzögerung erkannt werden. Die richtige Balance zu finden zwischen einem unbegründeten Festhalten an Gewohntem und einem vorschnellen Springen auf unbewährtes Neues ist schwer. Der unbestimmte Gedanke, dass sich alles Wissen immer schneller entwerte, verbessert hier nicht die Entscheidungsqualität.