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14. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

7. - 9. Oktober 2015, Berlin

Inanspruchnahme Zentraler Notaufnahmen: Qualitative Erhebung der Motivation von Patientinnen und Patienten mit nichtdringlichem Behandlungsbedarf

Meeting Abstract

  • Martina Schmiedhofer - Charite-Universitätsmedizin, Arbeitsbereich Notfallmedizin/Rettungsstellen Nord-Campi, Berlin, Deutschland
  • Julia Searle - Charité-Universitätsmedizin Berlin, Arbeitsbereich Notfallmedizin/Rettungsstellen Nord-Campi, Berlin, Deutschland
  • Anna Slagman - Charité-Universitätsmedizin, Arbeitsbereich Notfallmedizin/Rettungsstellen Nord-Campi, Berlin, Deutschland
  • Martin Möckel - Charite-Universitätsmedizin, Arbeitsbereich Notfallmedizin/Rettungsstellen Nord-Campi, Berlin, Deutschland

14. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung. Berlin, 07.-09.10.2015. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2015. DocFV85

doi: 10.3205/15dkvf105, urn:nbn:de:0183-15dkvf1051

Published: September 22, 2015

© 2015 Schmiedhofer et al.
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Text

Hintergrund: Die steigende Inanspruchnahme von Notaufnahmen durch Patienten mit akut-, aber nicht notfallmedizinischem Versorgungsbedarf stellt ein wachsendes Phänomen in Deutschland dar, das zu Engpässen in Notaufnahmen beiträgt. Der notwendige Handlungsbedarf hat Eingang in den Entwurf des GKV Versorgungsstärkungsgesetzes gefunden, der eine Kooperationsverpflichtung zwischen Kassenärztlichen Vereinigungen und Krankenhäusern während sprechstundenfreier Zeiten vorsieht sowie verbindliche Fristen für fachärztliche Konsultationsmöglichkeiten vorsieht. Patienten mit nichtdringlichem Behandlungsbedarf suchen die Notaufnahmen jedoch während aller Tageszeiten an sieben Wochentagen auf. Ein im Auftrag der Deutschen Krankenhausgesellschaft erstelltes Gutachten kommt zum Ergebnis, dass selbst bei umfassender Wahrnehmung des Sicherstellungsauftrages nur ein Drittel der allgemeinen ambulanten Notfallpatienten von den Vertragsärzten medizinisch ausreichend versorgt werden könnte. Weitere 20 Prozent könnten von Spezialisten ambulant versorgt werden, sofern diese zur Verfügung stünden. Die Vorstellungen über Gründe der zunehmenden Nachfrage akutmedizinischen Behandlungsbedarfs an den Krankenhäusern liegen weit auseinander. Einerseits wird ein subjektiv verändertes Nachfrageverhalten der Patienten vermutet, andererseits ein objektiver Bedarf, der durch ambulante Strukturen nicht mehr gedeckt wird.

Fragestellung: Die Kenntnis der subjektiven Gründe zum Aufsuchen der Notaufnahmen ist zur Entwicklung von Interventionen zur bedarfsgerechten Patientenversorgung zwingend erforderlich. Ziel dieser Studie ist die explorative Erforschung der Motive zur Inanspruchnahme der Notaufnahmen aus Patientenperspektive.

Methode: Es wurde eine qualitative leitfadengestützten Studie mit 40 ambulanten Patienten an zwei Notaufnahmen universitärer Krankenhäuser durchgeführt. Zur Eingrenzung auf die Patientengruppe mit nichtdringlichem Behandlungsbedarf wurde das 5-stufige „Manchester Triage System“ genutzt, mit dem die Krankheitsschwere von Notfallpatienten bei Eintreffen eingeschätzt wird. Eingeschlossen wurden Patienten der Behandlungskategorien normal und nichtdringlich. Der Interviewzeitraum umfasste Wochen-, Wochenend- und Feiertage zu allen Tageszeiten. Die Patientenansprache erfolgte mit breiter Streuung hinsichtlich Alter und Migrationshintergrund beider Geschlechter. Die Interviews fanden zwischen April und Juli 2014 innerhalb der Notaufnahmen statt. Die Auswertung erfolgte mittels Qualitativer Inhaltsanalyse unterstützt durch die Software MAXQDA®11.

Ergebnisse: Die Substitution nicht oder spät verfügbarer Haus- oder Facharzttermine war nur für einen Teil der Befragten entscheidend für das Aufsuchen der Notaufnahme. Mehrheitlich gaben sie als Hauptmotiv Zeitautonomie, den Qualitätsstandard eines universitären Krankenhauses sowie die Option multidisziplinärer Untersuchungen während eines einzigen Termins an. Zur Mit- oder Weiterbehandlung sowie zur Überbrückung von Wartezeiten wurden Interviewteilnehmende auch von ambulanten Arztpraxen auf die Ressourcen der Rettungsstellen verwiesen. Einige Patienten mit prioritärem Behandlungswunsch durch niedergelassene Ärzte hatten sich vor dem Hintergrund der 24/7-Verfügbarkeit der Notaufnahmen nur eingeschränkt um einen Arztpraxistermin bemüht. Patientinnen und Patienten mit erhöhter Aufmerksamkeit gegenüber körperlichen Beschwerden suchten die ZNA komplementär zur Haus- oder Facharztversorgung auf.

Diskussion: Die Interviewdaten zeigen auf, dass Patienten die Notaufnahmen als primäres Versorgungsangebot schätzen. Diese Ergebnisse stimmen mit internationalen Forschungsergebnissen sowie in den 2000er Jahren durchgeführten quantitativen Studien in Berlin überein. Mit der Inanspruchnahme von Patienten mit nichtdringlichem Behandlungsbedarf erhalten die Notaufnahmen eine eigenständige sektorenüberschreitende Funktion für die ambulante Versorgung. Daraus ist zu schließen, dass selbst eine konsequentere Wahrnehmung des Sicherstellungsauftrages der Vertragsärzte oder das verpflichtende Angebot ambulanter Facharzttermine innerhalb eines verkürzten Zeitrahmens die Anforderungen an die Notaufnahmen nicht auf die alleinige Versorgung zeitkritischer medizinischer Notfälle zurückführen würde.

Praktische Implikationen: Zur dauerhaften Sicherstellung der medizinischen Qualität für Patientinnen und Patienten aller Dringlichkeitsstufen und damit nicht nur der klassischen Notfall-, sondern auch der Akutpatienten ist eine Neustrukturierung der Notaufnahmen erforderlich. Eine konsequente Ausrichtung an der durch den Patientenbedarf bestimmten Alltagsrealität erfordert eine bedarfsgerechte finanzielle, organisatorische und professionelle Ausstattung. Zur Unterstützung einer perspektivisch besseren Verzahnung des stationären und ambulanten Versorgungssektors ist die Erforschung der Inanspruchnahme aus Patientenperspektive notwendig.