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14. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

7. - 9. Oktober 2015, Berlin

Reziproke Effekte bei der Analyse komplexer Interventionen in der Versorgungsforschung

Meeting Abstract

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  • Erik Farin-Glattacker - Universitätsklinikum Freiburg, Qualitätsmanagement und Sozialmedizin, Freiburg, Deutschland

14. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung. Berlin, 07.-09.10.2015. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2015. DocFV32

doi: 10.3205/15dkvf046, urn:nbn:de:0183-15dkvf0465

Published: September 22, 2015

© 2015 Farin-Glattacker.
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Hintergrund: Der Nachweis der Wirksamkeit komplexer, in der Routineversorgung umgesetzter Interventionen (z.B. stationäre Rehabilitationsmaßnahme) gewinnt an Aussagekraft, wenn nicht nur mittels eines randomisiert-kontrollierten Designs die Effektivität belegt wird, sondern zudem theoretisch postulierte Wirkungswege der Intervention belegt werden können (vgl. auch das zur Zeit entwickelte Memorandum des DNVF „Theoretische und normative Fundierung der Versorgungsforschung“). Bei der theoriegeleiteten Analyse der Prädiktoren und Moderatoren von Outcomes wird jedoch selten berücksichtigt, dass im Kontext komplexer Interventionen reziproke Beziehungen zwischen postulierten Einflussfaktoren und untersuchten Outcomes auftreten können. Z.B. ist es denkbar, dass bei chronischen Schmerzpatienten Schmerzen die Mobilität reduziert, eine Mobilitätsreduktion aber auch durch den Bewegungsmangel Schmerzen verstärkt.

Fragestellung: Das Ziel unserer Studie war es, im Kontext einer komplexen Intervention (multimodale medizinische Rehabilitation bei Patienten mit chronischen Rückenschmerzen) die Reziprozität zwischen Schmerzkatastrophisierung und sozialer Teilhabe auf der einen Seite und Outcomes der Schmerzbehandlung (z.B. Schmerzintensität und -beeinträchtigung, emotionales Befinden, Zufriedenheit mit sozialen Teilhabe) auf der anderen Seite zu untersuchen. Schmerzkatastrophisierung bedeutet, dass die Patienten die bedrohlichen Aspekte des Schmerzes überschätzen, Bewältigungsmöglichkeiten unterschätzen und verstärkt über ihre Schmerzen grübeln.

Methode: Patienten in einer stationären Rehabilitation wurden zu Beginn der Maßnahme und zwei Wochen nach Ende der Maßnahme mit einem Fragebogen befragt. Es nahmen N=262 Rückenschmerzpatienten teil. Das mittlere Alter betrug 52 Jahre, knapp zwei Drittel der Befragten waren weiblich. Zur Datenanalyse wurden ein Two-wave cross-lagged design und Strukturgleichungsmodelle eingesetzt.

Ergebnisse: In der Regel zeigten sich nach der Rehabilitation signifikante positive Veränderungen der Outcomes mit mittelhoher Effektstärke. Bei der Schmerzintensität sind die Effekte höher als beim emotionalen Befinden.

Die Hypothese, dass Schmerzkatastrophisierung bei Behandlungsbeginn mit schlechteren Outcomes nach der Behandlung assoziiert ist und gleichzeitig die Schmerzkatastrophisierung nach der Behandlung auch durch die Startwerte mancher Outcome-Variablen beeinflusst wird, konnte bestätigt werden. Auch bezüglich der Zufriedenheit mit sozialer Teilhabe besteht teilweise ein reziprokes Verhältnis zu den hier betrachteten Outcomes der Schmerzbehandlung.

Diskussionen: Zusammenfassend lässt sich sagen, dass unsere Studie darauf verweist, dass es in der Versorgungsforschung bei der Evaluation komplexer Interventionen wichtig ist, reziproke Beziehungen zu berücksichtigen. Die Unterscheidung zwischen Outcomes, die abhängige Variablen darstellen und Prädiktoren oder Einflussfaktoren, die unabhängige Variablen darstellen, ist oft nur artifiziell und bedarf im Einzelfall einer konzeptionellen Begründung. Cross-lagged models, die reziproke Beziehungen abbilden, stellen somit die Methode der Wahl dar. Wir konnten bezogen auf unsere Fragestellung zeigen, dass bei der Modellierung reziproker Beziehungen insbesondere Schmerzbeeinträchtigung und Schmerzkatastrophisierung zu Behandlungsbeginn Prädiktoren eines geringeren Behandlungserfolgs sind. Schmerzintensität und emotionales Befinden stellen hingegen keine Risikofaktoren dar.

Praktische Implikationen: Auf einer allgemeinen Ebene bestehen die Schlussfolgerungen darin, dass Versorgungsforscher die Möglichkeit reziproker Beziehungen sowohl durch Bezug auf theoretische Modelle, die solche Beziehungen abbilden, als auch durch entsprechende Methoden berücksichtigen sollten. Auf der klinischen Ebene besteht eine praktische Implikation darin, dass Behandler verstärkt auf die Risikogruppe mit hoher Schmerzbeeinträchtigung und hoher Schmerzkatastrophisierung achten sollten. Da diese Faktoren in unseren Daten wiederum stark sind mit Komorbidität, weiblichem Geschlecht und fehlender Berufstätigkeit assoziiert sind, sind mit diesen soziodemographischen Variablen weitere praktisch relevante Risikokonstellationen gegeben. Die überraschend hohe Assoziation zwischen Zufriedenheit mit sozialer Teilhabe und Schmerzkatastrophisierung ist kompatibel mit dem Communal Coping Model und lässt vermuten, dass die Schmerzbehandlung von einer verstärkten Integration psychosozialer Maßnahmen zur Förderung der Teilhabe profitieren könnte.