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15. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

5. - 7. Oktober 2016, Berlin

Implementierung eines innovativen Versorgungsangebotes für Erwerbstätige mit psychischen Erkrankungen an der Schnittstelle betriebliche Betreuung und gesetzliche Krankenversorgung

Meeting Abstract

  • Eva Rothermund - Universitätsklinikum Ulm, Universität Ulm, Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Ulm, Deutschland
  • Andreas Antes - Universitätsklinikum Ulm, Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Ulm, Deutschland
  • Harald Gündel - Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Ulm, Deutschland
  • Monika A. Rieger - Universitätsklinikum Tübingen, Institut für Arbeitsmedizin, Sozialmedizin und Versorgungsforschung, Tübingen, Deutschland
  • Dorothea Mayer - Daimler AG, Health & Safety, Sindelfingen, Deutschland
  • Michael Hölzer - Sonnenbergklinik Stuttgart, Stuttgart, Deutschland
  • Edit Rottler - Universitätsklinikum Ulm, Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Ulm, Deutschland
  • Reinhold Kilian - Universität Ulm, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II, Günzburg, Deutschland

15. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung. Berlin, 05.-07.10.2016. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2016. DocP080

doi: 10.3205/16dkvf244, urn:nbn:de:0183-16dkvf2445

Published: September 28, 2016

© 2016 Rothermund et al.
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Text

Hintergrund: Allgemeine psychische Erkrankungen wie Depression, Angst oder somatoforme Störungen gehören mittlerweile weltweit zu den zweithäufigsten Ursachen der durch Krankheit beeinträchtigten Lebensjahre. Durch dieses hohe Vorkommen verursachen sie enorme direkte und indirekte Kosten und werden deshalb gesundheitspolitisch äußerst relevant. Vergleichbar mit europäischen Nachbarn nehmen in Deutschland nur 20% der Betroffenen das psycho-medizinische Versorgungssystem in Anspruch und es vergehen bis zu 7 Jahre zwischen Auftreten erster Beschwerden und dem Aufsuchen adäquater Hilfsangebote. Aus gesundheitspolitischer Perspektive ist die Vermeidung bzw. möglichst frühzeitige Behandlung von psychischen Erkrankungen ein wichtiger Schritt, um negativen Folgen wie z.B. langer Arbeitsunfähigkeit zu begegnen. Der Arbeitsplatz rückt als ein Ort, an dem frühe, niedrigschwellige und individuell passende Hilfe angeboten werden kann in den Mittelpunkt. Aus diesem Grund entstehen deutschlandweit betriebsnahe Versorgungsnetzwerke, die jedoch wissenschaftlich kaum beschrieben und wenig evaluiert sind. Das Modell „Psychosomatische Sprechstunde im Betrieb“ (PSIB) ist ein neues Versorgungsmodell, das entwickelt wurde aus dem Transfer einer bestehenden Gesundheitsleistung, einem psychosomatisch-psychotherapeutischen Erstgespräch über 1 bis maximal 4 Sitzungen, in den Kontext „Betrieb“. Die Intervention besteht aus Diagnostik, ggf. Erarbeiten einer weiterführenden Behandlungsempfehlung und dem entsprechenden Motivationsaufbau hierzu. Je nach Situation sind in diesem Rahmen bereits erste psychotherapeutische Maßnahmen wie z.B. Psychoedukation über das vorliegende Erkrankungsbild oder Krisenintervention notwendig.

Fragestellung: Wie wirksam ist das Angebot der PSIB unter Routinebedingungen verglichen mit der bestehenden Versorgung? Und wie wird das Angebot von beteiligten Nutzern, Organisatoren und Durchführenden wahrgenommen?

Methode: Mixed-Methods Design in Form einer kontrollierte Beobachtungsstudie mit follow-up Untersuchung 12 Wochen nach Erstkonsultation sowie 20 semistrukturierten Interviews mit Beteiligten aus der Perspektive Patienten (n=5), der Perspektive Beteiligter auf betrieblicher Seite (Betriebsärzte, Personaler, Vertretern des Sozialdienstes, und Betriebsräten, n=9) und der Perspektive externer psychotherapeutischer Konsiliarius (n=6). Die Auswertung erfolgte auf Basis der grounded theory method. Die Arbeitsfähigkeit wurde mittels work ability index (WAI) erfasst. Der Einfluss des Kontextfaktors Setting (Betrieb vs Klinik) auf Veränderungen der Arbeitsfähigkeit zwischen T1 und T2 wurde mittels allgemeiner linearer Modelle untersucht, wobei das Setting als unabhängige Variable behandelt wurde und der Selektionsbias mittels Propensity Score adjustiert wurde.

Ergebnisse: Bei 367 Teilnehmer aus dem betriebsnahen Versorgungsangebot „Psychosomatische Sprechstunde im Betrieb“ (PSIB, n=174) und der Kontrollgruppe aus der örtlichen Psychotherapeutischen Ambulanz/Regelversorgung (RV) verbesserte sich die Arbeitsfähigkeit im Beobachtungszeitraum. WAI-Werte betrugen zu Messzeitpunkt vor der Konsultation (T1): PSIB 29.5 (8.02) / RV 25.3 (9.07), Gruppenunterschied T1 p = 0.000. Die WAI-Werte 12 Wochen nach der Konsultation (T2): PSIB 30.8 (8.32)/ RV 26.8 (9.21); F:(1:317) = 10.149, p = 0.002, Effektstärke (part. Eta Quadrat) = 0.031. Es gab weder Gruppen noch Gruppen*Zeiteffekte. Qualitativ zeigte sich, dass die PSIB wahrgenommen und geschätzt wurde als (1) leicht zugängliches und zeitlich effektives Angebot, (2) als zeitnahes Hilfsangebot, (3) niedrigschwellig, (4) Vorsorge vor manifester psychischer Erkrankung und (5) vertrauliches Angebot.

Diskussion: Die Ergebnisse zeigen, dass die psychotherapeutische Intervention bezüglich ihrer Wirkung auf die Arbeitsfähigkeit genauso wirksam ist wenn sie im Betrieb angeboten wird, wie unter Bedingungen der örtlich üblichen Regelversorgung. Die Effektstärke von 0.03 ist klein, jedoch vor dem Hintergrund der Kürze der Intervention plausibel. Gleichzeitig stützen unsere Ergebnisse die Erwartung, dass arbeitsplatzbezogene Angebote Menschen früher im Erkrankungsverlauf erreichen als bestehende Versorgungsmodelle. Die Gruppe im Betrieb war in ihrer Teilhabe in Bezug auf Arbeitsfähigkeit deutlich weniger beeinträchtigt als die Gruppe in der örtlichen Regelversorgung. Die Akzeptanz erscheint unter Berücksichtigung von geeigneten Rahmenbedingungen bei allen Beteiligten hoch.

Praktische Implikationen: Die „Psychosomatische Sprechstunde im Betrieb“ scheint ein erfolgreiches, und unter Routinebedingungen effektives Modell für zu sein, um Erwerbstätigen frühe Diagnostik und Intervention anzubieten. Die Verzahnung mit dem betrieblichen Gesundheitsmanagement birgt die Chancen der leichteren Erreichbarkeit und Niedrigschwelligkeit; Datenschutzvereinbarungen und transparenter, vom Patienten steuerbarer Austausch mit Beteiligten im Betrieb sind für die Vertraulichkeit des Angebotes essentiell.