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Versorgungsbedarfe und Bedarfsmessung bei hochaltrigen depressiven Allgemeinarztpatienten – Ergebnisse der mutlizentrischen AgeMooDe-Studie
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Published: | September 28, 2016 |
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Hintergrund: In unserer langlebigen Gesellschaft stellt die Sicherung der Gesundheitsversorgung älterer Menschen eine wachsende gesellschafts- und sozialpolitische Herausforderung dar. Dabei haben häufig auftretende psychische Erkrankungen im Alter, wie Depressionen, unweigerlich einen erhöhten Pflegebedarf und hohe Pflegekosten zur Folge. Die zielgenaue Behandlungs- und Versorgungsplanung im Altenbereich setzt die multidimensionale, systematische und umfassende Abbildung des Behandlungs- und Versorgungsbedarfs voraus. Unerkannte und ungedeckte Bedarfe bei älteren Menschen können zu Unter- oder Fehlversorgung führen und stellen wichtige Zielfelder der Versorgungsforschung dar. Das in Großbritannien entwickelte Camberwell Assessment of Need for the Elderly (CANE) ist ein Instrument zur standardisierten Erfassung des Behandlungs- und Versorgungsbedarfs älterer Menschen. Zur umfassenden Einschätzung der physischen, psychischen und umfeldbezogenen Bedarfslage älterer Menschen umfasst das CANE insgesamt 24 Bereiche sowie zwei Bereiche für Pflegepersonen. Die Einschätzung der Bedarfe kann aus verschiedenen Perspektiven vorgenommen werden: Selbsteinschätzung der betroffenen Person, Einschätzung durch Angehörige, durch professionelle Akteure oder durch andere externe Begutachter. Studien zur umfassenden Beschreibung der gedeckten und ungedeckten Bedarfe hochaltriger Hausarztpatienten mit Depression in Deutschland unter Einbezug verschiedener Beurteilungsperspektiven stehen derzeit noch aus.
Fragestellung: Ziel dieser Arbeit war die Beschreibung des Versorgungsbedarfes bei älteren depressiven und nicht-depressiven Hausarztpatienten mit speziellem Fokus auf der Kontrastierung gedeckter und ungedeckter Bedarfe. Außerdem stand die Analyse des Zusammenhangs zwischen ungedeckten Bedarfen und Depression unter Berücksichtigung soziodemographischer und klinischer Faktoren im Zentrum der Analysen. Weiterhin wurden in dieser Arbeit gedeckte und ungedeckte Bedarfe von depressiven und nicht-depressiven älteren Hausarztpatienten aus verschiedenen Beurteilungsperspektiven untersucht. Besonderes Augenmerk lag hierbei auf dem Grad der Übereinstimmung der Patienten-, Angehörigen- und Hausarztperspektive, insbesondere im Bereich ungedeckter Bedarfe.
Methode: Im Rahmen der multizentrischen Studie „Depression im Alter: Versorgungsbedarf, Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen und Kosten (AgeMooDe) kam die deutschsprachige Version des CANE zur Erfassung von gedeckten und ungedeckten Bedarfen im Alter zum Einsatz. Auf der Grundlage einer Stichprobe von 1.179 Hausarztpatienten im Alter von über 75 Jahren sowie deren Angehörige und behandelnde Hausärzte wurden auf deskriptiver Ebene sowohl die gedeckten und ungedeckten Bedarfe bestimmt als auch auf regressionsanalytischer Basis Risikofaktoren für Depression analysiert. Weiterhin wurde die Beurteilungsübereinstimmung anhand von Kappa-Koeffizienten ermittelt.
Ergebnisse: Depressive ältere Hausarztpatienten berichteten eine signifikant höhere Anzahl ungedeckter Bedarfe als nicht-depressive Hausarztpatienten, insbesondere in den Bereichen physische Gesundheit, Mobilität und Stürze, soziale Kontakte, psychischer Stress und Alltagsaktivitäten. Ungedeckte Bedarfe waren signifikant mit Depression assoziiert; als andere Risikofaktoren wurden Geschlecht, Institutionalisierung, Pflege durch Angehörige und eingeschränkte Funktionalität identifiziert. Die Beurteilungsübereinstimmungen fielen generell gering bis substantiell aus und waren im Durchschnitt höher bei depressiven Patienten sowie zwischen Patienten und ihren Angehörigen.
Diskussion: Diese Studie liefert erstmals für den deutschsprachigen Raum umfassende Daten zur Verteilung gedeckter und ungedeckter Bedarfe hochaltriger Hausarztpatienten mit und ohne Depression. Vor dem Hintergrund der sozialpolitischen, kulturellen und gesellschaftlichen Veränderungen, die der demographische Wandel mit sich bringen wird, leisten die Studienergebnisse einen entscheidenden Beitrag zur Sicherstellung des Versorgungsbedarfs und der Zielgenauigkeit von Interventionen in der älteren Bevölkerung. Die Einschätzung ungedeckter Bedarfe depressiver älterer Menschen kann in Abhängigkeit von der Beurteilungsperspektive und vom Schweregrad der Erkrankung stark variieren, was insbesondere im hausärztlichen Setting eine verstärkte Berücksichtigung erfordert.
Praktische Implikationen: Die multidimensionale und zuverlässige Erfassung von medizinischen und nicht-medizinischen Behandlungs- und Versorgungsbedarfen bei älteren Menschen gewinnt auf internationaler Ebene zunehmend an Bedeutung und entsprechende Instrumente werden als wichtiger Bestandteil im Gesundheitssystem in Bezug auf die medizinische und pflegerische Versorgungsplanung und Ressourcenallokation der medizinischen Versorgung in Zukunft unverzichtbar sein.